Böse Tat, falsche Worte

Eine Woche nach dem mittlerweile fünffachen Mord in der Straßburger Innenstadt sind viele Worte dazu gefallen – doch so wichtig es ist, darüber zu reden, klingen sie alle irgendwie falsch.

Bereits so rücksichtsloses Parken gehört zur täglichen Gewalt in der Gesellschaft. Foto: ekladata.com / MM

(Von Michael Magercord) – Im Grunde kann man zu diesem Gewaltakt nur das Falsche sagen. Falsch klingt das Pathos, das mitschwingt, wenn man ihn zu einem gezielten Angriff auf unsere freiheitliche Gesellschaft erklärt – damit überhöht man bloß ein feiges Verbrechen. Und man kann eigentlich auch nur das Falsche denken. Jeder Vergleich, den man für sich zieht, würde die Tat relativieren – und doch bietet nur ein Vergleich eine Erklärung für das Unfassbare an dem Geschehnis.

Am Dienstagabend vor einer Woche gehörte ich zu jenen, die aus Sicherheitsgründen nach einem internationalen Basketballspiel noch drei Stunden in der Sporthalle in Wacken ausharren mussten. Das Publikum verhielt sich trotz der beunruhigenden Nachrichten über das Attentat in der Innenstadt geduldig – in der offiziellen Pressemitteilung des veranstaltenden Vereins hieß es „würdevoll“ –, und angespornt von dem Saalsprecher sangen die Fünftausend die Marseillaise: „Zu den Waffen, Bürger! Formiert eure Truppen, marschieren wir! Unreines Blut, tränke unsere Furchen!“

Das Erste, was ich dachte, war: das ist der falsche Text zum bösen Ereignis. Eine Gewaltandrohung in gewalttätigen Zeiten – ist das nicht genau das Problem? Samstag für Samstag schon, und nun gleich wieder? Doch sofort fühlte sich auch mein eigener Gedanke falsch an. Es ging den inbrünstigen Sängern – vermute ich – nicht um den Text, sondern um eine gemeinsame Reaktion auf diese unangenehme Situation, darum also, das Unfassbaren in symbolische Worte zu fassen, ohne die Worte selbst zu meinen.

Trotzdem kommt man an Worten, die das Unfassbare dann auch meinen, nicht herum. Zumindest nicht in seinen Gedanken. Und an den Fragen, die so ein Ereignis stellt, sowieso nicht. Besser zu reden, als zu schweigen. Besser ein wenig Pathos, auch wenn jede Überhöhung eines Mordes als religiösen Terror oder gesellschaftlichen Akt eine kulturelle Relevanz zubilligt. Und besser vielleicht auch ein paar sich immer auch sofort falsch anfühlende Vergleiche anstellen. Mögen sie helfen, Antworten auf die Frage näherzukommen, die sich unweigerlich stellt, ob man will oder nicht: Warum wird das öffentliche Leben in Frankreich derzeit so sehr von Gewalt bestimmt?

Dabei geht es nicht nur darum zu erklären, warum französische Staatsbürger zu religiös-motivieren Terroristen werden. Das mag unter Anderem auch an dem Auseinanderklaffen von dem schönen, revolutionären Diskurs, der in Frankreich über die gleichen Rechte aller Menschen feiertäglich gepflegt wird, und dem wahrgenommenen Alltag vieler Zuwanderer auch der zweiten Generation liegen. In Deutschland lief das bisher anders, dort lautete die nicht einmal bloß unterschwellige Botschaft an Migranten: Wer sich hier nicht anpasst, wird bestenfalls nur eine zweite Geige spielen – nicht schön, aber immerhin ehrlich.

Nun mag das so sein oder nicht, jede Schlussfolgerung daraus würde sich trotzdem irgendwie falsch anfühlen. Und noch falscher erscheint der folgende Vergleich zwischen Terror und Alltag, der sich mir aber immer wieder aufdrängt, wenn es um die Frage geht, worin diese hohe Bereitschaft zur öffentlichen Gewaltausübung fußt? Wo beginnt Gewalt? Ich habe darauf eine Antwort: beim Falschparken. In Straßburg ist diese Form der bourgeoisen Delinquenz geradezu eine zur Stadt gehörende Ungehörigkeit geworden.

Ist es nun so falsch, im falschen Parken einen Akt der Gewalt zu sehen? Macht es bei dieser Einschätzung einen Unterschied, ob dieser Gewaltakt aus gezielter Rücksichtslosigkeit vollzogen wird oder völlig ohne Bewusstsein einer Missetat erfolgt? Einfach so: „Ich muss meine Karre irgendwo abstellen, und zwar jetzt. Und da für mich nur ich existiere…“, oder kommt diesem Falschparker wenigstens noch die Zeile in den Sinn: „…egal wen das jetzt stören sollte“.

