Aufarbeitung oder Bauernopfer?

Gegen die frühere französische Gesundheitsministerin Agnès Buzyn wurde ein Verfahren wegen ihres Verhaltens zu Beginn der Pandemie eröffnet. Das lässt aufhorchen.

Gegen die frühere Gesundheitsministerin Agnès Buzyn wurde ein Untersuchungs-Verfahren eingeleitet. Foto: Amélie Tsaag Valren / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – Die Pandemie ist mit ihrer vierten Welle in vollem Gang und da verwundert es, dass sich plötzlich die frühere Gesundheitsministerin Agnès Buzyn im Mittelpunkt eines Verfahrens befindet, das der Gerichtshof der Republik eingeleitet hat, das einzige Gericht Frankreichs, das Anklage gegen Mitglieder der Regierung erheben kann. Die Anklage ist durchaus heftig: „Gefährdung des Lebens Dritter“, „Nichtergreifen von Maßnahmen angesichts einer Bedrohung“ und andere Dinge werden ihr vorgeworfen. Die Luft wird dünn für die ehemalige Ministerin, die nach ihrem Rücktritt noch versuchte, als Kandidatin den OB-Sessel der Hauptstadt Paris zu erobern.

Im Januar 2020 erklärte die damalige Gesundheitsministerin, zu einem Zeitpunkt, als die Pandemie bereits seit einiger Zeit in China und anderen Ländern unterwegs war, „dass die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Virus auch nach Frankreich kommt, vernachlässigbar ist“. Später räumte sie in einem Interview ein, dass sie zu diesem Zeitpunkt bereits informiert war, dass die Pandemie auch Frankreich treffen würde und dass sie den Präsidenten und den Premierminister entsprechend informiert habe. Folglich waren ihre öffentlichen Beschwichtigungen („Vielleicht wird es einen Fall in Frankreich geben“) nichts anderes als „Fake News“, mit denen die Bevölkerung davon abgehalten wurde, sich gegen die ankommende Pandemie zu schützen. Auch das Tragen von Masken erklärte die Ministerin für überflüssig – und sorgte somit dafür, dass die Franzosen sehenden Auges in die Pandemie stolperten.

Auch, wenn das Untersuchungs-Verfahren in Frankreich für viel Aufsehen sorgt, so könnte man meinen, dass der Zeitpunkt dafür kein Zufall ist. Angesichts von mehr als 14.000 Klagen, die gegen verschiedene Regierungsmitglieder eingereicht wurden, ist das Verfahren gegen Buzyn eine Nagelprobe für das Dekret, mit dem sich die Regierung selbst Straffreiheit für schlechtes Management der Pandemie zugesichert hat, außer in Fällen grober Fahrlässigkeit oder gar mutwillig begangener Fehler. Dass Mutwilligkeit oder grobe Fahrlässigkeit nachweisbar sein sollen, ist unwahrscheinlich. Eine Niederschlagung des Verfahrens oder ein Freispruch wäre gleichbedeutend mit einem „Persilschein“ für die anderen Regierungsmitglieder, gegen die ebenfalls Klagen eingereicht wurden. Und sollte Buzyn wider Erwarten doch verurteilt werden, dann wissen die anderen Beklagten, dass sie ihre Strategien noch anpassen müssen.

Das Untersuchungsverfahren gegen Buzyn ist noch nicht gleichbedeutend mit einer Anklageerhebung. So hat sie in Teilbereichen des Verfahrens den Status einer „mit Rechtsbeistand unterstützten Zeugin“ („témoin assisté“), der bereits darauf hinweist, dass sie mehr oder weniger unbeschadet aus dem Verfahren herauskommen könnte.

Allerdings ist unglaublich, dass die ehemalige Ministerin nach ihrem Totalversagen in der ersten Phase der Pandemie noch für den OB-Sessel in Paris kandidierte, als ob nichts gewesen wäre. Doch in einem Land, in dem der Verantwortliche für den Skandal der kontaminierten Blutkonserven Laurent Fabius wenige Jahre später Vorsitzender des Verfassungsrats werden kann, ist auch die Unverfrorenheit einer Agnès Buzyn nicht verwunderlich. Und einmal mehr wird deutlich, dass Frankreich dringend zum Ende der V. Republik kommen und eine VI. Republik einrichten muss, in der die neofeudalen Züge eines anachronistischen Politiksystems endlich beseitigt werden.

Aufarbeitung oder Bauernopfer? Vermutlich keines von beidem. Eher schon „Test der Vorkehrungen, mit denen die Regierung unbeschadet aus dem katastrophalen Pandemie-Management herauskommen will“.

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