11. Dezember 2018 – Der Tag, als der Terror bei uns ankam

Heute vor einem Jahr erlebte Straßburg eine schlimme Nacht. Vier Menschen verloren bei einem Amoklauf eines Mörders ihr Leben. Die Erinnerung ist wach.

Der 11. Dezember 2018 hat die Stadt zutiefst erschüttert. Und Spuren hinterlassen. Foto: Eurojournalist(e) / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – Der 11. Dezember 2018 veränderte unsere Stadt. Denn an diesem Tag kam der Terror nach Straßburg. War es ein Terroranschlag, weil der Täter vor seinem Ableben noch „Allahu Akbar“ gerufen hatte, oder war es ein Amoklauf eines jungen Kriminellen, der informiert worden war, dass er verhaftet werden sollte – das wissen wir nicht. Doch nach der Definition des Worts „Terror“ war es ein Terroranschlag, der Angst und Schrecken verbreitete. Und der den Terror von den Bildschirmen in unsere Stadt brachte.

Terror, das war vorher für uns das Entsetzen, am Fernsehen und auf anderen Bildschirmen von schrecklichen Anschlägen zu erfahren. Paris, Brüssel, Nizza, Berlin Breitscheid-Platz, Madrid und die entsetzlichen Bilder. Die Ohnmacht gegenüber diesen zynischen Verbrechern, die eiskalt Leben auslöschen. Aber das war auf den Bildschirmen. Natürlich waren wir betroffen, natürlich posteten wir „Je suis Charlie“, natürlich gingen wir zu nächtlichen Mahnwachen mit Kerzen, leiser Gitarrenmusik und diesem geteilten Gefühl, dass wir unser Leben nicht von diesen grausamen Mördern zerstören lassen wollten. Doch am 11. Dezember 2018 kam der Terror in unsere Stadt.

Jeder von uns in Straßburg hat seine ganz eigene, persönliche Geschichte zum 11. Dezember 2018. Viele kannten eines der Opfer, andere sind es gewohnt, täglich an den Orten der Morde vorbei zur Arbeit zu gehen. Oder zum Einkaufen. Oder zu Veranstaltungen am Abend. Jeder von uns hat eine wie auch immer geartete persönliche Beziehung zu dem Geschehen am Abend des 11. Dezember. Terror war auf einmal etwas, was nicht nur in den Medien passiert, sondern bei uns, vor der Haustür. Die Betroffenheit ist eine andere, als wenn man das weltweite Entsetzen an den Bildschirmen teilt. Nicht nur die vier Opfer waren angegriffen worden, sondern wir alle.

Nur einen Steinwurf vom zentralen Kleberplatz wohnend, war ich um 20:03 Uhr des 11. Dezember 2018 am Ort des Geschehens. Dort, wo Minuten zuvor die Menschen auf dem weltberühmten Weihnachtsmarkt Glühwein tranken und zu „Oh du fröhliche“ schunkelten, war der Platz leergefegt. Gegenstände lagen auf dem Boden, wild verstreut. An einem Stand befand sich noch die Kasse auf dem Tisch, was zeigte, dass hier eine Menschenmenge in Panik auseinandergelaufen sein musste. Und es war still. Eine Stille, die genauso verstörend war wie die Blaulichter, die nur wenige Meter weiter in der Rue des Grandes Arcades die Szenerie in ein unwirkliches Licht tauchten. Und zu diesem Zeitpunkt wussten die wenigen Menschen, die sich noch in der Innenstadt aufhielten, die meisten von ihnen Journalisten, die von ihren Redaktionen dorthin geschickt worden waren, nicht einmal, was passiert war. Nur dass etwas Schreckliches passiert war, das war klar.

Polizisten mit Maschinenpistole im Anschlag und Mitarbeiter des Sicherheitsdiensts, die auf dem Weihnachtsmarkt gearbeitet hatten, sperrten den Zugang zu einem der nur 100 Meter entfernten Tatorte ab. Auch sie wussten nicht, was passiert war. Oder sie durften es nicht sagen.

Als ich am benachbarten Kino „L’Odyssée“ vorbeilief, sah ich, dass die Eingangshalle des Kinos voller Menschen waren, die angsterfüllt nach draußen starrten. Der Besitzer Farouk sah mich vorbeigehen, öffnete die Tür und wollte mich am Arm hineinziehen. Ich riss mich los, Farouk schüttelte den Kopf und schloss schnell wieder die Tür. Immer noch hatte ich keine Ahnung, was tatsächlich passiert war. Ich ging weiter in Richtung der Grand’ Rue, wo deutlich mehr Polizisten waren als am Kleberplatz. Sie liefen hin und her, es wurden unverständliche Befehle gerufen, und vor der Kreuzung hielten sie mich an und befahlen mir umzukehren. Auch mein Presseausweis half nicht. „Hau ab, schnell!“ Was ich nicht wissen konnte, dass zu diesem Zeitpunkt der Attentäter nur wenige Straßen, nur ein paar Hundert Meter weiter, gerade aus der Innenstadt entwischte, angeschossen von einem Soldaten, aber immer noch auf den Beinen. Ein paar Minuten zuvor hatte er vier Menschen erschossen, mitten in der belebten Innenstadt, die nun verlassen da lag.

