Bis zu den Löwen war es ein weiter Weg – Start in die Saison der Rheinoper

Die Saison der Rheinoper von Straßburg startet traditionsgemäß mit einem zeitgenössischen Werk, dessen Darbietung in das Festival Musica eingebunden ist. „Until the Lions“ allerdings war schon länger geplant, dann kam Corona. Doch nun werden die Löwen doch noch losgelassen.

Zu Pferde bis zu den Löwen, dem Sonnenuntergang entgegen - Until the Lions in der Rheinoper. Foto: Illustration Laura Junger / OnR

(Michael Magercord) – Ein Ausflug in die Oper macht wieder Mut, selbst wenn die Welt außerhalb der Bühne rau ist und ihre Aussichten duster. Und wer wollte bestreiten, dass unsere Zeiten besonders rau und duster sind. Also ab in die Oper und dort die so einfache wie aber auch wahre Botschaft mit nach Hause nehmen, dass die Gewinner von gestern oft die Verlierer von morgen sind. Einen Haken allerdings hat diese beruhigende Aussicht: Zwischen dem gestrigen Gewinnen und dem morgigen Verlieren gilt es noch das Heute durchzustehen – und wo ließe sich so eine wilde und verwirrende Gegenwart besser und schneller über die Bühne bringen als in der Oper?

„Until the Lions“, also in etwa „Bis zu den Löwen“, heißt das neue Werk, mit dem die Rheinoper Straßburg ihre Saison am kommenden Sonntag einläuten wird. Diese brandneue Oper basiert auf einer der ältesten Menschheitserzählungen überhaupt, dem indisch-hinduistischen Epos der Mahabharata. In der daraus ausgewählten Geschichte geht es um königliche Verheiratungsbemühungen für seine drei Töchter. Ein Turnier soll den idealen Ehemann ermitteln, aber ach, man vergisst den Sohn eines anderen edlen Geschlechts einzuladen. Dessen Mutter ist erzürnt und sinnt auf Rache, die Händel nehmen ihren Lauf, sodass sie am Schluss auf Teufel komm raus mit Gewalt ausgetragen werden. Und natürlich geht es in einem so gewichtigen Menschheitsepos wie der Mahabharata nicht bloß um dynastische Spielereien, sondern gleichsam um die ganz großen Themen des Menschengeschlechts: Wie nämlich lassen sich unüberwindlich scheinende Gegensätze zu einem Ganzen vereinen?

Das Libretto der Oper ist angelehnt an der Neudichtung der alten Geschichte. Die indisch-französische Autorin Karthika Naïr legt ihren Text den Namenlosen in den Mund, einfachen Soldaten und Hausmädchen, verstoßenen Prinzessinnen, Stammesköniginnen und einer geschlechterwechselnden Gottheit. Sie zeigt, wie sich unsere Sicht auf das Leben immer irgendwo zwischen uralten Mythen und gegenwärtigen Betrachtungen abspielt, die in ihrer ganzen Tiefe oft kaum voneinander unterscheidbar sind und erst in ihrem Zusammenspiel den Eindruck eines ganzheitlichen Lebens formen.

Die Musik zu diesem mythischen und spirituellen Opernwerk stammt von dem französischen Komponisten Thierry Pécou, die Inszenierung von der indischen Choreografin Shobana Jeyasingh. Ihre Version der Löwen stand bereits im März 2020 als Teil des Festivals Arsmondo Indien auf dem Spielplan, als gerade das Coronavirus seine Krallen ausfuhr und die Premiere schließlich abgesagt wurde. Doch das Bühnenbild war schon erstellt, die Tänzer und Sänger engagiert und vorbereitet, somit liegt es nahe, das Werk nun endlich doch noch zur Erstaufführung zu bringen.

Am Gewicht ihrer Botschaft hat diese Oper auch über die Zwangspause hinweg nichts eingebüßt, vielleicht sogar an Bedeutung noch hinzugewonnen. Denn erstaunlicherweise löste gerade die Zeit des Stillhaltens schwere Gedanken aus, und es scheint, dass die Identitätskrisen, die sich durch das Zwangsnichtstun ergaben, sich so manchen in andere Seinsszenarien hineinsteigern ließ. Wie sonst könnte man erklären, dass ausgerechnet in dieser Zeit Gegensätze, denen wir uns doch im Grunde seit Menschengedenken gegenübergestellt sehen, mit einer neuen Vehemenz jetzt wieder als Spiel von Gewinnern und Verlierern ausgetragen werden. Wobei das Vertrackte daran ist, dass die Absicht hinter der Vehemenz eigentlich der gute Wille steht, Gegensätze auszugleichen, aber man sie damit erst recht heraufbeschwört. Ob die Dichterin Karthika Naïr wirklich beabsichtigte, wie manche Kritiker beschworen, eine feministische Mahabharata zu schreiben, nur weil sie – endlich! – auch die weiblichen Charaktere zu Wort kommen lässt? Oder ob als Absicht dahinter eher stand, mit der Vielfalt der Stimmen die Bandbreite der Seinsszenarien zu erweitern?

