MUSICA oder NUMERICA?

Das Publikum des Festivals für neue Musik in Straßburg wird in diesem Jahr zwei Herausforderungen zu meistern haben: die Corona-Beschränkungen einzuhalten und gleichzeitig die Ausflüge in das Reich der elektronischen Klänge zu bewältigen. Beides fordert höchste Aufmerksamkeit.

Festival MUSICA, 100 Becken erklingen zum Auftakt des Straßburger Festivals für neue und allerneuste Musik. Foto: MUSICA

(Von Michael Magercord) – Franzosen machen schöne Worte. Im Gegensatz zum Rest der Welt sagen sie nicht „digital“, wenn von der algorithmischen Wesenheit der modernen Informationstechnologie die Rede ist, sondern „numérique“ – also irgendwas mit Nummern und Zahlen. Diese sprachliche Alleinstellung hindert sie allerdings nicht daran, modernen Dingen aufgeschlossen gegenüberzutreten – und vor allem im Bereich der Künste nichts außer Acht zu lassen, was neue Töne macht. Und so liest sich das Programm der diesjährigen Ausgabe des Straßburger Festivals für neue Musik über weite Strecken wie ein Messekatalog für die neusten Klangerlebnisprogramme der Software-Industrie.

MUSICA geht nun ins 38. Jahr und bleibt sich treu: Ins Programm gehört, was neu ist. Und als besonders neu erscheint uns allen ja die Informationstechnologie mit ihren ungeheuren Möglichkeiten über alles Gewesene hinauszugehen, aber auch durch die Herausforderung, die sie an unser tätiges Menschsein stellt. Das gilt nicht nur für die Arbeitswelt, sondern eben auch in der Kunst – und in der Musik. Wer ist noch wer, wenn Algorithmen den Rhythmus machen? Gibt es noch den „Künstler“, also „Komponisten“ und „Musiker“? Oder sind sie bloß noch Erfüllungsgehilfen einer Technik wie jeder andere auch? Diesen Fragen unserer Epoche stellt sich das Festival und es scheint, als wolle man – fast schon ein wenig verzweifelt – ausloten, wo da im Virtuellen noch Platz für die „Präsenz“ – so Festivaldirektor Stephan Roth – des Menschlichen bleibt.

Den Anfang der diesjährigen Ausgabe des bedeutendsten Festivals für Neue Musik in Frankreich macht der japanische Elektroniker Ryoji Ikeda. Am 17. September lässt er zu einer seiner audiovisuellen Installationen „100 cymbals“, also Becken, erklingen, gespielt – doch doch, wirklich „gespielt“ – von den Schlagwerkern der „Les Percussions de Strasbourg“: ein, wie es heißt, „unendliches Crescendo“ ausgehend vom „Murmeln“ endend im „Fortissimo“ – Unendlichkeit erlebbar in einer guten Stunde.

Dieser Zeremonienmeister der digitalen Zahlenschmiede darf mit seinen „multidimensionalen Symphonien“ – Zitat Programmheft – seine Könnerschaft noch auf weiteren Veranstaltungen beweisen. Dabei sagt er doch von sich, er habe eigentlich keine Ahnung von Mathematik und betreibe sie dennoch. Vielleicht ist genau da der Platz des Menschen, des Künstlers zumal, in der Welt der Technik: Keine Ahnung zu haben und es trotzdem zu tun.

Nichtwissen ist Macht! Das gilt auch für den zweiten „Komponisten“, der beim diesjährigen Festival besonders im Fokus stehen wird. Der Däne Simon Steen-Andersen habe laut Selbstbekenntnis die Musik sehr früh als Spiel betrachtet, ohne vorher die Spielregeln durchgelesen zu haben. Seine Theorieausbildung sei nicht sehr profund, was ihn aber nicht daran hindere, Millionen Theorien zu entwickeln, die auf der Beobachtung seiner selbst beruhten. Was kommt dabei heraus, wenn man sich beim Beobachten beobachtet? Das Repertoire der Altvorderen, ob Beethoven oder Schönberg, nutze er mit Abstand und habe sich immer eine Distanz bewahrt, woraus sich quasi eine Art von negativer Inspiration entzündet. Hat diese Form der Inspiration ihn schließlich dazu gebracht über das Format des Konzerts zu reflektieren – und zwar ausgerechnet in der Form eines Konzertes, währenddessen ein Klavier in seine Einzelteile zerlegt wird?

