Applaus tut gut – und doch so weh…

Vor einer Woche war es so weit, das kulturelle Leben durfte wieder zurück ins Leben. Und tatsächlich: Die Öffnung der Theater ging reibungslos über die Bühne. Nun also schon die zweite Woche – Alltag im Straßburger Kulturbetrieb.

Dimitri Schostakowitsch komponierte zum Weltkriegsende seine Neunte - mit ihrer Freude über den Frieden erzürnte er die Mächtigen und die sich dafür hielten. Foto: Unbekannter Autor / Wikimedia Commons / PD

(Michael Magercord) – Der erste Takt im Opernhaus war kaum erklungen, da wurde es schon überdeutlich: Da klaffte eine Lücke im Leben all die Monate. Man hatte beim Durchforsten der Plattensammlung schon begonnen, das bloße Anhören der aufgezeichneten Meisterwerke ebenso für ein Kulturereignis zu halten – aber nein, schon die erste wahrhafte Aufführung erinnerte daran, dass die unmittelbare künstlerische Darbietung unter Menschen eben doch eine gewichtige Dimension seiner Kultur ist.

Die konzertante Darbietung der „Alcina“ von Georg Friedrich Händel in der Rheinoper machte den Anfang – und was für einen! Gesang und Musik auf höchsten Niveau und dazu eine Geschichte, deren Ausgang geradezu auf das Ende des Lockdowns zugeschnitten ist: Das Zauberreich der Alcina, in dem die Menschen zu untätigen Pflanzen oder willensfreien Tieren verwandelt wurden, löste sich auf und das Leben beginnt von Neuem, zuerst mit vorsichtig wiedergewonnen Gesten, bevor es dann wieder seine Normalität zurückgewinnt.

Das gilt auch für die Zuschauer. Ohne Inszenierung war es ein erstes Herantasten an der Bühnenkunst. Gut so, denn sogleich wieder ihr volles Programm darzubieten hätte bei so manchen einen Verzauberungsschock auslösen können. Denn wie entwöhnt wir sind, zeigte sich am Schluss: Die Handflächen schmerzten beim Applaudieren – wo sind sie bloß geblieben, die über viele Jahre des wilden Klatschens gepflegten Hornhäute? War es zum letzten Mal vor einem guten Jahr auf den Balkonen? Der große stürmische Applaus blieb jedenfalls erst einmal aus, was aber nichts an der Berührung durch die Kunst änderte. Vielleicht erwächst daraus die Erkenntnis, dass gerade der stürmische Anteil im Applaus eher für sich selbst bestimmt ist: Ich bei dabei gewesen, Bravo! Ob das auf den Balkonen, von denen herab die Pflegekräfte beklatscht wurden, nicht auch ein wenig so war?

Wem auch immer der Applaus gelten wird, hier ist er richtig: „Alcina“ wird noch zweimal in der Rheinoper, dann in Colmar und Mülhausen gesungen und gespielt, und schon am Freitag wird der Star-Bariton Matthias Goerne ein Rezital geben mit den zauberhaften Wesendonck-Liedern von Richard Wagner, vier Stücken von Richard Strauss und einem Zyklus von Hans Pfitzner. Ja richtig, Hans Pfitzner, der einstige Chef des Städtischen Konservatoriums und des Symphonieorchesters von Straßburg sowie musikalische Leiter der Oper der Stadt, in der er die Monumentaloper „Palestrina“ komponiert hatte. Jener Hans Pfitzner also, der später wegen seiner umstrittenen Rolle in der NS-Kulturpolitik über Jahrzehnte kaum mehr gespielt wurde. An ihm entzündete sich ein Streit, der heutzutage – wenn auch aus anderen Gründen – wieder aufgeflammt ist: Lässt sich das Werk vom seinem Schöpfer trennen, existiert die Kunst unabhängig von den Menschen, die sie in die Welt gebracht hat?

Das zu beantworten ist ebenso schwer wie jene Frage, ob die Kunst die Kraft hat, einen besseren Menschen oder gar eine bessere Gesellschaft zu formen. Die Antwort auf beide Aspekte wird sich danach ausrichten, worin man die Aufgabe der Kunst ansiedelt: Hat sie vornehmlich eine gesellschaftliche Funktion oder soll sie eher dem einzelnen Menschen dienen, sei der nun Künstler oder Kunstkonsument? Schon heute Abend und am Freitag darf man sich in bester Umgebung genau damit beschäftigen – wenn man denn will. Natürlich kann man es auch einfach genießen, wenn die Straßburger Philharmonie OPS dann im Palais de la Musique et Congrès endlich wieder groß aufspielt: einmal nämlich mit dem 2. Klavierkonzert von Sergej Rachmaninow und danach mit einem Werk, das auf seine Weise – wie schon Alcina – dem Ende einer entbehrungsreichen Zeit angemessen ist, die neunte Symphonie von Dimitri Schostakowitsch.

