Andrea Nahles verlässt das sinkende Schiff

Deutschland stürzt in eine Regierungskrise. In den Umfragen hat die „Groko“ keine Mehrheit mehr, die Grünen sind inzwischen die stärkste Partei und Andrea Nahles hat keine Lust mehr.

Those were the happy days... Andrea Nahles bei der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags. Foto: Sandro Halank / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 3.0

(KL) – Ob sich Andrea Nahles beim Frühstück und der Lektüre der jüngsten Umfragen, in denen die SPD auf 12 % abgerutscht ist, die Frage gestellt hat, wer für diesen Absturz ins fast Bodenlose verantwortlich ist? Offenbar ja – denn am heutigen Montag wird die SPD-Chefin ihren Rückzug aus allen politischen Ämtern verkünden. Sie tritt also nicht nur von ihrem Posten als SPD-Vorsitzende zurück, sondern legt auch ihr Mandat als Bundestagsabgeordnete nieder. Und stürzt damit ihre Partei und die Bundesregierung in eine Regierungskrise.

Dass Andrea Nahles nicht in der Lage war, ihre Partei zu einen, die SPD sichtbar in der „Groko“ zu repräsentieren oder im Europawahlkampf zu überzeugen, das sind Tatsachen. Nur wäre ihr Rücktritt staatstragender gewesen, gäbe es in der SPD glaubwürdige Alternativen für den Parteivorsitz. Doch in der Führungsriege der SPD ziehen gerade alle den Kopf ein – die Partei befindet sich im freien Fall und dass niemand den Finger hebt, der keinen Fallschirm hat, ist auch verständlich.

Dass dies der Auftakt zum Ende der „Groko“ sein dürfte, da sind sich viele Beobachter einig. Die SPD spielt in der deutschen Politik nur noch eine untergeordnete Rolle, was keineswegs die alleinige Schuld von Andrea Nahles ist, sondern das Ergebnis einer ganzen Reihe Parteichefs und Spitzenkandidaten, denen allen nur zwei Dinge gemein sind: das Parteibuch und Wahlniederlagen.

Die SPD ein Looser-Verein? – Die SPD ist die Partei der deutschen Sozialdemokratie, einer Bewegung, die 150 Jahre alt ist und entscheidende Beiträge zur deutschen Gesellschaft geleistet hat. Die SPD war vor Ort, als die Monarchie abgeschafft und die Republik ausgerufen wurde, sie bekämpfte die Nazis und viele Sozialdemokraten bezahlten diesen Mut mit dem Leben, die SPD baute durch Willy Brandt die Brücken nach Osteuropa, über die heute die EU laufen kann – kurz, die Sozialdemokratie ist ein politisches Konzept, das seinen Platz in Deutschland hat. Doch jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem die SPD gar nicht mehr anders kann, als sich, ihre Struktur und ihre Programmatik zu hinterfragen. Und natürlich auch ihr farbloses Spitzenpersonal, aus dem eigentlich nur Kevin Kühnert und Katarina Barley mit so etwas wie einen eigenen, positiven Profil herausstechen. Doch Kühnert ist in der Logik der SPD zu links und zu jung und Barley ist ab sofort in Brüssel und Straßburg. Aber wer könnte dann die Führung der SPD in diesen kritischen Zeiten übernehmen?

Buchhalter Scholz? Einer der Alten-Herren-Riege Gabriel, Steinbrück, Schulz? Die farblose zweite Reihe mit Steger, Heil oder Lautenbach? Keiner von diesen Parteisoldaten verfügt über Charisma und Begeisterungsfähigkeit, doch genau das bräuchte die SPD, will sie nicht den Weg in die Versenkung antreten, so wie die Kolleginnen und Kollegen der französischen PS, die nur mit Ach und Krach über die 5 %-Hürde bei der Europawahl kamen und heute froh sind, wenigstens nicht ganz ohne Abgeordnete dazustehen. Mit „politischem Gewicht“ hat das nichts mehr zu tun.

Und so tritt nun die seltsame Situation ein, dass eigentlich alle Genossinnen und Genossen erleichtert sind, dass die unbeliebte Nahles das Handtuch wirft, doch das, was nach Nahles kommt, könnte durchaus noch schlimmer für die SPD werden.

