(2) Gitterkartoffeln, die Kanzlerin und ich

Helmut Kohl und Angela Merkel: zweimal sechzehn Jahre, macht zweiunddreißig zusammen, mehr als mein halbes Leben. Nach dem Tod des Altkanzlers im Jahre 2017 konnte ich sein Wirken für mich bilanzieren – doch wird mir das auch mit der Altkanzlerin gelingen? Die Bilanz der Erinnerungslücken, zweiter Teil, Akt drei und vier.

Schwarz auf Weiß - Freiheit und Zukunftsangst im Doppelpack in Ost-Berlin. Seit jenem Spätherbst 1990 sind über drei Jahrzehnte ins wiedervereinigte Land gegangen, die Hälfte davon unter der Ägide von Kanzlerin Merkel. Foto: ©Michael Magercord / ROPI

(Michael Magercord) – Wollte man es 2012 kaum mehr glauben können, ist nun vollzogen, das selbstgesetzte Ende der ersten Kanzlerinnenschaft. Im Rückblick offenbarte sich der Rückzug der Angela Merkel aus dem Geschäft der aktiven Tagespolitik im Grunde bereits bei unserer dritten Begegnung – wobei es sich noch weniger um eine Begegnung im eigentlichen Sinne handelte, als bei den beiden ersten Malen. Nicht nur der Ort ist ein anderer, sondern auch die Perspektive, aus der ich sie beobachten konnte.

Ort war die Hauptstadt des Elsass, die sich auch als Hauptstadt Europas sieht, und an diesem Vormittag sollte es auch so scheinen, als dass sich im großen Sitzungssaal des Europäischen Parlaments das Zentrum der kontinentalen Aufmerksamkeit befindet. Es war das Jahr 2015, vielleicht das Schicksalsjahr der Kanzlerin, Anfang Oktober. Wenige Wochen zuvor hatte sie auf einer Pressekonferenz einen Satz gesagt, der durch die Medien ging und vielleicht als ihr erstaunlichster Satz gelten darf: „Wenn wir uns jetzt noch entschuldigen müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land“.

Gemünzt war er auf die Angriffe, denen sie für ihre Bereitschaft zur Aufnahme von Kriegsflüchtlingen im Sommer des Jahres nicht nur aus dem Inland ausgesetzt war. Im europäischen Ausland fand sie für die Gesichtswahrung einerseits Respekt – Merkel habe die humanistische Ehre des Kontinents gerettet; anderseits erntete sie auch – milde ausgedrückt – Unverständnis. Und ein Ort, an dem sich beide Reaktionen bündelten, war das Europäische Parlament.

Straßburg, 3. Akt – Gemeinsam mit dem französischen Präsidenten François Hollande stand sie den Abgeordneten zunächst Rede und dann Antwort. Beides verfolgte ich aus der Vogelperspektive, denn die Presse ist in die oberen Ränge verbannt, von denen sich der Sitzungssaal wie eine übergroße Schaubühne darbietet. Einmal mehr blieb mir weniger die Ansprache in Erinnerung, als die Art des Auftretens der Akteure. In den Presseberichten von damals ist nachzulesen, dass beide, Merkel und Hollande, einen ganz und gar europäischen Auftritt hingelegt und ihre Gemeinsamkeiten beschworen hätten, von neuer Führungsstärke in unsicheren Zeiten war damals gar die Rede. Es war allerdings vor allem Holland, der wusste, wie man Europa wärmende Worte mit auf den Weg gibt. Und noch nachdrücklicher stellten sich mir damals die anschließenden Stellungnahmen der Abgeordneten dar, dabei vor allem jene Momente, in denen ich die Akteure im Auge behielt, die gerade nicht redeten – insbesondere natürlich Angela Merkel.