Einfach nur wunderbare Musik, und trotzdem: diese „Neunte“ aus dem Jahre 1945 rüttelt an der Frage nach dem Verständnis der Kunst. In der siegreichen Sowjetunion galt es, das Kriegsende gebührend zu würdigen. Stalin selbst, heißt es, habe beim wichtigsten Komponisten des Landes dieses Werk eingefordert, hatte doch dessen gewaltige Leningrader Symphonie aus dem Jahre 1942 viel zum Ansehen Russlands vor allem in den USA beigetragen. Stalin erwartete von Schostakowitsch einen großen, wuchtigen Wurf. Der gewaltige Sieg sollte bejubelt, den Opfern gedacht und der große Führer beweihräuchert werden. Herausgekommen ist ein kaum halbstündiges, groteskes und heiteres Musikstück, das so gar nicht dem Totengedenken und der Trauer zu dienen vermag oder die Unermesslichkeit der Aufopferung im Großen Vaterländischen Krieg feierlich begeht, sondern die persönliche Erleichterung über das Ende der harten Zeiten und die einfache menschliche Fröhlichkeit und Hoffnung auf einen hoffentlich friedlichen Neubeginn in Töne setzt.

Stalin, der bei der Uraufführung anwesend war, zeigte sich derart erbost, dass Schostakowitsch bis zu dessen Tod keine weitere Symphonie mehr gewagt hat, und die regime-eigenen Kritiker fragten noch am Premierenabend erschüttert: „An wen dachte der grässliche Zwerg Schostakowitsch, als er in der neunten Symphonie einen leichtsinnigen Ami abbildet, statt ein Bild des siegreichen sowjetischen Menschen zu schaffen?“

Und was sollte die Kunst nun in unseren Nach-Corona-Zeiten abbilden? Etliche Tendenzen, die sich zuvor schon zeigten, sind während der Pandemie verstärkt worden, vieles was zuvor in der Gesellschaft rumorte, trat offen zutage. Stichworte zum Aufzeigen der Konfliktzonen mögen genügen: jung-alt, arm-reich und in besonders eigenartiger Heftigkeit der Identitätseifer aller Couleur. Alle diese Debatten, die sich ausgerechnet in dieser kunstfreien Lockdownzeit noch besonders zugespitzt haben, kreisen um ein Bild von einem idealen neuen Menschen, und oft wird unverholen gefordert, nicht wenige unter ihnen mögen sich schleunigst ändern und an dieses Bild anpassen. So, wie ja auch der sowjetische Mensch einstmals neu geschaffen werden sollte…

An wen also hatte der grässliche Zwerg Schostakowitsch bei seiner neunten Symphonie gedacht? Versuchen wir eine Antwort: an uns. An den Menschen nämlich, der sich einfach freut und erleichtert ist, wenn eine Last und eine Verantwortung von ihm abfällt – und damit an uns alle, die wir unsere Übersinne streicheln lassen müssen, um wieder zu erleben, was einen ganzen Menschen – cim Guten wie im Schlechten – ausmachen kann. Und wenn es besondes gut läuft alles zusammen passt, die Kunst, das Erleben und die Poesie, dann darf man ruhig Klatschen bis es weh tut, selbst wenn dieser Applaus zum guten Teil sich selbst gilt.

KONZERT der Straßburger Philharmoniker OPS
DO 27. und FR 28. Mai um 18.30 Uhr im PMC

2. Klavierkonzert von Rachmaninov
9. Symphonie von Schostakowitsch.
Dirigent: Marko Letonja
Klavier: Simon Trpceski

Kartenbestellung Mo – Fr 9.30 bis 17 Uhr ausschließlich telefonisch unter:
0033 – (0)3.68.98.68.15
Bei Überlastung die eigene Nummer unter dieser E-Mail hinterlassen: orchestrephilharmonique@strasbourg.eu

REZITAL mit Matthias Goerne
Opéra Strasbourg
FR 28. Mai um 19 Uhr
Lieder von Hans Pfitzner, Richard Wagner und Richard Strauss

ALCINA – Konzert nach der Oper von Georg Friedrich Händel
Dirigent: Christopher Moulds
Symphonieorchester Mülhausen

Straßburg – Opéra
DO 27. Mai, 18.30 Uhr
SA 29. Mai, 15 Uhr

Colmar – Théâtre municipal
SA 5. Juni, 18.30 Uhr

Mülhausen – La Sinne
SO 13. Juni, 15 Uhr
DI 15. Juni, 20 Uhr

Infos und Tickets hier: www.operanationldurhin.eu

Ab FR 18. Juni: Madame Butterfly von G. Puccini

Nicht zu vergessen, das Konservatorium hat den Betrieb wieder aufgenommen.
Fast alle Veranstaltungen sind gratis, aber nur unter telefonischer Anmeldung ist der Zugang derzeit möglich.

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