150 Stunden bis zum endgültigen „Türxit“

Die Europäische Union wird ihr Verhältnis zur Türkei komplett überdenken müssen. Auch für die NATO ist die Türkei nicht länger tragbar. Die Weltkarte verändert sich gerade nachhaltig.

Gestern fuhren amerikanische und türkische Militärs Patrouille in Nordsyrien. Die Amerikaner werden nun durch Russen ersetzt. Foto: Spc. Alec Dionne / Wikimedia Commons / PD

(KL) – Man darf gespannt sein, ob sich die Europäische Union einmal mehr zum willigen Erfüllungsgehilfen des türkischen Präsidial-Diktators machen wird oder nicht. Gestern einigten sich Vladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan in Sotchi darauf, den Norden Syriens gemeinsam zu managen. Die angekündigte gemeinsame Militäroperation der Türkei und Russlands in einem zynischerweise „Sicherheitszone“ genannten und 30 km in syrisches Hoheitsgebiet hineinreichenden Gürtels ist das Überschreiten einer „roten Linie“ – 150 Stunden haben die Milizen der YPG noch Zeit, diese Region und damit ihre Heimat zu verlassen.

Die Vertreibung der YPG durch die türkische Armee und ihre so genannten „Verbündeten“, von denen niemand genau weiß, wer sie eigentlich sind (man spricht von „syrischen Rebellen“, ohne diese näher zu bezeichnen) ist in allen Aspekten völkerrechtswidrig. Durch die Vertreibung der einzigen wirksamen Bastion gegen den „Islamischen Staat“ beleben die beiden neuen besten Freunde nicht nur den IS, sondern sorgen für erneutes Chaos in Syrien. So besuchte Diktator Al-Assad tatsächlich kurdische Milizen und kündigte vor ihnen vollmundig ab, dass man jetzt erst einmal kurz abwarten und dann die türkischen Eindringlinge wieder aus dem Land vertreiben wolle. Das klingt nach jeder mit jedem gegen jeden.

Nach türkischen Angaben haben bereits 800 YPG-Kämpfer diese „Schutzzone“ verlassen, doch laut Erdogan halten sich weitere 1300 YPG-Kämpfer in dieser Region auf, die nach dem Willen Erdogans ebenfalls abziehen sollen. Dann, so Erdogan, würde man ihre Stellungen dem Erdboden gleich machen – den IS wird’s freuen und auch andere terroristische Organisationen können nun problemlos wieder in Syrien einfallen.

Die „gemeinsamen Patrouillen“, die Erdogan und Putin in Sotchi angekündigt haben, sollten eigentlich das Aus für die Türkei in der NATO, das offizielle Ende aller Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei, die Kündigung des zynischen „Flüchtlingsabkommens“ und die Suspendierung der Türkei im Europarat zur Folge haben. Dazu sollten massivste Sanktionen verhängt werden, die in erster Linie den Tourismus betreffen sollten, der immerhin 13 % des türkischen BIP ausmacht – man sollte dafür sorgen, dass die Türkei nicht mehr das Geld verdient, das sie zum Ankauf von Waffen ausgibt.

Die Türkei hat sich entschieden, gegen die westliche Welt und Europa und für Russland – und damit kann die Türkei auch keinen Sonderstatus gegenüber Europa mehr haben. Der Vorschlag von Annegret Kramp-Karrenbauer, die angeregt hatte, dass eine solche Schutzzone unter europäischer Kontrolle in Zusammenarbeit mit der Türkei und Russland stehen sollte, kam zu spät, Erdogan und Putin hatten bereits Tatsachen geschaffen. Und in der Welt eines Erdogan oder Putin kommt eine AKK eben einfach nicht als ernstzunehmende Stimme vor.

Und so haben dann nicht nur die USA die Kurden verraten, indem Donald Trump durch den Abzug amerikanischer Soldaten aus der nordsyrischen Grenzregion den Einmarsch der Türkei überhaupt erst möglich gemacht hat, sondern auch wir Europäer haben durch das reine Zuschauen dafür gesorgt, dass Erdogan zuschlagen konnte. Hunderttausende sind wieder auf der Flucht und man muss kein Hellseher sein um vorherzusagen, dass diese Flüchtlinge versuchen werden, nach Europa zu kommen. Die EU, die Türkei, Russland und die USA sind damit die größten Förderer von kriminellen Schlepperbanden, bei denen dank dieser Länder und ihrer Regierungen momentan die Kasse klingelt. Und mit wem wollen wir dieses Mal schändliche Abkommen abschließen, damit man uns die Flüchtlinge vom Hals hält?

Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten sollten jetzt endlich einmal klare Kante zeigen und der Türkei jegliche Unterstützung entziehen. Der Boykott türkischer Waren und des Urlaubslands Türkei ist natürlich jedem Verbraucher und jeder Verbraucherin selbst überlassen, doch sollte man auch einmal überlegen, ob das wunderschöne und wirtschaftlich stark gebeutelte Griechenland nicht eine alternative und gleichzeitig solidarische Destination wäre.

Und jetzt möchte man eigentlich aus dem Europarat in Straßburg nicht hören, dass man deshalb nichts tut, weil man die „diplomatischen Kommunikationskanäle offenhalten will“ – diese müssten in einer Krise wie dieser funktionieren und wenn sie das nicht tun, dann braucht man sie auch nicht. Und wenn es dem Europarat nur um den türkischen Beitrag zum Haushalt geht (33 Millionen Euro pro Jahr, fünftgrößter Beitragszahler), dann muss man halt diesen Beitrag auf die anderen 46 Mitglieder umlegen. Jede Zusammenarbeit mit der Türkei ist, solange dieses Regime an der Macht ist, eine Unterstützung der Vertreibung und des seit Jahren andauernden Mords am kurdischen Volk.  Wer dieses Regime unterstützt, der macht sich mitschuldig.

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