(1) Dreißig Jahre Mauerfall – Fotoserie bei Eurojournalist(e)

Am 9. November jährt sich der Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs, der Europa zweiteilte, nun schon zum 30. Mal. Doch mehr als die Jahre zuvor wird dem historischen Ereignis gedacht. Nach einer Generation ist Zeit für eine Bilanz: und zwar auch darüber, wie diese Geschichte bisher erzählt worden ist.

10. November 1989, das Brandenburger Tor wird von Westberlinern gestürmt. Wie denn? Na, so! Foto: (c) Michael Magercord / ROPI (alle Fotos in dieser Serie)

(Michael Magercord) – Der Fall der Mauer war rückblickend betrachtet nur noch ein symbolischer Akt in einer Geschichte, die schon lange zuvor begonnen hatte. In Polen tagte bereits im Februar 1989 ein „Runder Tisch“ aus Kommunisten und Opposition und ab Juni formte sich nach einer teilweise freien Wahl eine neue Regierung. Der Zaun zwischen Ungarn und Österreich bestand schon seit Juni nicht mehr. Die Botschaftsflüchtlinge aus der DDR wurden im September aus Prag in der BRD entlassen. Durch Leipzig zogen Montag für Montag mittlerweile ungehindert Demonstranten. Und der einst übermächtige Generalsekretär der KPdSU, Mickail Gorbatschow, ließ die kommunistischen Genossen in Ostmitteleuropa wissen, dass die Rote Armee nicht mehr zu ihrer Rettung herbeieilen würde. Trotzdem: Der Fall der Berliner Mauer kam nicht nur über Nacht, er schien alle, Machthabende, Oppositionelle, Bürger, dich und mich, überrascht zu haben – warum eigentlich?

Der Mauerfall ist eines dieser historischen Ereignisse, bei dem jeder noch weiß, wo er war, als er davon erfuhr. Ich auch. Ich saß nämlich am Abend es 9. Novembers 1989 vorm Fernseher in meiner Westberliner Studentenbude. Eingeschaltet hatte ich – wie immer in dieser Zeit – das DDR-Programm. Es lief die allabendliche Live-Pressekonferenz von der ZK-Tagung der SED und Günter Schabowski sprach plötzlich die beiden Zauberworte: „Unverzüglich. Sofort.“ Gemeint war der Geltungsbeginn einer neuen Regelung, die allen DDR-Bürgern Reisen in den Westen ohne vorherige Anmeldung erlaubte. Wer eins und eins zusammenzählen konnte wusste: Das war’s dann mit Zonengrenze und Mauer. Es waren ziemlich viele Ostberliner, die unverzüglich eins und eins zusammenzählten und sofort, noch am selben Abend, die Grenze überquerten – und ich sagte zu mir: Ach je, ich habe ja gar kein Blitzgerät, also gehe ich besser gleich am nächsten Morgen, sobald’s hell wird, zur Grenze.

Drei Jahre zuvor bin ich nach Westberlin gekommen. Die Mauer stand noch unverrückbar da und ich begann sie zu fotografieren. Ja, sie war ein Faszinosum, fast schon „meine“ Mauer. Ihre rund 160 Kilometer bin ich beinahe vollständig abgelaufen, selbst an den Stellen, wo sie durch den Wald verlief. Ausgerechnet dort, wo die Mauer bloß wie ein zu hoher Zaun wirkte, beschlich mich das Gefühl, sie könne doch nicht ewig so stehen bleiben. Dass ihre Ewigkeit aber nur noch von kurzer Dauer sein würde, ahnte ich natürlich nicht.

Erstaunlich auch, wie man sich in ihrem Inneren fühlte. Denn es war ja wahr: Die Mauer umschlang Westberlin, wir waren die Eingemauerten. Trotzdem erkannte ich, wie wohl fast alle Westberliner, immer nur eine gefühlte Außenwand, wenn ich die Mauer sah – und man ahnte, dass „Freiheit“ und „Grenzen“ nicht bloß eine geografische Dimension haben. Und was bedeutet in Anbetracht dieses Bauwerkes noch das Wort „normal“? Oder in seiner Umkehrung der schöne Begriff „absurd“? Fuhr man zum Bahnhof Friedrichstraße, erlebte man vielleicht die absurdeste Grenzsituation, die es jemals gab: mitten in Ostberlin gelegen, aber Umsteigebahnhof im West-U-und S-Bahnnetz, gleichsam Grenze und Schmugglerschleuse – und doch war er ein Teil des Alltags in Berlin. Kann Alltag aber überhaupt absurd sein?

