(2) „Hast du Sklaven gehalten?“ – ein Reisebericht aus Gorée

Wie weit wirkt Geschichte ins Heute hinein? Welche Konsequenzen muss man jetzt noch aus ihr ziehen? Aus aktuellem Anlass ein Bericht von einer Reise zu einem Ort der Erinnerung an den Sklavenhandel, der in seinem versöhnlichen Grundton auch schon fast wieder Historie ist: Impressionen und Gespräche aus dem eigentlich gar nicht so fernen Jahr 2010.

Setzt euch hin - Afrikanische Skulpturen aus Gorée mit einer Botschaft an ihre europäischen Käufer. Foto: (c) Michael Magercord

(Michael Magercord) – Auf Gorée, der senegalesischen Insel an Afrikas westlicher Spitze, befindet sich nicht nur die UNESCO-Welterbestätte zur Erinnerung an den Sklavenhandel. Das kleine Örtchen aus alten Handelshäusern zieht Touristen aus Ferne und Tagesausflügler aus der Hauptstadt Dakar auch wegen seines exotischen Charmes und der tropischen Lebensweise an: ideales Biotop nicht zuletzt für Künstler. In diesem zweiten Teil des Berichts von der zehn Jahre zurückliegenden Reise nach Gorée kommt Eugène Simon zu Wort, Sandkünstler und Betreiber einer Kunsthandwerkstatt.

Hast du Sklaven gehalten? Nein. Hat dein Vater Sklaven gehalten? Nein. Woran bist du also schuld? An nichts! Das ist vorbei, im 21. Jahrhundert bleibt nur Erinnerung. Wir haben verziehen. Was wir jetzt brauchen ist Verzeihen, Versöhnen – und Solidarität: Wir vergessen die Solidarität nicht.

Das bescheidene Häuschen von Eugène Simon steht mitten auf der Insel, am Hang der einzigen Anhöhe, gerade über dem Örtchen aus portugiesischen Kontoren und französischen Villen, die – nun meist Hotels – sich zwischen der Kirche und der Festung erstrecken. Rund herum das Blick auf die Bucht von Dakar. „Afrika ist Eins und hat als Grenze nur das Meer“, meint Eugène, und doch wäre es falsch zu sagen, die Europäer erst hätten Afrika aufgeteilt: „Wir Afrikaner haben Kriege geführt, Gefangene gemacht und sie als Sklaven verkauft“, weiß der 50-jährige Kunsthändler und bemüht die Wirtschaftslogik: „Durch uns begann der Sklavenhandel, die gewinnsüchtigen Europäer haben ihn bloß noch industrialisiert, weil sie damit eine Nachfrage bedienen konnten.“

Wenn wir allerdings heute noch wissen, wie es den Sklaven schließlich unter den Europäern ergangen ist, dann nicht, weil die Weißen es für uns aufgezeichnet hätten, sondern weil die Sklaven es ihren Nachkommen erzählt haben. In unserer mündlichen Tradition ist es so: Wir behalten alles und geben unser Wissen, die Wahrheit unseren Söhnen weiter. Die Alten wissen viel, aber sie schreiben es nicht auf, doch sie sprechen darüber und geben es auf diese Weise weiter.

Eugène betreibt ein Freiluftgeschäft mit Bildern aus Sand: Kunst sei nun einmal das erste Handwerk des Menschen. Die Kunsthochschule in Dakar hatte er einst absolviert und sich auf Sandmalerei spezialisiert. Nach seinen Entwürfen lässt er Sandbilder aus unterschiedlich getönten Sandarten herstellen. Der Sand wird dazu auf einer Holzplatte verteilt und verklebt.

In unseren Sandbildern und Skulpturen sieht man oft einen Denker, sitzend, schauend, scheinbar ruhig, aber in seinem Kopf dreht sich alles. Wenn man nachdenkt, muss man nicht hin und her rennen. Man bleibt sitzen, und dann wird irgendwann die Antwort kommen, alles ist da, man muss nur auf die Antwort warten können und dann wird es ein gutes Ergebnis sein. Wir erleiden Schmerzen und Not, vielleicht sogar Hunger, aber am Ende werden wir etwas finden, das wahr ist. Und es wird nicht für unseren Konsum sein, sondern für alle Menschen, und nicht nur für Afrikaner, denn wir Afrikaner haben alles bewahrt.

In der Kunsthochschule habe er diese Technik erlernt, sagt Eugène. Sie sei gleich nach der Unabhängigkeit von dem Dichter und Präsidenten Leopold Sedar Senghor erfunden worden, denn er habe gesehen, dass die Afrikaner den ganzen Tag nichts tun, sie sitzen da, denken nach, sie arbeiten im Kopf. Man müsse sie nun aber dazu bringen, alles, was sie wissen, aus ihnen herauszuholen: und zwar durch Kunst.

