25 Jahre nach der Wende – die nächste deutsche Kehrtwende

Erst staunte die Welt über die deutsche „Willkommenskultur“ - jetzt rudern alle Koalitions-Parteien wieder zurück und wärmen die Sprüche vom „Boot ist voll“ wieder auf.

Wir dürfen die Menschen nicht diesem Elend überlassen. So einfach ist das. Foto: Mstyslav Chernov / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0

(KL) – Die große Politik hat nicht Unrecht, wenn sie heute die Ansicht vertritt, dass die Frage der Aufnahme von Flüchtlingen aus Kriegs- und Krisengebieten eine mindestens ebenso große Herausforderung darstellt wie die deutsche Wiedervereinigung. Doch große historische Moment erfordern auch ein großes, historisches Verhalten, eben genau das „Wir schaffen das!“ der Bundeskanzlerin Angela Merkel, die dafür inzwischen von ihrer eigenen Partei und dem deutschen Stammtisch demontiert wird. Doch sollten gerade wir Deutschen in einem Moment, in dem wir die innerdeutsche Fluchtwelle von 1988 und 1989 bejubeln, einmal einen kleinen historischen Rückblick über den Tellerrand hinaus wagen. Wer heute „das Boot ist voll“ sagt, sollte sich daran erinnern, dass Hunderttausende deutsche Juden von den Nazis vergast werden konnten, weil viele Länder der Welt sich weigerten, deutschen Juden Zuflucht zu gewähren und die ausreise- und fluchtwilligen deutschen Juden solange mit administrativen Vorgaben drangsalierten, bis die von den Nazischergen abgeholt und in die Todeslager geschickt werden konnten.

Es geht jetzt schon lange nicht mehr darum, ein altes deutsches Schuldgefühl aufzuwärmen, sondern es geht darum, aus der Geschichte zu lernen. Ebenso wenig wie damals deutsche Juden das Land verlassen wollten, um es sich anderswo gut gehen zu lassen, verlassen heute Syrer, Afghanen oder Iraker ihre Länder, um sich auf Kosten des deutschen Steuerzahlers einen fröhlichen Lenz zu machen. Flüchtlinge sind nämlich in der Regel niemals fröhlich, sie haben gerade eine lebensgefährliche Flucht hinter sich, um Krieg, Elend, Tod und Verderben hinter sich zu lassen. Genau wie in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts, als viele Juden Deutschland nicht verlassen konnten, weil es keinen „sicheren Korridor“ ins sichere Ausland gab. Daran sollte man denken, wenn man jetzt von sich gibt, dass das „Boot voll sei“.

Solange es ein ungenutztes öffentliches Gebäude gibt, so lange es noch einen nicht ausgeschöpften Budgetpunkt in den öffentlichen Haushalten gibt, so lange die Bistümer in Deutschland auf Milliardenvermögen und zehntausenden Wohnungen in ihrem Besitz hocken, so lange ist das Boot nicht voll, um Menschen in Lebensgefahr aufzunehmen. Doch was passiert? Nach der ersten Welle riesiger Hilfsbereitschaft redet ausgerechnet die Politik diesen Elan der Solidarität der Zivilgesellschaft kaputt, stacheln nationalkonservative Brandstifter minderbemittelte Gewalttäter zu Aktionen am Rande des Terrorismus an, befinden Schreibtischtäter darüber, wessen Leben gerettet werden darf und wessen Leben nicht.

Das ganze Gerede von unserer ach so schützenswerten und dabei gar nicht bedrohten jüdisch-christlichen Kultur (ein Begriff, über den die jüdische Gemeinschaft eigentlich nur traurig den Kopf schütteln kann, denn bei der letzten großen nationalistischen Welle in Deutschland kam dieser Begriff nun so überhaupt nicht vor…), ist ziemlicher Quatsch. Politiker wie der Bayer Horst Seehofer und sein Adlatus Markus Söder, die Französinnen Nadine Morano und Marine Le Pen, ausgewiesene Antidemokraten wie Viktor Orbán, all das sind Politiker, die gerade dabei sind, bedrohte Menschen ins Elend zu schicken. Diese politische Haltung ist allerdings, anders als sie es behaupten, von keiner Religion und schon von gar keiner Zivilisation der Welt gedeckt. Es gibt keine einzige Religion auf der Welt, die vorschreibt, man möge in ihrer Existenz bedrohte Menschen ihrem Schicksal überlassen, damit man keinen Zipfel des eigenen Wohlstands preisgeben muss. Diese Politiker sind Stammtisch-Täter, denen Wählerstimmen und die eigene politische Karriere wichtiger sind als das dramatische Schicksal von Flüchtlingen, die inzwischen sogar an den EU-Außengrenzen kriminalisiert und weiter drangsaliert werden.

Nein, das Boot ist nicht voll. Und nein, die Lösung kann nicht darin bestehen, Zäune und Mauern zu errichten, damit wir das grauenhafte Schicksal dieser Menschen nicht mehr mit ansehen müssen. Selbst, wenn eine Million Menschen bei uns Zuflucht sucht, dann müssen eben Prioritäten neu definiert, Gelder umgeleitet und entsprechende Maßnahmen ergriffen werden. Alles andere ist nichts anderes als „Beihilfe zum Völkermord“ und dessen sollten sich diejenigen bewusst werden, die heute dem Stammtisch zum Munde reden und die Grundlagen für weitere gewalttätige Übergriffe auf Flüchtlinge und deren Strukturen legen.

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.

*



Copyright © Eurojournaliste