So tief kann’s gehen, wenn man ins theoriefreie Reflektieren fällt: dann legt die „Dekonstruktion“ eines Klaviers sogar die „Metaebene“ der Form des Klavierkonzertes offen. Und dann – oh, Gipfel der musischen Künste – übt der „Dualismus zwischen Schönheit und Brutalität“ gleichzeitig eine Anziehung wie eine Ablehnung aus. Für diese bittersüße Gefühlsambivalenz der Befreiung durch Zerstörung gehen andere nicht in den Konzertsaal, sondern in den Destroy-room, wo Möbelstücke und ein Baseball-Schläger bereitstehen und man sich gegen Entgelt frei nach dem Asterix-Motto des römischen Zenturio Haudraufundschluss austoben kann – Tschuldigung für diese unmusische Anwandlung, aber auch meine theoretische Bildung ist nicht allzu profund…

Ja, da glaubte man als theorieloser Musenkonsument schon, das alte Problem der „Neuen Musik“ sei überwunden. Doch nun feiert das unbedingte Brechen mit den Traditionen fröhliche – oder auch weniger fröhliche – Urstände. Nur dass sich der Bruch nicht mehr am Inhalt, also an der Musik und den ihr eigenen Mitteln abarbeitet, sondern an der Form der Darbietung. Worin aber eben vielleicht auch das Grundproblem mit der digitalen Herausforderung besteht: So wirklich viel Neues, was auch über die eigenen Zeiten hinweg Bestand haben wird, gibt es wohl gar nicht unter der Sonne. Also muss es die Form sein, die zum Brechen ansteht.

Corona sei Dank haben wir ja das digitale Kunsterlebnis zu Genüge genießen dürfen, es wird Zeit fürs echte. Und das sind in der Musik nun einmal Konzerte, so lange jedenfalls – behaupte ich jetzt einfach mal – die Sonne scheinen wird. Doch weil es heutzutage ohne Erziehungsauftrag im Kulturbetrieb wohl doch nicht mehr gehen darf, soll in diesen Konzerten nun „den Melomanen die Freude an der Musik des elektronischen Zeitalters vermittelt werden“. Denn wenn wir, so der junge Direktor weiter, diese Klänge per Zufall hören, wird sich auf längere Sicht unser Geschmack daran anpassen – frei nach der Devise: Besser, die Musikliebhaber gewöhnen sich schon mal dran, ein Entrinnen wird es sowieso nicht geben.

Und weil man am besten gleich bei jenen ansetzt, deren Hörgewohnheiten sich gerade beginnen zu entwickeln, gibt es eine besondere Veranstaltungsreihe für die Jüngsten: „mini musica“ heißt das familienfreundliche Angebot für Kinder ab sechs Monaten bis zehn Jahren – und als verstockter Erwachsener ist man auf die Kleinen fast ein bisschen neidisch. Die wahren Neuerer Bach, Debussy und Ligeti stehen da neben Jolivet, Hollinger und Takemitsu auf dem Programm – und man wünschte sich ein Extraangebot für Greise mit guter alter „Neuer Musik“, bei der die Betonung noch auf dem letzten Wort läge…

So, liebe Melomanen, hörte sich diese Vorbetrachtung zur 38. MUSICA jetzt an, wie eine Tirade von diesen griesgrämigen alten weißen Männern, die in ihrer Loge hocken, um nur noch an Allem herum zu biestern? Nein, um Gottes willen, dazu schreibt das Festival doch auch viel zu schöne Geschichten! Grenzübergreifende zum Beispiel, wenn am 19. September zwei Schulchöre aus Wissembourg und Offenburg gemeinsam auf der Bühne stehen. Oder lokale, wenn zum Abschluss des Festivals am 3. Oktober die kreative Straßburger Musikszene den Ton vorgibt, mit dem wir in die festivalsfreie Zeit entlassen werden. Und dazwischen erklingen neben und mit dem Getöne aus elektronischen Endgeräten sogar richtige Instrumente, die von hochkarätigen Musikern fachgerecht bedient werden.

Aufgeschlossenheit und Aufmerksamkeit sollten ja immer zum Rüstzeug des Konzertbesuchers gehören. Und sollte dieser Meckergreis in seiner Loge dann doch das ein oder andere Mal eine Grimasse ziehen, wird die in diesem Jahr unter seiner Maske ohnehin verborgen bleiben.

Festival MUSICA
DO 17. September – SA 3. Oktober
an unterschiedlichen Spielstätten in Straßburg

Komplettes Programm und Tickets unter: www.festivalmusica.fr

Infobüro und Kartenverkauf:
7, Place Saint-Étienne im Zentrum von Straßburg

HINWEIS: Sollten sich aufgrund der Entwicklungen mit COVID-19 in den nächsten Tagen Absagen oder gravierende Änderungen für den Verlauf des Festivals ergeben, werden wir Sie in der Kommentarzeile zu diesem Artikel so umgehend wie möglich darüber informieren.

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