Brillant das Thema verfehlt

Auf die Ansprache von Emmanuel Macron hatten die Franzosen seit dem 10. Dezember gewartet. Doch statt der Ergebnisse der „Großen Nationalen Debatten“ gab es eine Regierungserklärung.

Nach der Regierungserklärung von Emmanuel Macron stellt man sich noch mehr Fragen als vorher... Foto: ScS EJ

(KL) – Es war die richtige Ansprache zum falschen Zeitpunkt. Gestern am frühen Abend sollte die letzte Woche wegen des Brands der Kathedrale Notre-Dame verschobene Analyse der „Großen Nationalen Debatten“ inklusive Präsentation eines Maßnahmenkatalogs stattfinden – doch stattdessen gab es eine Regierungserklärung, brillant vorgetragen vom Meister der politischen Kommunikation. Die heftigen sozialen Unruhen im Land wird diese Ansprache allerdings weiter anheizen.

Über eine Million Französinnen und Franzosen hatten an den monatelang andauernden mehr als 13000 „Großen Nationalen Debatten“ teilgenommen, stundenlang debattiert, Probleme formuliert und Verbesserungsvorschläge gemacht, nach deren Auswertung der Präsident bedeutende Reformen ankündigen wollte. In seiner gestrigen Regierungserklärung, die im Format einer Pressekonferenz organisiert war, verkündete er tatsächlich einige interessante Vorhaben (von denen allerdings eine Vielzahl auf den Zeitraum um das Jahr 2025 terminiert sind, also drei Jahre nach Ablauf seiner Amtszeit…), ging allerdings mit keinem Wort auf die Ergebnisse, Forderungen und Vorschläge dieser „Großen nationalen Debatten“ ein. Brillant wie immer tat Macron das, was Macron am besten kann: Visionen in die Luft zeichnen, die niemanden zu etwas verpflichten und das, was konkret geplant ist, kann dann auch wieder relativiert werden.

Positiv zu verzeichnen ist der Plan, bis zum Ende seiner Amtszeit dafür sorgen zu wollen, dass die maximale Anzahl Schüler und Schülerinnen pro Schulklasse auf 24 begrenzt wird. Und dass der Lehrerberuf aufgewertet werden soll. Auch der Vorschlag einer Rente nach Punkten könnte interessant sein, allerdings muss man sehen, wie diese konkret ausgestaltet werden soll. Auch die Idee, ab Juli 150 per Los bestimmte Bürgerinnen und Bürger in den CESER (Rat für Wirtschaft, Soziales und Umwelt) aufzunehmen, der als eine Art „Bürgerrat“ fungieren soll, klingt gut. Allerdings sind dessen Aufgaben und vor allem dessen Gewicht in der Politik – völlig unklar. Die Senkung der Einkommenssteuer, die er um 5 Milliarden Euro entlasten will, ist sicherlich eine gute, kleine Maßnahme, um die Kaufkraft zu stärken. Dazu beabsichtigt er auch, in Europa auf den Tisch zu hauen, gerne gemeinsam mit Deutschland, aber zur Not auch ohne. So will er den Schengenraum neu definieren und eventuell diejenigen Länder ausschließen, die es an europäischer Solidarität mangeln lassen. Fast wäre man geneigt anzumerken, dass so etwas zum Glück nur einstimmig auf europäischer Ebene beschlossen werden kann. Und auch ein wenig Proportional-Wahlrecht soll es geben, „so um die 20%“.

Was allerdings die Ergebnisse der „Großen Nationalen Debatten“ anbelangt, so verwarf er praktisch jeden einzelnen Punkt, der bei dieser landesweiten Debatte herausgekommen war und seit November das Kernstück der Forderungen der Gelbwesten bilden – eine Ohrfeige für alle, die sich an dieser basisdemokratischen Übung beteiligt und gehofft hatten, zu einer Verbesserung der französischen Gesellschaft beitragen zu können. Wiedereinführung der von ihm abgeschafften Reichensteuer ISF? „Nein. Ich habe zwar gehört, dass die Mehrheit der Franzosen dies wünscht, aber nein. Die Abschaffung dieser Steuer war eine Maßnahme zur Belebung der Konjunktur, kein Geschenk an die Reichen.“ Aha. Erhöhung des Mindestlohns? „Nein. Das wäre gegen den Wettbewerb.“ Leere Stimmzettel (es wurde an vielen Stellen gefordert, dass man leere Stimmzettel zählt und wenn keiner der Kandidaten mehr Stimmen als leere Stimmen erhält, müssen die Kandidaten ausgetauscht werden)? „Interessant. Aber – nein. Leere Stimmzettel treffen keine Entscheidungen.“ Kaufkraft? „Die beste Art und Weise die Kaufkraft zu stärken, ist in die Bildung zu investieren.“ Und keiner der unendlich vielen Punkte, die in diesen Debatten angeregt wurden, keiner dieser Vorschläge fand Berücksichtigung. Schlimmer noch – diese Beiträge wurden nicht einmal erwähnt.

Dafür lernten die Zuschauer, wie einsam man doch als Präsident ist, sie erfuhren von der „Kunst des Französischseins“, sie hörten, dass „wir [die Franzosen] alle Kinder des Lichts sind“ und dass er es nicht bedauert, die Skandalnudel Alexandre Benalla eingestellt zu haben. Dadurch, dass er ungewollt den Nachweis erbrachte, dass die vielen Kritiker dieser landesweiten Debatten Recht hatten –seit Monaten wurde diskutiert, während Macron sein Programm für die zweite Hälfte seiner Amtszeit präsentierte-, dürfte Macron die sozialen Unruhen wieder angeheizt haben, die eigentlich bereits am Abklingen waren.

Die Konsequenz, mit der Emmanuel Macron die vielen Stimmen aus der Bevölkerung weiter ignoriert, angefangen von den „Gelbwesten“ bis hin zu den Expertenrunden während dieser landesweiten Debatten, die Konsequenz, mit der er auch weiterhin Ankündigung auf Ankündigung macht, von denen klar ist, dass er sie nicht halten kann, zeigt, dass der französische Präsident immer noch nicht verstanden hat, was gerade in seinem Land passiert.

Monatelang wurde von ihm selbst die Spannung auf diesen einen Punkt hin konzentriert. Die Ergebnisse der landesweiten Debatten sollten das Land verändern (Macron: „Nichts wird mehr so sein wie vorher“), Volkes Stimme sollte ein ganz neues, demokratischeres Gewicht bekommen. Stattdessen gab es die Information, wie Emmanuel Macron gedenkt, das Land in den nächsten zwei Jahren zu regieren. Gerne auch ohne das Volk.

Das, was eigentlich eine brillant vorgetragene Regierungserklärung zu „normalen“ Zeiten hätte sein können, war nichts anderes als das Einläuten der nächsten Eskalationsstufe zwischen den „Gelbwesten“ und Extremisten aller Couleur und dem Staat. Schlecht für Straßburg, dass die nationale und internationale Mobilisierung der „Gelbwesten“ und ihrer links- und rechtsextremen Freunde am kommenden Samstag ausgerechnet in Straßburg stattfinden wird.

Die Antwort von Emmanuel Macron an die „Gelbwesten“ lautet: „Ihr bekommt keine Antwort.“ Es steht zu befürchten, dass die „Gelbwesten“ es dabei nicht bewenden lassen werden.

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