Die Erwiderungen der Fraktionsvorsitzenden waren ausgehend von der Mitte nach links auch dann noch lobend freundlich bis warnend kritisch, wenn die Rede auf die beiden strittigsten Punkte kam, Griechenland und Flüchtlinge. Dann aber standen die Redner von rechts und ganz rechts auf der Liste: Die Erzkonservativen beklagten die „ohrenbetäubende föderalistische Rhetorik ohne Bezug zur Realität“ und „rücksichtslose Machtpolitik“ der beiden, Nigel Farage von der Brexitpartei „Ukip“ freute sich an der „Ironie, dass ein Projekt, das entworfen wurde, um deutsche Macht zu begrenzen und uns nun ein von Deutschland dominiertes Europa beschert hat“, und Marine Le Pen vom Front National sagte „danke, Frau Merkel, dass Sie Ihren Vizekanzler für die Provinz Frankreich hierher mitbringen“.

Ich gebe zu, dass ich den genauen Wortlaut dieser Stellungnahmen aus dem Sitzungsprotokoll, das sich im Internet findet, entnommen habe, allerdings ausdrücklich nur zu jenen Zitaten, die bei mir wenigstens sinngemäß bis heute hängen geblieben sind. Das Prinzip der strikten Erinnerungsbilanz wird dazu führen, dass ich aus der Erwiderung der Bundeskanzlerin auf die Einlassungen der Abgeordneten nur eine einzige, fast belanglose kurze Passage wiedergeben kann. Die Angesprochene blieb jedenfalls, während ihr die Leviten gelesen wurden, regungslos in ihrem Sessel sitzen. Aus der Vogelperspektive ließ sich kaum erahnen, was ihr dabei durch den Kopf ging. Trotzdem unternahm man von da oben natürlich den Versuch, die Wirkung der Redekünste der Populisten aus Polen, England und Frankreich aus ihrer Haltung und in ihrem Gesichtsausdruck zu lesen – und noch heute deute ich ihre Reglosigkeit als lähmendes Entsetzen.

Sicher hatte die Pastorentochter Angela Merkel nicht wirklich geglaubt, dass ihre protestantische Schuld-Ethik von allen Mitgliedern des Europäischen Parlamentes geteilt würde. Es klingt nicht für jeden logisch, dass einerseits die Griechen, weil sie sich nun einmal selbstverschuldet zu hoch verschuldet hatten, erst dann Hilfe für den in Not und Elend versinkenden ärmeren Teil der Bevölkerung erhalten würden, wenn der Staat auch noch seinen größten Hafen an Chinesen verkauft; und dass andererseits Flüchtlinge uneingeschränkten Zugang zu Schutz und Hilfe in der EU genießen sollen, weil sie eben unverschuldet in Not und Elend geraten waren. Dass ihr diese für viele Abgeordnete widersprüchlichen moralischen Herangehensweisen aufs europäische Butterbrot geschmiert würden, hatte – davon gehe ich aus – die Kanzlerin erwartet. Wohl aber nicht, in welchem Ton im Hohen Haus zu Straßburg Widersprüchlichkeiten zur Sprache gebracht werden.

Der Deutsche Bundestag war damals noch eine zahme Veranstaltung, die parlamentarischen Wiedergänger der Kesselflicker und Marktweiber zogen erst zwei Jahre später dort ein. In Straßburg ging es schon länger rund, und so war es an François Hollande, der in seinem eigenen Land mit ruppigen Umgangsformen wohlvertraut ist, eine feurige Erwiderung auf die Angriffe zu übernehmen, worin er kurzerhand alle Staaten, die eine Stärkung der EU gegenüber den Nationalstaaten ablehnen, zum Verlassen der Union aufrief. Aus Angela Merkels Gegenrede ist mir nur noch eine Replik auf eine Kanzler-Kritik der grünen Fraktionschefin Rebecca Harms geblieben. Es schien dabei um ein Randthema zu gehen, es zeigt sich aber spätestens heute, dass es von weitreichender Bedeutung ist, als das ganze Gezeter zuvor – und das ist vielleicht ja auch das Merkelhafte an der Merkelzeit, dass nämlich die wichtigen Dinge eher beiläufig abgehandelt wurden.