Schon bald rumorte es unüberhörbar im Osten Europas, schließlich auch in Ostberlin. Am 4. November 1989 erlebte der Alexanderplatz die vielleicht größte Demonstration in der deutschen Geschichte. Und nur fünf Tage später dann die Nacht der Nächte – und der Tag danach, als es endlich hell wurde: Auf zu den Grenzübergängen, die Trabis riechen. Zum Brandenburger Tor, auf dessen Mauerkrone übermütige Westberliner den Einlass nach Ostberlin erzwingen wollten, was aber ohne Erfolg blieb: gegenüber dem Westen war die Mauer noch weitere sieben Wochen dicht. Zur Kundgebung am Schöneberger Rathaus, wo Gekicher durch die Menge ging, als Bürgermeister Momper vom Balkon verkündete, man gehöre nun zum „glücklichsten Volk auf der Welt“, und Pfiffe, als er, Kohl und Genscher die Nationalhymne krächzten. Und Nachts, wieder im herbstlichen Dunkel, noch zur Bernauer Straße, wo ich erst zwei Tage zuvor noch ein Foto von den intakten Grenzanlagen gemacht hatte und nun erste Mauerelemente für einen weiteren Übergang zwischen Ost- und Westberlin entfernt wurden.

Was den aufgewühlten Tagen folgte, war das schon wieder Alltag? Montags gingen in Leipzig die Demonstrationen weiter und aus dem Slogan „Wir sind das Volk“ wurde schnell „Wir sind ein Volk“. Bundeskanzler Kohl verkündete einen Zehn-Punkteplan auf dem Weg zur Einheit, holte sich dafür Anfang Dezember in Straßburg beim EU-Gipfel noch einen Rüffel von den Amtskollegen. Zehn Tage später reiste er nach Dresden, beschwor er unter dem Jubel der Sachsen Gottes Segen für das deutsche Vaterland. Und am 22. Dezember schließlich öffnete sich in seinem Beisein das Brandenburger Tor – nun aber in einer rundum durchinszenierten Veranstaltung.

Die Wochen danach gestalteten sich zwiespältig: In Ostberlin herrschte Anarchie, Unmögliches schien plötzlich möglich. Gleichzeitig liefen die politischen Ereignisse unaufhaltsam auf die Einheit zu. Alternativlos, wie es schien, vielleicht auch, weil kaum jemand in Alternativen dachte – schon gar nicht in der DDR. Was blieb einem Mauer-Dokumentaristen noch zu tun? Ihren Abriss, der im Frühjahr 1990 begann, festhalten mit Fotos, die nun wirken wie eine Verlustanzeige. Doch wofür? Nein, sicher nicht für die Mauer, aber die vertane Chance, sich den Fragen zu stellen, die uns dieses Bauwerk aufgegeben hatte, die aber im Taumel seiner Beseitigung untergingen und von der üblichen Geschichtserzählung nicht mehr aufgeworfen wurden.

Ob Ansichten aus dieser Zeit die verdrängten Fragen wieder aufbringen können? Einen Versuch ist es wert. Ab dem 4. November, dem Jahrestag der großen Demonstration auf dem Alexanderplatz, bis zum 22. Dezember, wenn sich die Öffnung des Brandenburger Tores zum 30. Mal jährt, werden wir an jeden Erscheinungstag ein Foto der Mauer veröffentlichen. Und dann schauen wir mal, was uns dazu noch – oder wieder – einfällt.

01 B - 10. November 1989 - Brandenburger Tor wird von Westberlinern gestürmt - wie denn - so gehts fast

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.

*



Copyright © Eurojournaliste