Zurück am Kleberplatz fuhren zwei Krankenwagen mit Blaulicht ab. Ein junger, verstörter Obdachloser kam auf mich zu und fragte nach einer Zigarette. Ich gab ihm eine. Der verstörte Eindruck, den er machte, hatte nichts mit seiner Alkoholfahne zu tun. Der Horror war dem jungen Mann ins Gesicht geschrieben. Der junge Mann zog hektisch an der Zigarette. „Weißt du, was hier los ist?“, fragte ich ihn. „Ich hab alles gesehen“, stieß er hervor. „Was gesehen?“, fragte ich. „Wie der Typ die anderen Typen erschossen hat!“, stieß er hervor. „Wie bitte?!“ – „Gib mir 20 Euro und ich erzähl’s dir“, bot er an. Ich gab ihm 20 Euro.

„Der war eiskalt“, erzählte er und blickte sich immer wieder hektisch um, als ob die Gefahr noch imminent sei. „Der hat die einfach erschossen. Alle beide. Eiskalt. Der hat die angeguckt und einfach abgedrückt. Willst du wissen, was er für eine Waffe hatte?“ – „Sag!“. „10 Euro“. „Vergiss es“, antwortete ich. „Ein verdammter Trommelrevolver, wie aus einem alten Film! Eine kleine Scheißwaffe. Und die sind einfach umgefallen. Ich hab einem den Kopf gehalten.“ Und dann fing er an zu weinen. Als ich ihn tröstend an der Schulter fassen wollte, schüttelte er meine Hand ab und verschwand.

In der Zwischenzeit war wohl jeder in Frankreich, vielleicht sogar in der Welt besser darüber informiert, was hier passierte als die wenigen Journalisten in der menschenleeren Innenstadt. Seit geraumer Zeit hatten die Informations-Kanäle bereits zu Sondersendungen umgeschaltet. Wir wussten nichts davon und in der Innenstadt waren die Netze überlastet oder vielleicht auch abgeschaltet.

Stunden später ging ich nach Hause, legte die SD-Karte in den Computer ein, wobei ich sicher war, dass meine Fotos nichts zeigten. Ich hatte gegen die gleißenden Lichter der Rettungswagen fotografiert, doch die moderne Technik hatte dafür gesorgt, dass ich nun das sah, was ich in nur 100 Metern Entfernung nicht erkennen konnte. Der eigentliche Schock kam erst, als ich mich langsam durch meine Fotoserien klickte, die letzten drei Stunden auf hunderten Fotos, die meisten verwackelt, doch viel zu viele gestochen scharf. Es war seltsam auf den Fotos zu sehen, was ich direkt vor mir nicht hatte erkennen können.

Wie viele andere Straßburger konnte ich nicht schlafen in dieser Nacht. Der Täter war auf der Flucht, angeschossen, bewaffnet und wir alle befürchteten, dass dieses Blutbad nicht beendet sei. Zwei Tage lang hielt die Stadt den Atem an, bis der Täter im Stadtteil Neudorf den Showdown mit der Polizei suchte, wissend, dass er dabei sofort erschossen würde. So kam es auch.

Seitdem, man kann trotzig behaupten, was man will, ist das Leben nicht mehr das gleiche wie zuvor. Wir können noch so oft behaupten, dass wir uns weigern, unser Leben von Gewalt, Terror und Angst bestimmen zu lassen, es stimmt einfach nicht. Die Angst ist sogar in unser tägliches Stadtbild eingezogen, in Form von Militärpatrouillen, die zu viert, zu sechst, zu acht durch die Stadt ziehen, in Kampfmontur und schwer bewaffnet. Die Angst ist in unsere Köpfe eingezogen, was jeder an sich selbst überprüfen kann, wenn beispielsweise ein bärtiger Mann in fremdländischer Kluft in die Straßenbahn einsteigt und einen Rucksack bei sich trägt – woran denken Sie dann?

Straßburg wird, wie alle Städte, die Terror erlebt haben, lange brauchen, bis wieder so etwas wie Normalität einkehrt. Und so richtig normal wird es nie wieder werden. Denn Straßburg ist zu einem der vielen Orte auf der grausamen Landkarte des Terrors geworden. Wir werden damit leben. Müssen.

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