Es ging um die EU-Richtlinie zum CO2-Flottenausstoss für Autohersteller, die auf Druck der Merkel-Regierung immer weiter verwässert wurden. Die Grüne hatte darauf verwiesen, dass diese falsch verstandene Industriepolitik die europäische Industrie ohne den Zwang zur Innovation, den strengere Werte darstellen, bald alt aussehen lassen werde. Merkels Antwort blieb blass, wirkte geradezu wie eine Ausflucht: Niemand könne aber wollen, dass die Industrie ohne ausreichende Übergangsfristen Schaden davon trage. So hörte sich ein knallharter Einsatz für ihr Land an, das in erster Linie eben ein Industrieland ist – und wie gesagt: Es war ein betrüblicher Merkel-Morgen im Europäischen Parlament, an dem schon etwas von einem inneren Abschied bis nach oben in die Zuschauerränge hinauf dämmerte.

Straßburg, 4. Akt – Unser nächstes Mal fand wieder Straßburger Plenarsaal statt, wieder aus der Vogelperspektive. Es war der erste Julitag des Jahres 2017, angesetzt war der Staatsakt zum Tode von Helmut Kohl. Eine seltsame Veranstaltung, irgendwo zwischen Pomp und Schlichtheit. Der Leichnam war mitten im wenig feierlichen Saal aufgebahrt, Redner würdigten nacheinander den Verstorbenen. Der spanische Sozialist Filippe Gonzales war den Tränen nah; Jean-Claude Juncker rief voller Herzlichkeit den Moment wach, als im EU-Ministerrat die Entscheidung für die Aufnahme der Ostmitteleuropäischen Länder getroffen wurde und Helmut Kohl Minuten lang vor Rührung und Freude geweint hatte; Bill Clinton schilderte liebevoll den Fresssack Helmut Kohl, der ungeheure Portionen von seltsamsten Speisen verdrücken konnte, die man – wenn man sein Gast war – auch noch kosten musste: „I loved this man“.

Und Angela Merkel? Helmut Kohl war ihr politischer „Ziehvater“, wie man Alphatiere nennt, die sich eine Herde zulegen, ohne wirklich wissen zu können, wer sich daraus einmal als der Wolf im Schafspelz entpuppen wird, der das Alttier schließlich zur Strecke bringt. Von Merkels Rede blieb mir in der Erinnerung nur die Lücke übrig, nämlich das Fehlen jeder persönlichen Note. Hielt sie das schlechte Gewissen gegenüber dem Menschen Helmut Kohl von wärmeren Worten ab, war doch ausgerechnet ihr die zwar politisch notwendige, aber auch immer etwas anrüchige Rolle der neuen Leitwölfin zugefallen? Oder – wie man im Nachhinein auch vermuten darf – reifte dort unten in unmittelbarer Tuchfühlung mit dem in die Europafahne gehüllten Sarg ihr Entschluss, dass ihr nicht widerfahren solle, was Kohl durch sie hatte erfahren müssen?

Im November 2018 hielt sie eine weitere Rede im Europäischen Parlament. Damals hatte sie bereits ihren Rückzug aus der Politik mit dem Ende der laufenden Legislaturperiode erklärt. Geblieben ist mir von diesem Auftritt einzig die kurze, ziemlich sinnentleerte Stellungnahme des Satirikers und EU-Abgeordneten Martin Sonneborn, der Angela Merkel schon als scheidende Kanzlerin ansprach und sie aufforderte, das Land „besenrein“ zu übergeben – und wieder einmal bestätigte sich das Merkelphänomen: dass nämlich alle, die sich an ihr abarbeiten, in einen Spiegel schauen.

