Angst essen Seele auf

Aggressivität, Beleidigungen, Ausgrenzungen, Drohungen – das ist die Realität 2021 in den Sozialen Netzwerken. Doch sollte man nicht nur auf die Symptome schauen, sondern die Ursachen analysieren.

Wenn sich die Menschen gegenseitig niedermachen, passt das einigen gut ins Konzept... Foto: Jan Brueghel der Ältere, Kunsthistorisches Museum Wien / Wikimedia Commons / PD

(KL) – Wenn ein französischer Regionalrat in einem Kommentar auf einen Artikel schreibt „Die Nicht-Geimpften sind Schuld an der Pandemie“, dann erkennt man, wohin momentan die Reise geht. Wir alle lesen diese Art von Kommentaren täglich, gespickt mit Beleidigungen, in denen Geimpfte die Nichtgeimpften als geistig minderbemittelt verunglimpfen und umgekehrt Nicht-Geimpfte die Geimpften als „Schafe“ und anderes beleidigen. Doch diese Aggressivität, mit der die beiden inzwischen getrennten Bevölkerungsgruppen miteinander umgehen, hat Gründe. Daher lohnt es sich zu versuchen zu verstehen, was ansonsten vernünftige Menschen dazu bringt, gegenseitig aufeinander einzuprügeln, statt einen konstruktiven Dialog zu führen.

Beide Bevölkerungsgruppen, sowohl die Geimpften als auch die Nicht-Geimpften, werden von Angst getrieben. Die Nicht-Geimpften müssen gerade mit Drohungen (Verlust des Arbeitsplatzes, Ausschluss vom gesellschaftlichen Leben, Ächtung als „egoistische Vaterlandsverräter“) umgehen, während die Geimpften mit einer subtileren Angst zu kämpfen haben, nämlich der Angst, eventuell einen Fehler gemacht zu haben. Diese Gemengelage ist hoch explosiv und die verbale Gewalt, die sich innerhalb kürzester Zeit etabliert hat, kann schon bald in andere Formen der Gewalt umschlagen.

Wer heute nicht geimpft ist, gehört inzwischen zu den „Parias“ der Gesellschaft. Wer Fragen stellt, wer Zweifel anmeldet, wer gar gegen die verhängten oder kommenden Maßnahmen ist, zählt inzwischen dank einer gezielten Kommunikation der Regierungen zu denjenigen, die unser aller Volksgesundheit gefährden, so zumindest der politische Diskurs, der von vielen unreflektiert übernommen wird. Viele Nicht-Geimpfte meiden inzwischen öffentliche Debatten und haben sich in geschlossene Gruppen mit Gleichgesinnten zurückgezogen. Diesen Mechanismus findet man übrigens in der Entstehungsgeschichte praktisch aller totalitären Systeme der Neuzeit wieder. Doch wenn sich ganze Bevölkerungsschichten aufgrund ihrer Meinungen verstecken müssen, dann haben wir bereits rote Linien überschritten, die eine Demokratie nicht überschreiten darf. Dass die Nicht-Geimpften inzwischen nicht nur Angst und Zweifel aufgrund der Impfungen haben, sondern ebenso viel Angst vor den aggressiven Verhaltensweisen ihrer Mitmenschen, das ist mehr als bedenklich.

Auf der anderen Seite sind die Geimpften, deren Ängste und Zweifel subtiler sind. Die Vehemenz, mit der viele Geimpfte heute ihre „Wahrheit“ verkünden, dass einzig die Verabreichung von Impfstoffen der Königsweg ist, zeigt nur, dass auch Geimpfte Zweifel haben, ob sie tatsächlich das Richtige getan haben. Das ist verständlich, denn täglich erreichen uns neue Informationen, die das absolute Credo in die Impfkampagnen erschüttern. Nicht zuletzt der Umstand, dass inzwischen klar ist, dass es mindestens dritte Impfdosen geben muss, da die bisher verimpften zwei Dosen zum Teil wirkungslos sind. Um dies nicht hinterfragen zu müssen, brüllen viele Geimpfte nun ihre „Wahrheit“ in die Welt, dass alle diejenigen, die sich nicht wie man selbst haben impfen lassen, „Volksverräter“ sind – das ist nämlich beruhigender als sich die Frage zu stellen, ob man Recht hatte, sich impfen zu lassen. Die eigenen Zweifel lassen sich am besten ausräumen, indem man alle anderen, die ihre Zweifel öffentlich äußern, beleidigt, beschimpft, bedroht und zu „Feinden“ erklärt.

Schaute bislang die Bevölkerung gemeinsam, wie unsere Regierungen die Pandemie managen, sind die politischen Entscheidungsträger inzwischen aus dem Schneider. Dadurch, dass man zwei große Bevölkerungsgruppen aufeinander hetzt, lenkt man die Aufmerksamkeit, aber auch die Verantwortung für das Geschehen weg von der politischen Entscheidungsebene. Das erkennt man beispielsweise in der völlig verantwortungslosen Aussage dieses französischen Regionalrats, nach der „die Nicht-Geimpften für die Pandemie verantwortlich sind“. Abgesehen davon, dass diese Aussage natürlich grundlegend falsch ist, zeigt sie die Strategie der Politik. Sollen sich die Leute doch gegenseitig die Köpfe einschlagen, so lange kritisieren sie wenigstens nicht die politischen Entscheidungsträger…

Angst ist ein schlechter Ratgeber. - Denn sie verhindert eine konstruktive Auseinandersetzung mit einer Problematik, die uns seit anderthalb Jahren das Leben schwer macht. Wir haben es mit einer Pandemie zu tun, die Millionen Menschen getötet hat und die meisten von uns haben Kranke und oft auch Tote im persönlichen Umfeld zu beklagen, wenn wir nicht bereits selbst von der Krankheit betroffen waren. Dass dies Angst macht, ist mehr als verständlich.

Zu dieser existentiellen Angst auch noch die Angst vor gesellschaftlichem Ausschluss hinzugefügt zu haben, die Angst vor Ächtung, Aggression und Schlimmerem, ist seitens der politisch Verantwortlichen noch wesentlich schlimmer als das (nachvollziehbare) Versagen im Management einer in dieser Form unbekannten Pandemie.

Doch der Bruch durch unsere Gesellschaften ist so blitzartig eingezogen worden, dass es schwierig wird sich vorzustellen, über welche Wege und Maßnahmen wieder ein konstruktiver Dialog in der Gesellschaft hergestellt werden kann. Und somit haben wir es ab sofort nicht nur mit einer schlimmen Krankheit und deren Entwicklung zu tun, sondern auch mit der Auseinandersetzung zwischen zwei großen Bevölkerungsgruppen, die sich gegenseitig für die aktuelle Entwicklung verantwortlich machen und deren Bereitschaft steigt, die jeweils andere Gruppe auch mit Gewalt von der eigenen „Wahrheit“ zu überzeugen. Dabei verfügt heute niemand, aber wirklich niemand, über die „Wahrheit“. Doch das einzuräumen, das schafft kaum noch jemand. Also brüllt man, beleidigt man, droht man und vertieft damit täglich weiter diesen hoch gefährlichen Bruch, der mitten durch die Gesellschaft verläuft. Der große Regisseur Rainer Werner Fassbinder hat dies in einem Filmtitel zusammengefasst: „Angst essen Seele auf…“

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