Nun ja, all die Streitereien um politisch mehr oder weniger Korrektheiten würden bei den Autoren der uralten Texte vermutlich eher Heiterkeit als Besorgnis auslösen. Denn die Gegensätze, von denen sie sprachen, mühen sich nicht am Offensichtlichen ab, an dem sich sowieso kaum etwas verändern ließe, sondern an den tiefen und somit tatsächlichen Gegensätzen, die wir in unserem Leben verspüren: zwischen Trauer und Liebe, himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt oder – wo sich vielleicht der zentrale Gegensatz in all diesen modernen Auseinandersetzungen befindet, in dem sich aber auch nahtlose Übergänge zwischen den Antipoden herstellen lassen: im Gegensatz zwischen Ernsthaftigkeit und Unsinn nämlich.

Die Botschaft, die aus den Jahrtausenden zu uns kommt, ist jedenfalls ziemlich einfach: Haltet sie doch auch einfach mal aus, diese Gegensätze, denn wirklich aus der Welt zu schaffen sind sie nicht. Besser also mit ihnen zu leben – wobei wir schließlich wieder bei der Ausgangsfrage angelangt sind: Denn wo ließe sich das verzweifelte und oftmals so tragische Zusammenbringen von Gegensätzen besser über die Bühne bringen als in der Oper?

Apropos Bühne: Die Rheinoper feiert in diesem Jahr ihr 50-jähriges Jubiläum, also den Zusammenschluss von Straßburg, Colmar und Mülhausen zu einem Zweispartenhaus aus Oper und Ballett. Nicht zu verwechseln ist dieser Geburtstag mit dem 200-jährigen Bestehen des wunderbaren Operngebäudes in Straßburg, das allerdings immer wieder in der Gefahr unterliegt, als Spielort aufgegeben zu werden. Seine technische Ausstattung, heißt es von verantwortlicher Seite, genüge nicht mehr den neuen Anforderungen an den Spielbetrieb, nicht zuletzt in den Fragen des Brandschutzes.

Was tun? In den alten Bau investieren? Oder doch ganz was anderes? Neben dem Plan zu einem Opernneubau kursiert auch noch die Idee, den Straßburger Opernbetrieb in die übergroßen Hallen des rabenschwarzen Sichtbetonkastens des Maillon-Theaters auszulagern. Eine Entscheidung über das bauliche Zuhause der Oper soll noch am Ende dieser Legislatur fallen. Hört man so ab und zu hinein in die Kreise der Verantwortlichen der Stadt Straßburg, dann fällt diese Entscheidung wohl gegen das bestehende, wunderschöne Gebäude aus. Ob es dabei tatsächlich ausschließlich die baulichen Bedenken den Ausschlag geben werden, oder ob es nicht auch um grundsätzlich gegensätzliche Einstellungen – um nicht zu sagen: Ideologien – zum korrekten Kunst- und Theaterbetrieb geht, die sich auf alternativ und partizipativ versus traditionell und bürgerlich zuspitzen ließen?

So oder so bleibt die Oper ein gefährdetes Terrain – und ein gefährliches allemal. Doch wo lassen sich grundsätzliche Streitereien besser über die Bühne bringen als in der Oper? Also bitte: Lasst die Löwen los!

Until the Lions – eine Oper von Thierry Pécou
Libretto von Karthika Naïr
Welterstaufführung durch die Rheinoper Straßburg

Dirigentin: Marie Jacqout
Regie und Chereografie: Shobana Jeyasingh
Symphonieorchester Mülhausen OSM

Opéra Straßburg
SO 25. September, 15 Uhr
DI 27. September, 20 Uhr
DO 29. September, 20 Uhr
FR 30. September, 20 Uhr

La Filature Mülhausen
SO 9. Oktober, 15 Uhr
DI 11. Oktober, 20 Uhr

Tickets und Informationen unter: www.operanationaldurhin.eu

Die Programmvorschau auf die Saison 22/23 findet sich HIER.

Weitere Veranstaltungen:

Am Samstag, den 24. September, feiert die Rheinoper das 50. Jahr ihres Bestehens mit öffentlichen Führungen durch das wunderschöne Straßburger Opernhaus.

Die Anmeldung zu diesem kostenlosen Blick hinter die Kulissen erfolgt über diesen Link.

Am selben Tag wird um 14 Uhr in einer Tanzaufführung ein Auszug aus der Oper „Until the Lions“ dargeboten. Auch sie ist kostenlos, allerdings muss die Anmeldung direkt an der Kasse des Opernhauses erfolgen.

Rezital – Von Goethe bis Hofmannsthal

Der Bariton Andrè Schuen mit der Klavierbegleitung durch Daniel Heide
Lieder von Robert Schumann, Hugo Wolf und Frank Martin
4. Oktober in der Opera Straßburg

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