Alle gegen alles

Der Streik vom 5. Dezember geht, wie erwartet, weiter. Ein Ende ist nicht abzusehen. Eine politische Lösung auch nicht. Nur – wie soll es in Frankreich weitergehen?

Frankreich, Dezember 2019. Die Anzeigentafeln in den Bahnhöfen zeigen diejenigen Züge an, die NICHT fahren. Und das sind fast alle. Foto: Florian Pépellin / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – Auch am heutigen Montag sind die Franzosen herzlich eingeladen, ihren Weg zur Arbeit ohne Züge, Trams und Metros anzutreten. Denn die Pariser Verkehrsbetriebe und die Staatsbahn SNCF führen ihren Streik weiter. Wie lange, das steht in den Sternen.

Dieser Streik, bei dem es um die geplante Rentenreform geht, die erst am Dienstag in allen Einzelheiten präsentiert werden soll, ist mehr als die Sorge, dass die Renten in Frankreich künftig dünner ausfallen und die Menschen länger arbeiten müssen. Es geht um die Unzufriedenheit der Franzosen mit allem und dieses „alles“ ist immer schwerer an einzelnen Themen festzumachen. Es ist wie ein ungutes Gefühl, dass alles den Bach heruntergeht. Und auch, dass die Organisation der Gesellschaft grundsätzliche Fehler beinhaltet, die eine Verbesserung der Situation unmöglich machen.

Haben die Franzosen am Ende Recht und einfach vor allen anderen erkannt, dass unsere aktuellen Gesellschaftssysteme am Ende angekommen sind? Tatsache ist, dass in Frankreich und praktisch allen anderen europäischen Ländern die Armut immer weiter grassiert, zwischen einem Fünftel und einem Sechstel der Bevölkerung inzwischen komplett abgehängt ist und keine Chance mehr hat, an den Annehmlichkeiten der westlichen Zivilisation teilzuhaben, während die Profiteure des Systems täglich reicher werden. Gleichzeitig merken die Menschen, dass selbst ihre Gesundheit und Umwelt zerstört werden, da dies mehr Profite bringt und eben die Reichen weiter bereichert, obwohl diese das gar nicht nötig hätten.

Viele Systeme funktionieren nicht mehr und sind in sich völlig verrottet und korrupt. Die Politik hangelt sich von einem Skandal zum nächsten, die demokratische Gewaltentrennung funktioniert nicht mehr, Pressefreiheit und Unabhängigkeit der Justiz sind mehr als gefährdet. Diejenigen, die sich gegen diese Entwicklung hin zum „totalen Staat“ auflehnen, werden verfolgt und massiver Repression ausgesetzt.

Politische Lösungen für dieses allgemeine Unwohlsein gibt es nicht mehr. Dabei sorgt auch für großes Unbehagen, dass der vor zweieinhalb Jahren gewählte Präsident Macron als großer Erneuerer angetreten war, der eine „neue Welt“ versprochen hatte, doch, wie sich herausstellte, in erster Linie der Architekt eines neuen alles kontrollierenden Staats ist, der diejenigen Bürgerinnen und Bürger missachtet, die nicht das Glück haben, auf der Sonnenseite des Lebens geboren zu sein. Da diese abgehängten Bürgerinnen und Bürger aber immer zahlreicher werden, kann es gut sein, dass Frankreich noch vor allen anderen Ländern eine Sozialrevolution erleben wird, die ähnlich heftig verlaufen könnte wie einstmals die Französische Revolution.

In anderen Ländern, wie beispielsweise Deutschland, hat man sich inzwischen achselzuckend daran gewöhnt, dass das Leben für viele immer schwerer wird. In Deutschland haben arme Menschen auch keine Erfahrung darin, sich zu organisieren und ihre Stimme hören zu lassen. Sie gehen nicht wählen, sondern erdulden stumm ihr Schicksal. In Frankreich ist das anders, Franzosen haben in ihrer DNA ein revolutionäres Gen eingebaut, dass so präsent ist, dass man in Frankreich auf der Straße Monarchien beendet, Regierungen stürzt und bereit ist, dafür auch reichlich militante Mittel einzusetzen.

In einer Zeit großer Veränderungen, die vielen Menschen Angst machen, da diese Veränderungen tatsächlich große Teile der Bevölkerung abhängen, hat es der neue Präsident verpasst, eine Art „sanfte Revolution von oben“ einzuleiten, was ihm die Liebe seiner Landsleute und eine lange Amtszeit beschert hätte. Da aber positive Veränderungen des Lebens der Menschen nicht „von oben“ kommen, werden die Demonstrationen, Streiks und auch gewaltsame Aktionen in Frankreich immer häufiger. „Von unten“ kann aber eine Gesellschaft nur mit Gewalt verändert werden, das lehrt uns die Geschichte. Bewegen wir uns also auf eine „Französische Revolution 2.0“ zu? Das steht zu befürchten, da auf Seiten der Regierung keinerlei Bereitschaft zu einem gesellschaftlichen Wandel im Dialog besteht und auf Seiten der Unzufriedenen keinerlei Plan, was man eigentlich verändern sollte, damit sich die Dinge verbessern.

Am letzten Donnerstag gingen über eine Million Franzosen auf die Straße, um ihre Unzufriedenheit kundzutun. Zwar dürfte jetzt der Streik an Unterstützung abnehmen, da er in eine Zeit fällt, in der die Franzosen lieber eine ruhige Kugel schieben und auf den Weihnachtsmärkten Glühwein trinken würden, als stundenlang in Schlangen zu stehen, in der Hoffnung, einen der wenigen Züge oder eine der wenigen Metros zu erwischen, die ab und zu noch fahren. Doch muss man erkennen, dass sich in Frankreich etwas zusammenbraut, was sich weiter entwickeln kann. Und sollte das der Fall sein, dann ist es nur eine Frage der Zeit, wann diese Entwicklung in andere Länder schwappt. Das war in den letzten Jahrhunderten immer so gewesen – die Franzosen revoltierten und die anderen Länder zogen nach.

Es wäre an der Zeit, dass ein echter gesellschaftlicher Dialog entsteht, der das gegenseitige Misstrauen zwischen Volk und Regierung überbrückt – denn die „neue Gesellschaft“ kann keine der beiden Seiten alleine aufbauen. Wenn dies nicht gelingt, wird sich die Geschichte wiederholen und die europäischen Staaten werden über kurz oder lang in gewalttätigen sozialen Konflikten versinken. In der Hoffnung, dass die „neue Welt“ irgendwann wie ein Phönix aus der Asche aufsteht. Doch bis dahin ist es noch weit und der Weg dahin ist mit vielen, unguten und sogar gefährlichen Entwicklungen gepflastert.

Ansonsten empfehlen wir dringend für die nächsten Tage bei geplanten Frankreich-Reisen im Internet zu schauen, ob sie hin und wieder zurückkommen. Und das ist momentan mehr als fraglich.

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