Belanglose Gehaltfülle – Halbzeit bei der „Dokumenta Pfifftiehn“

Alle fünf Jahre steigt in Kassel die größte Kunstausstellung Deutschlands, schon zum fünfzehnten Mal. Allerdings ist dieses Mal alles anders. Waren die 100-tägigen Riesenshows der modernsten Kunst bislang von bedeutungsvoller Gehaltlosigkeit geprägt, ist es nun genau andersrum – was nicht zuletzt der Antisemitismus-Skandal zeigt.

Documenta im Netzwerk einer Beziehungsaufstellung... Foto: © Michael Magercord 6. A

(Michael Magercord) – Der Skandal ist hausgemacht und war im Grunde unabwendbar. Denn er gründet im Ansatz dieser 15. Ausgabe der Documenta, die ganz international nur noch „fifteen“ genannt werden soll. Da hatte man nämlich zum ersten Mal die Gestaltung der Ausstellung komplett in die Hände eines Kollektivs aus der fernen Welt gelegt, und zwar aus dem muslimisch-hinduistischen Indonesien, hat aber irgendwie nicht bedacht, dass diese Macher dann auch ihre Sicht auf die Dinge mitbringen. Und dazu gehört eine andere Wahrnehmung der Konflikte dieser Welt und ihre Art der plakativen Beschreibung.

Die israelisch-palästinensische Dauerauseinandersetzung ist einer der kulturell und moralisch meistbetrachteten Konflikte unseres Zeitalters, der – egal von welcher Seite man ihn betrachtet – immer auch den David-Goliath-Mythos bedient. Da sind klischeehafte Zuschreibungen kaum zu vermeiden, wobei es dann zu großen Missverständnissen kommen kann, wenn sich die unterschiedlichen Sichtweisen an die Rollenverteilung in dem Mythenspiel machen. Wo darin die Grenze zum Antisemitismus überschritten wird, ist selbst in Israel nicht so klar. Der Soziologe Natan Sznaider aus Tel Aviv etwa wundert sich, dass man sich darüber wundert, dass in dieser Welt diese Grenzen jeweils sehr anders zogen werden: „Wenn man postkoloniale Künstler einlädt, postkoloniale Kunst zu machen, dann machen sie genau das“. Vieles davon sei kritisch gegenüber dem Westen und gegenüber Israel. Diese Unterschiede müsse die Documenta thematisieren, selbst wenn das schwierig sei.

Allerdings verläuft in Deutschland die Grenze zum Antisemitismus aus guten Gründen enger. Hätte man also hierzulande dieses Missverständnis von vornherein ausräumen wollen, hätte man von Anfang an einfach ehrlich und aufrichtig sein müssen: Ja, ihr Künstler dieser anderen Welt könnt bei uns machen, was ihr wollt, aber eben nur nach unseren Regeln! Wem das nun schon wieder nach zuviel innerem Widerspruch in der doch widerspruchsfreien Absolutheit globaler kultureller Maßstäbe klingt, dem sei versichert, dass mit dem Skandal die ganze Ausstellung eigentlich erst zu dem geworden, was sie anprangert: Ein Lehrstück kultureller Hegemonie und dem postkolonialem Umgang mit ihr. Und soviel sei an dieser Stelle schon mal verraten: Beides taugt nicht zur Kunst.

Natan Sznaider bringt es im österreichischen Nachrichtenmagazin auf den Punkt: Eine Öffnung gegenüber dem globalen Süden bedeute „möglicherweise eine Verschließung gegenüber anderen Sensibilitäten.“ Doch wenn die Documenta Weltkunst zeigen will, so der israelische Soziologe, könnten globale Kontroversen kaum ausgespart bleiben. Was tun? Wer sich seines moralischen Standpunktes allzu sicher ist, sollte sich vielleicht ab und an auch mal selbst infrage stellen: Worauf haben eigentlich wir eine vereinfachte Sicht, ohne sich ihrer gewahr zu sein? Immerhin kann uns diese Documenta daran erinnern, dass es den kulturellen Clash trotz regenbogener Beflaggung und Gendersternchenhagel in allen Broschüren eben doch noch gibt…

Ja ja, Klischees lauern eben überall – und wer sollte das besser wissen, als dieser alte weiße Mann, der nun diese Documenta 15 klischeefrei beschreiben will und doch nicht über den Skandal um klischeehafte Zeichnungen von israelischen Soldaten hinweggehen kann. Aber mal ehrlich: Wer für sich beansprucht, er wandele ganz ohne Klischees im Kopf durchs Leben, der werde Documenta-Künstler und werfe mit Werken und großen Worten um sich. Wer es aber nur zum Besucher gebracht hat, der darf nun all die Werke und Worte bestaunen, die da aus großer Ferne zu uns gekommen sind.

