(1) Gitterkartoffeln, die Kanzlerin und ich

Helmut Kohl und Angela Merkel: zweimal sechszehn Jahre, macht zweiunddreißig zusammen, mehr als mein halbes Leben. Nach dem Tod des Altkanzlers im Jahre 2017 konnte ich sein Wirken für mich bilanzieren – doch würde mir das auch mit der Altkanzlerin gelingen? Eine Bilanz der Erinnerungslücken in vier Akten und zwei Teilen.

Der Rettungsschirm mit Garantieversprechen für blühende Landschaften, aufgespannt in Brandenburg im März 1990, während des Wahlkampfes zur ersten und letzten freien Wahl der DDR-Volkskammer. Foto: © Michael Magercord - ROPI

(Michael Magercord) – Erst zwanzig Jahre nach dem Ende seiner Kanzlerschaft hatte ich den Geist so weit geordnet, dass ich die Wirkung des Wirkens von Helmut Kohl auf meine Befindlichkeit bilanzieren konnte. Bei Bundeskanzlerin Merkel wird dies wohl auch nach fünfzig Jahren nicht glücken. Zu unerklärlich blieben die Beweggründe ihres Politikerdaseins wohl selbst noch in einem halben Jahrhundert, wenn wir dann bereits in die neue historische Epoche der digitalen, posthumanistischen Umweltgesellschaft eingetreten sind. Deshalb ziehe ich am besten jetzt, wo ihre Amtszeit zu Ende geht, meine persönliche Bilanz ihres Wirkens.

Angela Merkel und ich – unser erstes Zusammentreffen ergab sich in Prag 2004, die bisher letzte gemeinsam erlebte Veranstaltung in Straßburg 2017. Dazwischen liegen Jahre, in denen nur sie da war. Und es waren – ich nehme hier meine Schlussfolgerung vorweg – gespenstische, fast farblose Jahre, die schnell verflogen und deren Richtung unfassbar bleiben wird. Eine stichworthafte Beschreibung einer „Merkel-Epoche“ will nicht gelingen: Stillstand? Ja, denn wirklich substantiell hat sich sowohl politisch, wirtschaftlich als auch gesellschaftlich wenig geändert. Doch gleichsam vollzogen sich in dieser Zeit gewaltige Änderungen gerade auf diesen drei Schlagwortfeldern des modernen Lebens. Allerdings wurden die Verwerfungen kaum durch ihr Handeln hervorgerufen, trotzdem war sie immer präsent, huschte wie ein Gespenst durch unsere Welt – und das ein oder andere Mal auch durch meinen kleinen Ausschnitt der großen Welt. Aber der Reihe nach…

Prag, 1. Akt – Am Anfang unserer Begegnungen stand im November 2004 ein gemeinsames Mittagessen. Ort war der Konferenzsaal im Panoramageschoss eines Hotelhochhauses in Prag. Der Rahmen war gediegen, das Essen dem Anlass vielleicht sogar etwas zu entsprechend: Neben dem runden Stück Fleisch und einem Löffel Gemüsemischung waren auf den übergroßen Tellern zu Gittern frittierte Kartoffeln drapiert. Bis dahin war mir die Existenz dieser Form der Sättigungsbeilage unbekannt, und ihr ließ sich mit Messer und Gabel nur widerstrebend beikommen – fast schon symbolisch für die verunglückten Organisation dieses Treffens durch die örtliche Vertretung der Konrad-Adenauer-Stiftung. Denn während man sich mit den Gitterkartoffeln abmühte, musste die CDU-Vorsitzende vor den rund achtzig geladenen Gästen eine Rede halten – doch trotzdem ermöglichte diese erste Begegnung mit Angela Merkel bereits ein knappes Jahr vor ihrer Übernahme des Kanzleramtes eine Vorahnung auf die Weise, in der sie es schließlich ausüben wird.