Zapfenstreich – Kann man aus dem Wirken der Bundeskanzlerin Angela Merkel seinen persönlichen Schluss ziehen, ohne gleich zum Kasper zu werden? Oder wenigstens ohne nur sein Spiegelbild zu beschreiben? Ganz zu Anfang dieser Bilanz hatte ich meine Folgerung ja bereits vorweggenommen: Gespenstige, farblose Jahre waren die eineinhalb Merkeljahrzehnte, eine Zeit ohne echte Weichenstellungen für die Zukunft des Landes. Die wesentlichen Entscheidungen – Atomausstieg, Wehrpflichtende, Flüchtlingsaufnahme, Ehe für alle – waren mutig, aber nur für die CDU-Vorsitzende Merkel, nicht die Kanzlerin Merkel: Atomkraft war seit Tschernobyl mehrheitlich out, Wehrpflicht nie populär, der Flüchtlingsaufnahme ging eine schon lange währende Debatte um Arbeits- und Fachkräftemangel voraus, und die Ehe für alle war bereits eine weitgehend anerkannte Lebensform.

Die Regierungschefin hatte sich den Strömungen der Zeit nie in den Weg gestellt, nicht den gesellschaftlichen, aber eben auch weder den wirtschaftlichen Mächten, wie der großzügige Umgang mit Großkonzernen und Banken in der Krise zeigte, noch den sozialen Verwerfungen, wie die immer weiter auseinandergehende Schere zwischen Oben und vor allem der Mitte beweist. Aber vielleicht wollen wir das ja so, denn wäre Angela Merkel nicht noch einmal wiedergewählt worden? Wurde nicht jener Kandidat zum neuen Bundeskanzler bestimmt, der ihr am ähnlichsten ist? Und warum konnten so viele, die sie nie gewählt hatten – Spieglein Spieglein –, trotzdem mit ihr als Kanzlerin ganz gut leben?

Oder anders gefragt: Was haben diese sechzehn Jahre mit meinem Verständnis von Politik gemacht? Mit Angela Merkel wurde selbst der Polterabend aus der Politik verbannt, kein altes Geschirr geht zu Bruch, wenn jetzt die Ménage-à-trois mit Regierungsämtern betraut wird. Keine neuen Schlagwörter gehen mit dem Wechsel einher, es bleibt beim merkelschen Wohlstandsversprechen durch industrielles Wachstum, und selbst die schrille Queerpolitik vollzieht nur, was im Grunde schon vollzogen ist – kurz: Demokratische Politik ist und bleibt – gottlob – ein nachführendes Geschäft. Politik, die sich im Rahmen von festen Strukturen mit klar verteilten Rollen vollzieht, führt nur jene Veränderungen herbei, deren Grundlagen bereits gelegt sind. Für die harte und langwierige Vorarbeit aber ist jeder selbst zuständig, wobei sie im stillen Kämmerlein geleistet werden muss und nicht in aufgeregten Diskursen, denn Grundlagen zu legen ist zuallererst eine geistige Arbeit. Und wir werden erst noch sehen, ob wir sie wirklich schon geleistet haben, wenn es ums Klima oder die Umgestaltung der Sozialsysteme geht.

Bundeskanzlerin Merkel wird damit nichts mehr zu tun haben, und trotzdem hat niemand diese Erkenntnis, dass nämlich in erster Linie nicht Politiker, sondern ich gefragt bin, wenn sich wirklich etwas ändern soll, besser verkörpert als Angela Merkel mit der Farblosigkeit, die sie in die demokratische Politik einbracht hat – dafür Danke, meine Angela.

Das war meine Erinnerungsbilanz und sicher ist Angela Merkel vor allem in diesem zweiten Teil ein wenig zu gespensterhaft und farblos weggekommen. Aber beim Großen Zapfenstreich des Stabsmusikkorps der Bundeswehr zu ihren Ehren hat die Kanzlerin mir ihre Antwort mit der Hilfe von Nina Hagen schon erteilt: „Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael“.

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