Denn momentan gibt es in der SPD nicht einen einzigen Parteifunktionär, der das Format hätte, aus der Kleinpartei SPD wieder eine Volkspartei zu machen. Alle Namen, die seit der Ankündigung von Nahles’ Rücktritt die Runde machen, lösen zunächst die Frage aus „wer?“. Viele SPD-Mitglieder wünschen sich jetzt eine „Zwischenlösung“, vielleicht weil das Spitzenpersonal der SPD nicht viel mehr als eine „Zwischenlösung“ hergibt. Doch kurz vor der Frage, ob die SPD in der „Groko“ bleibt oder nicht, bräuchte die SPD eine starke Führungspersönlichkeit, will sie nicht bei vorgezogenen Neuwahlen selbst um die 5 %-Hürde zittern müssen.

Durch ihre Art der Parteiführung hat Andrea Nahles der SPD stark geschadet – die aktuellen 12 % in den Umfragen kommen nicht von ungefähr. Thematisch hat sich Nahles von den Grünen und der CDU die Butter vom Brot nehmen lassen, personell hat sie eine dringend benötigte Talentsuche verschlafen, als Führungspersönlichkeit irritierte sie mehr als zu begeistern. Und selbst bei ihrem Rücktritt hat sie es geschafft, alles falsch zu machen, was man falsch machen kann.

Nahles Rücktritt und die Art und Weise, in der er erfolgt, ist eigentlich nur die Aussage „leckt mich und seht halt zu, wie ihr ohne mich klarkommt“. Das klingt eher nach beleidigter Eifeler Leberwurst als nach einer verantwortungsbewussten Politikerin. Es wäre fairer gewesen, hätte Nahles ihrer Partei, aber auch der Bundesregierung, der die SPD immerhin noch angehört, ihren Ausstieg frühzeitig mitgeteilt, statt jetzt einfach das Zeug hinzuwerfen, „seht halt zu, wie ihr ohne mich klarkommt!“ zu bellen und alle zu zwingen, unter Druck neue Konstellationen zu entwerfen.

12 %. – Gerade noch 12 % wünschen sich die SPD in diesem Zustand in einer Regierung. Dass an diesem historischen Tiefpunkt gehandelt werden muss, ist klar. Aber vielleicht doch lieber mit ein wenig Zielführung?

Angesichts der Implosion der Sozialdemokraten ist klar, dass die SPD nicht länger in der „Groko“ bleiben kann, sie hat dafür überhaupt keinen Wählerauftrag mehr. Vielleicht hatte Martin Schulz doch Recht, als er unmittelbar nach der Bundestagswahl 2017 mit der SPD für eine Legislaturperiode Opposition und Sich-neu-aufstellen aus der Regierung heraushalten wollte. Blöd, dass ausgerechnet der übliche Mehrheitsbeschaffer FDP nicht den Mehrheitsbeschaffer spielen wollte und die SPD damit zwang, doch wieder eine Angela-Merkel-Mehrheit mitzutragen. Doch nun, zwei Jahre später ist klar, dass die SPD als Juniorpartner der CDU keinen Stich mehr bekommt, schon gar nicht mehr zu einem Zeitpunkt, da auch die CDU schwächelt und die Wähler scharenweise entweder zu den Grünen oder aber zu den Neonationalisten wechseln.

Also dürften Deutschland, ähnlich wie Österreich und anderen europäischen Ländern, demnächst Neuwahlen ins Haus stehen. Das ist keine gute Nachricht, denn mitten in einer Phase, in der in ganz Europa das politische Establishment zusammenbricht, ohne dass eine sinnvolle Alternative zur Debatte steht, bedeuten diese Neuwahlen erneutes Chaos. Man sollte jetzt der „grünen Welle“, die durch ganz Europa schwappt, eine Chance geben – vielleicht schaffen es die Grünen, in Zusammenarbeit mit den anderen demokratischen Parteien, der Politik ein neues Gesicht zu geben. Die Zeit der alten Seilschaften ist hingegen endgültig vorbei. Je früher man das in den Parteizentralen merkt, desto höher sind ihre Überlebenschancen. Diejenigen Parteien, die diese Umbrüche nicht aktiv mitgestalten und sich auf diese einstellen, die braucht allerdings auch wirklich niemand mehr.

Man darf gespannt sein, wer die undankbare Aufgabe als Nachfolger oder Nachfolgerin von Andrea Nahles antritt. Obwohl, vielleicht ist diese Aufgabe gar nicht so schwierig. Viel schlechter als Nahles kann man es ohnehin nicht machen und viel tiefer als heute kann die SPD eigentlich auch nicht mehr sinken. Oder?

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