Nicht nur, dass man schon sehr schnell spürte, dass die Frau, die man vom Fernsehbildschirm kannte, und jene, die jetzt vor einem steht, zwei verschiedene Menschen sind. Wirkte sie in der Glotze doch eher hölzern, beschlich uns nun eine Ahnung, an welcher Hartnäckigkeit, aber auch Persönlichkeit Kohl, Schäuble, Merz und später auch noch Schröder gescheitert sind: Wer die unterschätzt, hat schon verloren. Von der Rede selbst ist mir kaum etwas in Erinnerung geblieben. Tschechien war ja gerade der EU beigetreten, und dass ihr Verhältnis zu den ostmitteleuropäischen Beitrittsstaaten ein herzlicheres werden könnte, als etwa jenes der Politiker aus Bayern, war ohnedies anzunehmen – und natürlich insbesondere zu Tschechien, hatte die Doktorandin aus der DDR doch einige mehrmonatige Forschungsaufenthalte in den physikalischen Rechenlaboren der Akademie der Wissenschaften in Prag absolviert.

Als das Dessert gereicht wurde, war die Zeit für Fragen gekommen. Zunächst das übliche, etwa zur Rolle der historischen Verwicklungen aus Kriegs- und Nachkriegszeit in einer von ihr geführten Regierung, und man merkte, dass ihr diese gegenseitige Aufrechnung vergangener Schandtaten ziemlich egal war. Doch dann kam die Rede auf die Umweltpolitik, und die einstige Umweltministerin aus dem Kabinett Kohl war in ihrem Thema. Ja, sie habe bereits dem an diesem Novembertag 2004 gerade wiedergewählte George W. Bush gesagt: Ihr müsst früher oder später ohnehin was unternehmen gegen den Klimawandel, warum nicht jetzt gleich darauf vorbereitet sein, als hinterherzuhinken. Doch da ja auch in Tschechien große Skepsis herrscht gegenüber zu viel Umwelteifer, zielte die Frage eines deutsch-tschechischen Grünenpolitikers auf den wunden Punkt und damit auf das deutscheste aller deutschen Phänomene: Ob sich die CDU-Chefin dann auch für ein Tempolimit auf den Bundesautobahnen einsetzen würde?

In ihrer Antwort offenbarte sich der ganze Pragmatismus der Person und vor allem das tiefe Verständnis der Politikerin Angela Merkel: Sie agiert in einem vorgegebenen und austarierten System, worin sie nur die durch ihr jeweiliges Amt zugewiesene Rolle bestmöglich auszuüben hat. Es sei ja richtig, so ihre Entgegnung auf den Vertreter der ökologischen Partei, dass das Rasen auf der deutschen Autobahn Unsinn sei, einmal wegen der Verkehrstoten, aber eben auch des Schadstoff- und CO2-Ausstoßes. Doch ihre Aufgabe als CDU-Chefin kann es nicht sein, ein Tempolimit zu fordern, weil in ihrer Partei keine Mehrheit dafür zu organisieren sei. Diese richtige Forderung offensiv in die gesellschaftliche Debatte einzubringen, ist doch bitte schön die Aufgabe der Grünen. Also, traut euch!

Prag, 2. Akt – Mit dieser Aufforderung entließ uns die künftige Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland in den politischen Alltag der kommenden Jahre. Danach erlebte ich sie – als Regierungschefin – bei einer kurzen Pressekonferenz im Jahre 2008, doch bis zu dem zweiten Aufeinandertreffen, das sich mir tiefer in die Erinnerung eingeschrieben hat, sollten noch einmal vier Jahre vergehen. Ort war erneut Prag, auch dieses Mal hielt sie eine Rede, nun allerdings vor Hunderten von Zuhörern im großen Auditorium der juristischen Fakultät der Karls-Universität. Ein lichter Saal, ein lebhaftes und aufmerksames Publikum, in der ersten Reihe saß ihr einstiger Prager Physikprofessor, und nach ihrem Vortrag über Europas Zukunft lieferte sie – auf ausdrückliche Nachfrage – den Studenten eine launische, immer auch ironische Selbstbetrachtung ihres eigenen Werdeganges während und nach dem Studium – kurz: Es herrschte eine entspannte, fast schon private Atmosphäre.

Das war nicht selbstverständlich. Zuvor hatte sie nach einem Treffen mit dem tschechischen Premierminister eine Pressekonferenz vor vielleicht zwanzig Journalisten absolviert, von denen sie die meisten kannte, so manche gar mit ihr im Regierungsflieger gesessen hatten, und doch blieb die Atmosphäre geschäftsmäßig. Sie war kühl und ihre politischen Ausführungen auf ihre umständliche Art klar – bezeichnend für ihren respektvollen, aber immer auch distanzierten Umgang mit der Presse.

