Atmosphärische Störung: Occupy your streets!

Die Städte waren lahmgelegt und ihre Bewohner wurden zu Ghettokindern. Aber die Fragen, die zuvor die urbane Lebensform bedrängten, werden mit der Wiederbelebung der Häuserschluchten mit aller Macht zurückkehren – reden wir drüber. Und zwar am Sonntag im Deutschlandfunk.

Die Urgewalt der Macht - das Europäische Parlament dräut über den Dächern von Ungemach, dem Modell-Arbeiterviertel aus den 20er Jahren. Foto: (c) Michael Magercord

(Red/MM) – Wer seine Stadt Heimat nennt und sich auf sie einlässt, ist so manches Mal verlassen. Kaum irgendwo Wurzeln geschlagen, wird schon wieder was weggerissen oder neugebaut. Oder verändert sich die Nutzung der Gebäude. Auch nicht besser, im Gegenteil, gibt doch erst die Nutzung der Architektur ihren Sinn. Jedenfalls wenn es nach dem Philosophen Mickaël Labbé geht, der – gerade noch bevor wir fast alle Daheim festgesetzt wurden – seine Sicht auf die heutige Architektur und Stadtplanung für den Deutschlandfunk darlegte.

Da saßen wir also fast alle fest, zuhause und dazu noch in unseren Stadtvierteln. Und vielleicht haben wir unsere engere Umgebung noch nie zuvor so genau ins Auge gefasst, so intensiv wahrgenommen, ist uns so vieles aufgefallen, was wir zuvor nie wirklich beachtet hatten – positiv, wenn wir plötzlich, wo die Straßen nicht mehr ausschließlich dem Auto gehören, in unserer neu entdeckten Muße vielen Kleinoden gewahr wurden, schlichte Schönheit oder Dinge, die uns anheimlnd berühren; negativ, wenn man nun der Gewalt gewahr wird, mit der meist in jüngerer Zeit in einstmals gewachsene Ortsstrukturen eingegriffen wurde, ohne sich augenscheinlich den geringsten Gedanken um die Umgebung zu machen. Und schwups stellen wir fest: Die uns umgebende Architektur hat mehr Einfluss auf uns und unser Befinden, als wir vielleicht bisher vermutet hatten.

„Wir errichten die Gebäude, aber über die Zeit betrachtet, sind es letztlich eher sie, die uns prägen“, hatte Winston Churchill einst gesagt. „Architektur ist Ursache und Wirkung zugleich. Gebäude sind menschliche Produkte, in denen sich der Geist einer Epoche verwirklicht und dessen Spuren sie konservieren, sodass sich dieser Geist dann in unser Gedächtnis einschreibt“, sagt nun Mickaël Labbé, Professor an der Philosophischen Fakultät der Universität von Straßburg, „Architektur konstruiert unsere Welt und sorgt dafür, dass wir eine Gemeinschaft sind. Es ist natürlich nicht einzig und allein die Architektur, die dieses Gefühl der Dauerhaftigkeit und Identität erzeugt. Doch sie ist eben auch nicht nichts: Sie hat eine große Macht.“

Architektur ist, bemüht man das Wort eines anderen Straßburger Gelehrten, Maurice Halbwachs, unser „kollektives Gedächtnis“, zumindest seine Gedächtnisstütze. Beispiel Straßburg: Das Münster etwa schreibt Traditionen fest, für die wir mithilfe dieses Gebäudes heute noch empfänglich sind. Oder die Schönheit des preußisch-wilhelminischen Viertels Neustadt berührt uns und wird ein Teil von uns, selbst wenn wir, wie auch Mickael Labbé, „nicht hier geboren worden sind oder Elsässisch sprechen“.

Aber natürlich sind auch andere Mächte in unseren Städten am Werk. Mächtige Mächte, die historische Orte zu puren Marketing-Produkten machen. Die Städte werden auf ein Image reduziert, das man Investoren, Touristen oder der kreativen Klasse verkauft: „Selbst die wunderschönsten Orte werden hässlich, wenn wir darin Dinge tun, die hässlich sind“. Der Philosoph sieht uns, die Bewohner und Besucher, in der Pflicht: „Architektur hat eine Schönheit, zu der wir etwas beitragen müssen, beitragen durch unsere Nutzung“. Nur weiß auch er, dass es ja so einfach gar nicht ist, sein bisschen Tun gegen mächtige Einflüsse zu verteidigen. Es fehlt schon am Wesentlichen: einer Diskussionsgrundlage zwischen jenen, die Bewahren wollen, und jenen, die es für ihre Interessen nutzen oder gar gewaltig umbauen wollen.

Immerhin bietet uns die Philosophie eine Möglichkeit an, wieder darüber, worum es wirklich geht, ins Gespräch zu kommen. Am Anfang steht die einfache Aussage: Hier fühle ich mich wohl – und dann reden wir darüber, was Architektur oder Stadtplanung tatsächlich tut, nämlich eine körperlich und seelisch wahrnehmbare Atmosphäre schaffen. Und nähme man diese Wahrnehmung ernst, könnte daraus sogar folgen, ein Projekt, das möglich und vielleicht wirtschaftlich interessant wäre, auch einmal zu unterlassen und eine Umgebung so zu belassen, wie sie ist.

