Baden-Württemberger sind auch Briten
Wie sinnvoll Volksabstimmungen sind, sieht man aktuell nicht nur in Großbritannien. Auch im Ländle haben wir unsere Erfahrungen mit dem Sinn solcher Entscheidungen. Es spricht nur kaum jemand darüber.
(KL) – Was können wir uns gerade über die blöden Briten amüsieren, die den so offensichtlichen Lügen der Organisatoren des Brexit-Referendums 2016 auf den Leim gegangen sind! Es war doch völlig klar, dass die Aussagen der Brexit-Kampagne, man würde jede Woche 350 Millionen Pfund ins nationale Gesundheitswesen pumpen, gar nicht stimmen konnten! Aber Hand auf’s Herz, viel schlauer als die Briten sind wir im Ländle auch nicht. Im November 2011 sind 58,8 % der Baden-Württemberger auch dem Märchen auf den Leim gegangen, man könne einen pharaonischen Tiefbahnhof mit jeder Menge Infrastruktur für 2,8 Milliarden Euro bauen und dass sich irgendjemand dafür interessieren würde, dass es ein so genanntes „Kündigungsgesetz“ gibt, das besagt, dass das Land aus dem Projekt aussteigt, wenn eine Kostenobergrenze von 4,5 Milliarden Euro überschritten würde.
Inzwischen besagen bahninterne Berechnungen, dass sich die Kosten am Ende auf rund 11 Milliarden belaufen werden, andere Berechnungen gehen von 10 Milliarden aus. Natürlich nur, wenn ab jetzt alles bei diesem Projekt plangemäß klappt. Was in einem Projekt, in dem bis jetzt ungefähr nichts plangemäß gelaufen ist, relativ schwer zu glauben ist.
Brexit und S21 sind Projekte, die schwere Zweifel am Instrument des Volksentscheids aufkommen lassen. Denn Volksentscheide können nur so gut sein, wie die zugrunde liegenden Informationen gut sind. Doch sind diese Informationen nur selten „gut“, denn die öffentliche Meinung ist systematisch Manipulationen ausgesetzt ist. Hätten die Briten für den Brexit gestimmt, hätten sie im Vorfeld Kenntnis des „Yellowhammer-Berichts“ gehabt? Hätten die Baden-Württemberger für „S21“ gestimmt, hätte man ihnen gesagt, dass dieses Projekt mindestens 10 Milliarden Euro kosten und sich daher nie amortisieren wird?
Es gibt zahlreiche Beispiele für durch Lügen manipulierte Volksentscheide. Wie beispielsweise in der Schweiz, als es um das Verbot für den Bau weiterer Minarette in der Alpenrepublik ging. Die stramm konservativen und xenophoben Parteien hatten im Vorfeld dieser „Votation“ eine Stimmung im Land erzeugt, dass die Schweizer das Gefühl hatten, es gäbe in der Schweiz ungefähr so viele Minarette wie 3000er Berge und folgerichtig wurde der Bau weiterer Minarette durch die Vox Populi untersagt. Zum Zeitpunkt dieses Volksentscheids gab es in der gesamten Schweiz genau vier Minarette.
Die Schwarmintelligenz findet dort ihre Grenzen, wo sie der Manipulation ausgesetzt ist und es gibt praktisch kein Thema, zu dem nicht Interessensgruppen alle verfügbaren Mittel einsetzen, um Volkes Meinung in ihre Richtung zu drehen.
In Stuttgart regiert nun das Prinzip Hoffnung. Das völlig überzogene Projekt (es gab verschiedene, deutlich günstigere und umweltschonende Alternativkonzepte) muss weiterhin „unvorhergesehene Schwierigkeiten“ stemmen, wie beispielsweise starrköpfige Grundstückseigner, die nun vermutlich enteignet werden müssen, um weiterbauen zu können. Ebenso „unvorhersehbar“ waren bei den Tunnelbohrungen die Gips-Flöze im Berg, von deren Existenz man zwar wusste, doch vor denen man einfach die Augen schloss, um das Projekt durchzuboxen. Man muss kein Diplom-Geologe sein um zu wissen, dass Gips mit Wasser reagiert und das Gestein instabil macht. Und dass bei Tunnelbohrungen mit Wasser gearbeitet werden muss, das weiß man ebenfalls. Was an solchen Problemen unvorhersehbar ist, bleibt unverständlich.
Die Referendums-Demokratie, wie sie beispielsweise auch in Frankreich von den „Gelbwesten“ gefordert wird, ist also keine richtig gute Idee. Und wir sollten aufhören, die Briten und ihre dämliche Brexit-Entscheidung zu belächeln. Denn auch in uns steckt offenbar eine gute Portion Brite…
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