Was oder wie viel überhaupt noch im Kopf jener Menschen vor sich geht, die für sich das Recht herausnehmen, auf Fuß- und Radwegen oder gar Zebrastreifen zu parken, kann man nur vermuten, klar ist allerdings, dass sie damit die durch die Nutzung ihres Vehikels ohnehin schon eingeschränkte Freiheit ihrer Mitmenschen zusätzlich einschränken, und zwar über das ihnen bereits zugestandene Maß an Stadtraum hinaus. Und wo Selbstkontrolle oder die soziale Kontrolle nicht mehr funktionieren, herrscht da nicht Gewalt? Wäre das so falsch, dann von zumindest fahrlässigem Terror zu reden?

Das klingt in Anbetracht dessen, was jemand anrichtet, der für sich das Recht herausnimmt, anderen Menschen das Leben zu nehmen, falsch. Und trotzdem kommt mir jedes Mal dieser Gedanke, wenn ich wegen eines bratzig geparkten Autos auf die Straße ausweichen muss. Und eines stimmt auf jeden Fall: Wenn der Staat nicht schon dagegen einschreitet, herrscht bereits im Alltag ein Zustand der Rechtlosigkeit. Gut, man muss ja nicht gleich wie der Bürgermeister von Vilnius in Litauen 2011 falsch geparkte Autos höchstpersönlich mit einem gepanzerten Militärfahrzeug platt rollen, um die Ordnung wiederherzustellen. Vielleicht würde es ja genügen wie in Prag, einige Monate jeden falsch geparkten Wagen sofort abschleppen zu lassen, damit es auch der Letzte kapiert, dass er damit eine freiheitsberaubende Ordnungswidrigkeit begeht.

Wären die Fragen nach der Ursache von Rücksichtslosigkeit und Gewalt, die sich aus diesem falschen Vergleich zwischen Terror und Ordnungswidrigkeit ergeben würden, alle so falsch? Heute wird, sobald große ungeklärte Richtungsfragen anstehen, schnell eine „breite öffentliche Debatte“ eingefordert. Vielleicht genügte es ja zu begreifen, woran sich diese Fragen wirklich abarbeiten, an der Schwelle nämlich, an der sich alle Konflikte in den modernen Gesellschaften abstrampeln: Wo verläuft die jeweilige Trennlinie zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, den Ansprüchen des Individuums und jenen der Gemeinschaft?

Die Antworten mögen da von Gesellschaft zu Gesellschaft sehr unterschiedlich ausfallen, denn es geht dabei um kulturell oder auch religiös geprägte Grundhaltungen, gespeist aus überlieferten Verhaltens- und Anspruchsmustern. Diese Schwelle unterliegt aber auch stetigen Veränderungen, und ihre potenzielle Möglichkeit ihrer Verschiebung weist in die Zukunft: Ist die Rücksichtslosigkeit, wie sie sich durch die Nutzung von lärmenden, schmutzigen und platzintensiven Autos an deutlichsten offenbart, wirklich ein unausweichlicher Kollateralschaden der Freiheiten der Moderne? Und gilt diese Unausweichlichkeit auch für die Rücksichtslosigkeit gegenüber kommenden Generationen? Ich weiß, dass dies alles gleich wieder nach falschem Pathos klingt, aber ich wage trotzdem eine letzte, vielleicht falsche These: Wäre es vielleicht nicht schon ausreichend, wenn jeder Einzelne versuchen würde, nur für sich selbst die Schwelle der Berechtigung seiner privaten Ansprüche zu bestimmen und so mit seiner Rolle im Öffentlichen ins Reine zu kommen?

Apropos Pathos: Es gibt übrigens schon seit über hundert Jahren eine alternative Version der Marseillaise. 1892, nach dem Deutsch-Französischen Krieg, haben die Lehrerverbände diesen Text, der von Schülern der Primarschule von Cempuis in der Oise verfasst wurde, als „Friedens-Marseillaise“ veröffentlicht:

Quoi! d’éternelles représailles
tiendraient en suspens notre sort !
Quoi, toujours d’horribles batailles,
le pillage, le feu, et la mort.
C’est trop de siècles de souffrances,
de haine et de sang répandu !
Humains, quand nous l’aurons voulu
Sonnera notre délivrance !

Wie? Diese immerwährende Vergeltung
zieht unser Schicksal in die Schwebe.
Wie, immer die schrecklichen Schlachten,
die Plünderei, das Feuer und der Tod.
Das ist zu viel, Jahrhunderte von Leiden,
von Hass und von vergossenem Blut!
Menschen, wenn wir es wollten,
können wir die Erlösung einläuten!

1 Kommentar zu Böse Tat, falsche Worte

  1. HEMMERLÉ Pierre // 24. Dezember 2018 um 19:39 // Antworten

    Excellente prestation intellectuelle.
    Tout est dit.
    Merci

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.

*



Copyright © Eurojournaliste