Nicht das schlechteste, denn Architektur ist nun einmal omnipräsent, sie umgibt uns jeden Tag, wir können ihr nicht entrinnen. Damit stellen Architektur und Stadtplanung immer auch die Machtfrage – und für den Philosophen ist damit klar, Architektur ist Philosophie, denn sie beruht auf ihrer wichtigsten und nach wie vor ungeklärten Frage: Was ist der Mensch? „Architektur basiert immer auf einer bestimmten Vorstellung davon, was das ist: der Mensch. Welche Bedürfnisse hat ein Mensch? Architektur ist somit räumliche Philosophie, sie unterliegt immer einem bestimmten Menschenbild, selbst dann, wenn wir glauben, wir lösten mit unseren Bauten nur ein technisches Problem oder schaffen eine schöne, erhabene Geste“.

Allerdings ist Vorsicht geboten, denn die tatsächliche Entwicklung entspricht oftmals so gar nicht den hehren Absichten ihrer Bauherren, und meist gerade dann, wenn sie sich an einem festgezurrten Menschenbild orientiert. Denn hatten nicht gerade Architekten wie Le Corbusier wieder den Menschen und seine vermeintlichen Bedürfnisse zum Maß genommen? Dabei herausgekommen sind dann die großen Wohnsiedlungen, die heute in unseren Städten oft zu sozialen Brennpunkten geworden sind. Maßnehmen am Menschen, bevor man weiß, was das ist, der Mensch? Vielleicht sollte man heute auch in Anbetracht der zukünftigen Erfordernisse in den zunehmend heißeren Städten den Maßstab anderswo ansetzen, etwa an den Bedürfnissen der Natur, die ja letztendlich auch jene der Stadtbewohner sind.

Mickaël Labbé formuliert es so: „Die Stadt ist Natur“, und sieht eine Verlangsamung des Städtebaus voraus. Alles wird einfacher und genügsamer, neue Gebäude müssen schnell wieder rückbaubar zu sein. Doch zunächst gilt es wirklich zu nutzen, was schon da ist, bevor wieder mehr zubetoniert und bebaut wird. Und, man muss es hinzufügen, der Weg der Entscheidungsfindung in städtebaulichen Fragen wird sich ebenfalls anpassen müssen. Weniger die wirtschaftlichen Interessen als vielmehr die Menschen vor Ort sollten auf gewichtige Mitsprache pochen. Oder in Worten des Philosophen: eine Rückeroberung des unmittelbaren Umraumes stünde nun an.

Bisher zeigt sich der Bürgerprotest irgendwo im Wald, auf öffentlichen Plätzen oder gar auf Verkehrskreiseln, aber nicht dort, wo die Menschen wirklich leben. Dort nämlich, „wo wir unseren Alltag verbringen, wo wir wohnen, arbeiten, einkaufen gehen oder wohin wir unsere Kinder bringen, also an dem Ort, wo es uns so schlecht geht, dass wir ihn verlassen, um anderswo dafür zu streiten, dass es uns besser gehen möge“. Die Gegner, denen es sich entgegenzustellen gilt, wollen Orte in ihren Besitz bringen und die Menschen in Waren verwandeln, sagt Mickael Labbé, man müsse also auch zuerst auf dem lokalen Niveau agieren und seinen Protest äußern, um so eine größere Macht über den Ort erlangen, an dem man bereits ist – kurz: „Occupy your streets statt Occupy Wallstreet“.

Ob man nun diese Zeit des Stillstands und der Besinnung auf das eigene Stadtviertel als Schub zu einer eher basis-demokratischen Stadtplanung nutzen kann? Betrachtet man einmal mehr die mächtige Architektur, ist zumindest Skepsis ist angebracht. In Straßburgs Norden steht das gewaltige Gebäude des Europäischen Parlamentes und mit ihm stellt sich die Machtfrage der Architektur. Einst im Symbolismus der modernistischen Bildsprache der Demokratie mit einer transparenten Glasfassade errichtet, ist es nun mit den Sicherheitsmaßnahmen zu einem abgeschlossenen Bunker geworden, der das Gegenbild einer repräsentativen Demokratie vermittelt.

Doch damit nicht genug, denn seit der Umsetzung des Archipel-Projektes und dessen Bürotürmen von großen Firmen in unmittelbarer Nähe des Parlaments, läuft es nicht nur symbolisch schief: „Diese räumliche Nähe einer europäischen Institution zu den großen wirtschaftlichen Investoren weist nicht auf eine größere demokratische Öffnung hin“. Es sieht eher danach aus, als dass die Ungleichheit von Geld und Macht die wesentlichen Faktoren bleiben, nach denen sich unsere Umräume gestalten. Kein gutes Zeichen in den Augen des Architekturphilosophen Mickaël Labbé, ist doch die Gestaltung unseres Raumes eine der Ursachen für die derzeitige Krise der demokratischen Repräsentation: „Ein Slogan, den man Parlamentariern entgegenhält, lautet ja: Ihr repräsentiert uns nicht mehr! Aber zuvor sind die Stadt und der Raum zu dem geworden, das uns nicht mehr repräsentiert“.

Atmosphärische Störung – gegen eine Architektur der Verachtung
Ein Gesprächs-Essay mit Mickaël Labbé
Essay und Diskurs – Deutschlandfunk, 10. Mai, 9.30 Uhr

Vorankündigung zur Sendung HIER!

Die Sendereihe und den Zugang zur Audiodatei finden Sie HIER!

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