Der Modernismus kommt zu uns von weit weither. Anderswo aber hat er die Ursprünge vergessen gemacht, und wenn nun die ganze Welt modern wäre, wüsste die Menschheit nicht, woher sie kommt. Falls aber nun dieser Modernismus einmal nicht mehr richtig funktionieren sollte, dann müssen die modernen Menschen nur nach Afrika schauen. Schon deshalb dürfen wir nichts an dem ändern, was in Afrika ist. Denn nur unser aufbewahrtes Wissen erlaubt es der Menschheit noch erfahren zu können, woher sie kommt und wohin sie gehen soll. Wie sonst könnte man Antworten geben auf die Fragen: Soll alles so bleiben? Sollen wir so weitermachen? Oder doch etwas verändern? Wenn wir Afrikaner euch, den Menschen aus dem Westen, einen Rat erteilen dürften, dann hätte ich diesen Ratschlag für euch: Setzt euch doch auch einfach einmal hin, denkt nach und macht den Menschen wieder zum Menschen.

„Wir arbeiten mit Natursand“, erklärt einer seiner Mitarbeiter und zeigt auf die Töpfe: „Sand von Gorée, den Dünen von Kayar und von der Mangrovenküste, der grün ist. Sand aus der Casamance, aus Timbuktu und aus der Tener-Wüste in Mauretanien, wo früher die Rallye Paris-Dakar vorbeigekommen war. Und welcher aus dem Tel-Gebirge, von wo ihn der Mistral bis nach Frankreich trägt…“

Es ist wahr, wir Afrikaner sind nicht zufrieden mit unserem Leben. Auch wir wollen voranschreiten, nach vorn, wie in Europa. Viele Afrikaner mögen Afrika nicht, es erscheint ihnen primitiv. Und dunkel. Manche opfern ihr Leben, um in Europa das Licht zu sehen. Aber man braucht etwas, um so hell zu erstrahlen wie Europa? Heute ist es das Öl. Das Öl kommt aus dem Boden. Alles ist herausgeholt und verbrannt – aber was befindet sich nun da unten in den Erdschichten? Dort unten ist es ja nicht leer, nein, Wasser ist in die Erde gepumpt worden, das den Platz des Öls eingenommen hat: Und das ist das Eis, das nun schmilzt. Wer hat das getan? Es war der Modernismus des Westens, der das angerichtet hat. Hätte der Westen einmal innegehalten, dann hätten auch er einen guten Weg gefunden. Man muss warten können auf eine gute Lösung. Das ist die Botschaft, die wir Afrikaner durch mich an euch Europäer senden: Das Öl, lasst es unter der Erde, denn auch, wenn wir noch nicht wissen wozu, dient es dort zu etwas!

„Uns stehen 24 Naturfarben durch die unterschiedlichen Färbungen des Sandes zur Verfügung“, erzählt der Mitarbeiter und lässt ihn auf die eingekleisterte Holzpalette laufen. „Als Kleber nutzen wir den Harz des Baobab-Baumes und Gummi-Arabicum von Akazien. Die wachsen in ganz Afrika und ihr Klebstoff ist feuchtigkeitsresistent. Wir imprägnieren zum Schluss die Bilder“, erklärt der Mitarbeiter, „dann wird der Sand noch kristalliner und strahlt.“

Warum geschieht das alles? Weil wir ein bequemes Leben wollen. Aber der Mensch kann auf Dauer kein bequemes Leben führen. Das bequeme Leben ist nicht gut für die Menschheit. Den Afrikanern fehlen bislang die Mittel dazu – und das ist besser so.

Eugène Simon zeigt auf sein kleines Haus, worin er sich das eine Zimmer mit seiner Frau und seinem Sohn teilt. So ein Haus müsse doch genügen für ein Menschenleben. Kann es aber auch der kommenden Generation noch genügen? Wird sein Sohn, der noch zur Schule geht und dort mit vielen neuen Kenntnissen in Berührung kommt, mit diesem einfachen Leben noch zufrieden sein? Zumal in dieser globalisierten Welt des freien Informationsflusses, in der zumindest das Wissen darüber, wie es sich anderswo lebt, keine Grenzen mehr kennt?

Mein Sohn isst, wohnt und schläft hier, genau hier. Er wird sich kein schöneres Haus wünschen. Er wird wie ich in einem Haus wohnen, dass er mit seinen eigenen Händen und seinen eigenen Mitteln erbaut hat. Er wird sein wie ich, so wie ich erzogen wurde von meinem Vater, und der wiederum von meinem Großvater: nämlich durch unsere Ahnen. Er wird sich ein Beispiel nehmen an dem Vogel, der sein Nest baut: Er holt mit seinem Schnabel einen Zweig nach dem anderen. Er hat nicht noch einen in der rechten Kralle und einen in der linken, dann würde er nämlich nicht mehr fliegen können, sondern fortwährend abstürzen: Der Mensch sollte sich beim Aufbau seiner Welt von den Vögeln inspirieren lassen.

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