Ich erinnere mich weder an die Fragen auf der Pressekonferenz, noch an Einzelheiten der Rede vor den Studenten, dagegen aber an die beiden so unterschiedlichen Arten des Umgangs mit der jeweiligen Situation und ihre Fähigkeit, allein mit ihrer Präsenz eine ganz bestimmte Atmosphäre zu schaffen. Und in Erinnerung blieb mir mein eigener Gedanke, der mich beim Verlassen des Hörsaals überkam: Angela Merkel wird auf ewig Kanzlerin bleiben, denn sie ist nicht abwählbar. Der Einfachheit halber sollte sie ab sofort per Akklamation berufen werden, wozu noch Wahlen? Bestenfalls, um ihre Koalitionspartner zu bestimmen. Sie selbst und niemand anderes wird bestimmen, wie lange Angela Merkel unsere Kanzlerin sein möchte, sie allein, nicht die Parteigremien, nicht ihre Bundestagsfraktion, und wir als Wähler schon gar nicht – und ich höre mich noch heute den Satz sagen: Diese Frau werden wir nie wieder los.

Jetzt also endet ihre Kanzlerschaft doch, und es ist tatsächlich ein selbstbestimmtes Ende. Damals, 2012, stand sie jedenfalls rückblickend betrachtet wohl auf dem, was man Zenit der Macht nennt. Nun ist „Macht“ bei Politikern, die in feste und funktionierende Systeme eingebunden sind, ohnedies immer nur eine zum Amt relative Aussage. Und doch zeigte sich in dem Umgang mit der Griechenland-Krise, über wie viel Einfluss sie eben verfügte. Gerade weil sie in dieser Zeit eine gewisse Härte an den Tag legte, mehrten sich die Rätsel um ihre Person: Was treibt sie an? Eitelkeit, wie man sie etwa bei ihrem Vorgänger Schröder oder Joschka Fischer vermuten darf? Gewinnstreben fällt ebenso als Motiv aus, wobei sich dessen Auswüchse – siehe Schröder oder Tony Blair – so richtig erst nach dem Ende der Amtsgeschäfte zeigt. Oder eine Mission? Doch kann purer und eben so manches Mal auch sturer Pragmatismus eine Mission sein?

Dann eben das Motiv, allen beweisen zu wollen, was eine Frau zu leisten vermag. War sie etwa Feministin? Immerhin hatte im September diesen Jahres die schon sicher aus dem Amt scheidende Kanzlerin auf diese Frage einer bekennenden Feministin geantwortet, dass sie irgendwie wohl doch auch eine Feministin sei, und zwar allein schon deshalb, weil sie – und damit eine Frau – nun einmal so weit gekommen ist und sich so lange in der harten Welt der Politik ganz oben halten konnte. Und es stimmt, dass ihre Anwesenheit in dem Amt eine Wirkung auf die Rolle der Frauen in der Politik hatte, eine explizit feministische Motivation klänge allerdings anders. Sind vielleicht auch deshalb die Grünen selbst nach sechzehn Jahren Kanzlerinnenschaft darauf verfallen, ihre jüngste Kandidatenauswahl unter das Motto zu stellen, dass dieses Amt endlich eine Frau ausüben müsse?

Nun könnten Spötter meinen, die grüne Kandidatenwahl sage mehr über das Frauenbild der Grünen aus, dem Maggi Thatcher, Marine Le Pen oder auch die ebenfalls kinderlose Frau Merkel nicht so recht entsprechen wollen. Aber eigentlich zeigt es nur, dass alle Antworten auf das Rätsel der Motivation der Angela M. mehr über die Fragenden aussagen, als über die Rätselhafte selbst, und dass jede Beobachtung ihrer Person auch immer eine Selbstbetrachtung ist. So werde ich also mutig schon bald an dieser Stelle nochmals in den Spiegel schauen, den uns Angela Merkel hinhält, wenn es im zweiten Teil dieser Bilanz der Erinnerungen und deren Lücken darum geht, die Endlichkeit ihrer Macht zu begreifen.

Gestern wurde Angela Merkel mit einem großen Zapfenstreich verabschiedet. Auf der “Playlist” unter anderem das Lied des Symbols der sozialistischen Parteien in Europa “Für mich soll’s rote Rosen regnen” von Hildegard Knef…

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