Alles, was wir als selbstverständlich betrachtet hatten…

In den letzten zweieinhalb Jahren wurde vieles von dem, was wir für selbstverständlich erachtet hatten, über Bord geworfen. Und wie geht es weiter?

Niemand soll sagen, dass er diese Entwicklung nicht hat kommen gesehen. Foto: Wolfgang Sauber / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – Wir hatten eine schöne Zeit. Nach dem II. Weltkrieg war die Welt in einer Art Schockzustand, als das Ausmaß der Gräueltaten der Nazis sichtbar wurde, als die Millionen Toten gezählt wurden, als man sich gegenseitig versprach, dass so etwas nie wieder vorkommen dürfe. Zwei Weltkriege mit rund 100 Millionen Toten, verwüsteten Ländern, zerstörten Biographien, das reichte. Und so arbeitete man Jahrzehnte lang dafür, dass so etwas wirklich nicht wieder vorkommen sollte. Und diese Jahre waren so schön, dass wir dachten, sie würden ewig dauern. Doch die letzten zweieinhalb Jahre reichten aus, all das über den Haufen zu werfen. Die „Werte“, die wir in diesen Jahrzehnten zu unserem Leitbild gemacht hatten, waren so lange hoch im Kurs, bis der erste Krieg auf europäischem Boden daher kam (wobei es gar nicht der erste Krieg war, man denke nur an die entsetzlichen Vorkommnisse bei der Auflösung von Ex-Jugoslawien, aber das ist ein anderes Thema). Und jetzt? Jetzt ist eben wieder Krieg angesagt und niemand spricht mehr davon, wie man ihn möglichst schnell wieder beenden kann, sondern die Diskussion verlagert sich darauf, mit welchen Mitteln man möglichst viele Menschen töten kann.

Alte Friedensaktivisten wie der grüne Toni Hofreiter beten in TV-Shows Waffentypen, Kaliber und Reichweiten von Raketen herunter und die inhaltliche Debatte, wie beispielsweise von den 140.000 Unterzeichnern des Friedensappels von Alice Schwarzer angeregt, wird von Kriegsslogans niedergebrüllt – eine echte Auseinandersetzung zur Frage „Krieg oder Frieden“ findet nicht mehr statt. Schlimmer noch: Wer heute das Wort „Frieden“ in den Mund nimmt, wird als „Putin-Freund“ oder gar „Friedens-Terrorist“ verunglimpft. Diejenigen, die in ihren Palästen sitzen, wollen wieder Blut sehen und ihre Kriegsmaschinerien in Schwung bringen. Dabei sollten wir Europäer doch eigentlich wissen, wohin das führt.

Doch der Krieg, der sich immer weiter zum Flächenbrand ausweitet, ist nicht das einzige Thema, bei dem wir das über Bord geworfen haben, wofür unsere Vorfahren lange haben kämpfen müssen. Während der Pandemie, die nun irgendwie als beendet gilt, obwohl sie das nicht ist, haben wir unreflektiert unglaubliche Einschnitte in persönliche Freiheitsrechte geschluckt, hier in Frankreich haben wir klaglos lächerliche Ausgangserlaubnisse ausgefüllt, mit denen wir uns selbst gestatteten, täglich eine Stunde im Umkreis von einem Kilometer um unsere Wohnungen herum frische Luft zu schnappen, wir haben akzeptiert, dass innerhalb kürzester Zeit unser Leben auf QR-Codes umgestellt wurde, und dies ist alles erst der Anfang einer Entwicklung.

Perspektiven auf Besserung gibt es nicht. Die Politik ist zum Erfüllungsgehilfen der Finanzmärkte verkommen, an vielen Stellen korrupt, Lichtjahre entfernt von den täglichen Sorgen der Menschen.

In den Jahren vor dem Ausbruch des II. Weltkriegs gab es mahnende Stimmen, die schnell zum Schweigen gebracht wurden. Doch heute wie damals befanden sich die meinungsbildenden Medien in Händen von Menschen und Gruppierungen, denen das Wohl der „einfachen Menschen“ herzlich egal ist, deren Werte „Shareholder Value“, „Geostrategie“ und „jede Menge Geld“ heißen.

Die nicht stattfindende Erneuerung unserer politischen und gesellschaftlichen Systeme, die allesamt aus der Zeit vor der Technologischen Revolution stammen, führt dazu, dass viele soziale Errungenschaften unserer Vorväter abgeschafft werden. Die Rente mit 62, die 35-Stunden-Woche und vieles mehr wird geopfert, damit wir uns wieder Waffen und Kriege leisten können und dies nun bereits zum dritten Mal in etwas mehr als 100 Jahren.

Nein, wer für Frieden eintritt, ist nicht etwa ein realitätsfremder Träumer oder gar Vaterlandsverräter, wer sich gegen die Abschaffung sozialer Errungenschaften und individueller Freiheiten sträubt, ist nicht etwa ein Saboteur des technologischen Fortschritts, und wer sich in der aktuellen Politik nicht mehr wiederfindet, ist nicht etwa ein stillschweigender Unterstützer extremistischer Positionen.

Allerdings sind wir selber an dieser Entwicklung Schuld. Wenn wir bei Wahlen, die ja zum Glück noch stattfinden, systematisch denjenigen die Verantwortung für unsere Länder übertragen, die gerade dabei sind, die Welt in den Abgrund eines neues Weltkriegs zu treiben, dann dürfen wir uns auch nicht beschweren, wenn diese Menschen ihre düsteren Vorhaben auch umsetzen. Dass dabei allerdings von „Werten“ und „Demokratie“ und „Frieden durch Krieg“ geschwafelt wird, ist extrem ärgerlich. Denn alleine schon der Begriff „Frieden durch Krieg“ zeigt die ganze Perversion auf, deren Entwicklung wir durch unsere eigene geistige Trägheit erst ermöglicht haben. Ab die Zeit noch reicht, hier eine Richtungsänderung zu bewirken, ist mehr als fraglich.

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