Etwa gleich am Eingang zum Kassler Fridericianum das Schlüsselwerk: ein Diagramm mit Selbstfindungsaufstellungen, in denen der Künstler in seinem eigenen Mittelpunkt steht, nun allerdings als Kollektiv. Das mündet in Kringeln mit gewichtigen Aussagen und Interdependenzpfeilen dazwischen – aber fürs Detail, schauen Sie doch einfach oben das Foto. Sie fragen sich nun, ob das auch Kunst ist? „Wer als weißer Mensch schweigt, ist in seinem Schweigen ein Gewalttäter“, ein andere Aussage. Worüber sollte er dann besser also reden? Über Macht und Machtgefüge, in denen er herrscht und zwar gewalttätig. Wenn das auch Kunst ist, bietet sie kaum einen Raum für Gemeinsamkeiten. Ja, diese Kunst ist sehr gehaltvoll und bleibt durch ihre berechenbaren Botschaften doch belanglos. Aber nicht nur der Raum für Gemeinsamkeiten wird in ihr eng, sondern mehr noch der Raum für die Poesie, diese sanfte Überwältigung, die ein Werk auszulösen vermag, das nicht nur plakativ daherkommt.

Schön, dass Kassel als Stadt der Museen noch soviel anderes bietet - zumal die Documenta über die ganze Stadt verteilt ist. Wer sich also als weißer oder wie auch immer Mensch schon nach botschaftsfreien Fettecken oder anderem Schabernack der 1970er Jahre sehnt, kommt spätestens in der Neuen Galerie bei den Beuys’schen Schlitten, die aus einem VW-Bus klettern, auf seine Kosten. Im Untergeschoss sind auch noch die nicht besonders revolutionären, aber sehr anrührenden Gemälde des Chefs des ersten Documenta-Chef von 1955, Arnold Bode, ausgestellt. Da ist er also, der Beweis, dass ich, der alte weiße männliche Documenta-Besucher, ein bürgerlich-passiver Kunstkonsument bin und vermutlich bis ans mittlerweile berechenbare Ende meiner Tage bleiben werde. Und als hätten mich die Documenta-Macher schon lange vorher ertappt, wird mir das schon ein Museum weiter im nächsten großflächigen Diagramm genau bescheinigt: Wer im bourgeoisen Kunstbegriff verharrt, hält damit die Machtstrukturen aufrechterhält, die einer gerechten postkolonialen Weltordnung im Wege zu stehen. Oh je, nun sind auch noch Ölschinken schuld…

Okay, ich gebe zu, so einfach machen es sich die Macher dann doch nicht. Und es gibt schöne Ideen, wie sich aus dem gemeinschaftlichen Zusammenwirken allseits profitieren ließe. Der interessanteste und vor allem konkreteste Ansatz dreht sich – wieder einmal – um die Künstler selbst. Eine neue Vermarktungsplattform für ihre Werke soll dafür sorgen, dass sie vom Verkauf profitieren und nicht die Händler, und darüber hinaus an nachträglichen Wertsteigerungen beteiligt werden. Alle profitieren, die sich zu dieser Gemeinschaft zählen dürfen. Auch die weniger gefragten Künstler werden über Ausgleichsmechanismen ebenfalls etwas davon haben, wenn ein anderer erfolgreich wird. Inspiriert sei dieser Ansatz dem traditionellen indonesischen Lumbung-Prinzip. Es wird nun zu beobachten sein, ob er taugt, die Spitzen des Marktes zu kappen und das Preisniveau auf ein vernünftiges Maß zu drücken. Oder ob sich daraus doch nur alte Privilegien für neue Privilegierte ergeben, wie so oft bei uns, in den bürgerlichen Gesellschaften des postindustriellen Zeitalters.

Vielleicht, sagt sich dieser alte weiße Mann sowieso schon länger, lohnt es sich eben doch, sich traditionell-erprobte Formen des Wirtschaftens und Umverteilens genauer anzuschauen, und zwar ergebnisoffen und mit so wenig Klischees wie möglich im Kopf – und möge dann auch dieser Austausch über die so wichtigen Ressourcen menschlichen Handelns über die kulturellen Grenzen hinweg besser gelingen, als auf dieser Documenta Pfifftiehn.

Documenta Fifteen
Ausstellungen an vielen Orten in der nordhessischen Stadt Kassel
noch bis 25. September 2022
Weitere Infos und Tickets finden Sie hier: www.documenta-fifteen.de

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