Corona – geht‘s noch? Europa im Wellental (2. Teil)

Bleibt die zweite Welle eine Springflut oder wird sie für anhaltendes Hochwasser sorgen? Egal, es ist höchste Zeit, wieder Worte zu finden. Wird nun alles anders? Nur, wenn man darüber redet. Aber wie? In dem man Fragen stellt – und die dümmsten finden Sie in loser Folge hier.

Welche Farbe hat das Virus? The China Virus im kommunistischen Rot mit gelben Sternen. Foto: HFCM Communicatie / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int

(Michael Magercord) –  Puh, was für eine Wortkette war das bloß, mit der der erste Teil dieser europäischen Ideenkunde endete? War das wirklich als Frage an die Kommissionspräsidentin gedacht oder doch ein versteckter Arbeitsauftrag zur Beschränkung der Verordnungsflut? Kein Wunder, dass damals auf der Pressekonferenz mit Ursula von der Leyen keine Zeit mehr war und somit sich auch diese Frage in die lange Kette der ungefragten Fragen einreihte.

Aber egal, es geht uns ja sowieso um etwas ganz anderes: Ist aus einer fixen Idee, wie der eines geeinten, friedlichen Europas erst einmal eine suprastaatliche Institutionen geworden, greifen dann nicht einfach die inneren Gesetzmäßigkeiten aller Großbürokratien? Zu viele Vorschriften und Gesetze zu erlassen gehört nun einmal zur Tragik der modernen Verwaltung.

Beispiel gefällig? Das aus vielen, ganz unterschiedlichen Kulturen zusammengefügte Habsburger Reich unter Josef II. besaß sehr wirkungsvolle bürokratische Organisationen, die sich aber auf Feldern abmühten, auf denen sie eigentlich nichts verloren hatten, und gerade dort, wo man sie wirklich gebraucht hätte, nichts zustande gebracht hat: nämlich in der Frage des Ausgleiches zwischen den Völkern und in der Rücksichtnahme auf die unterschiedlichen Mentalitäten. Stattdessen erließ die Bürokratie Regeln, die einfach überall für alle galten, egal, welchen Eigenarten die Völker frönten. So jedenfalls fasste der österreichische Kulturhistoriker Egon Friedell die historische Tragik der K-und-K-Monarchie zusammen – und erinnert diese Rückbetrachtung aus dem Jahre 1920 auf den untergegangenen Vielvölkerstaat nicht unwillkürlich an den Zustand des Vielvölkerverbundes EU im Jahre 2020?

Strohhalme statt Briten – Wären die Briten noch Mitglieder, wenn die anderen eines ihrer wichtigsten Anliegen weniger grundsätzlich abgewehrt hätten? Wenn nämlich Premier Cameron seinerzeit auf seiner Tingeltour durch die europäischen Hauptstädte in West und Ost mit seiner Absicht, die Arbeitnehmerfreizügigkeit für Großbritannien für einige Zeit auszusetzen, Gehör gefunden hätte? So, wie sich das Deutschland und Frankreich nach der Osterweiterung 2004 für sieben Jahre gegenüber der Zuwanderung vor allem aus Polen zugestehen ließen? Wir werden es nicht mehr erfahren. Dafür waren ohnedies die Regierungen der Mitgliedstaaten zuständig, die Kommission und das Parlament geht es ja um ganz ganz andere Sachen: Strohhalme, Roaming, iTANs…

… hahaha, sehr witzig – das ist doch reine Karikatur, wie die krumme Gurke. Nein, man beschäftigt sich mit Wichtigem, etwa Mentholzigaretten: endlich verboten! Denn der Bürger wusste ja bisher gar nicht, dass Rauchen schädlich ist, wenn das Rauchzeug nach Pfefferminz schmeckt. Aber uff, die Parlamentarier haben sich ihrer vornehmsten Aufgabe gewidmet: Sie haben den Bürger vor sich selbst geschützt! Soll Egon Friedell, der scharfe Beobachter der Neuzeit, heute noch recht haben, wenn er anhand der Französische Revolution feststellt: „Der Tyrann ist abgeschafft, das Volk herrscht souverän. Das hat fast immer zur Folge, dass das Leben, das bisher nur während der Militärzeit Zuchthauscharakter trug, nun in seiner Gänze zwangsläufig wird. Eine freie Volksregierung mischt sich schlechterdings in alles!“

Und übrigens gilt das fürs menthole Quarzen sogar in England – nur damit auch dieser Exit-Traum in Rauch aufgeht. Und wie lange darf bei dem hohen Methanausstoß von rülpsenden und furzendem Rindvieh dort noch ein Steak so verführerisch nach Pfefferminz schmecken? Sicher wird sich ein gewählter Souverän auch darum bald kümmern. Allerdings wohl so vergeblich wie beim Qualmen, haben mir doch Mentholraucher versichert, dass es bereits Techniken gibt, sich die vermeintlich atemfrischen Kippen selbst herzustellen.

Lustig oder schade? – Läuft halt meist so, dass sich in übergroßen Institutionen der Ernst der Dinge auf Dinge verlegt, die es nicht wirklich sind, aber um so heißer diskutiert werden, während die wirklich wichtigen Dinge darüber ihre Wirklichkeit verlieren. Aber darauf hatte Egon Friedell, der Autor der „Kulturgeschichte der Neuzeit“, auch schon verwiesen: „Die Menschheit pflegt nämlich alles Wirkliche erst dann ernst zu nehmen, wenn es nicht mehr ernst zu nehmen ist, wenn es eingelebt ist, was aber ganz dasselbe bedeutet wie ausgelebt, wenn es eine Institution, das heißt: rückständig geworden ist, denn eine Institution ist immer rückständig.“ Oder anders ausgedrückt: Wer seine Grenzen nicht kennt und immer versucht über sie hinauszugehen, wird das Gegenteil von dem erreichen, was er beabsichtigt.

Oder noch einmal anders gesagt: Was die EU wirklich bedürfe, wäre die Arbeit an ihrer fixen Idee. Ein Haufen dummer Fragen wären jetzt nicht schlecht, und zwar von jener Art, die sich kaum für Pressekonferenzen eignen, auf denen bloß der Vollzug einer weiteren neuen Verordnung verkündigt wird. Sondern eher solche, mit denen sich auch jedes Brautpaar in ein unlösbares Dilemma stürzt: Wozu werden wir zusammenleben? Was wollen, und vor allem: Was können wir gemeinsam erreichen? Wo enden die Gemeinsamkeiten? Und dürfen sie nicht auch ruhig mal enden? Sollten wir nicht erst einmal die Grenzen erkunden, an denen unser gemeinsames Projekt ohnedies stoßen wird und nicht versuchen, sie permanent weiter auszudehnen? Und spätestens jetzt wird es vor dem EU-Traualtar transzendent: denn sagt nicht der Theologe, dass jemand, der mit seinem Tun über die von Gott gegebenen Grenzen hinausgeht, eine Sünde wider seiner selbst begehe und das Gegenteil dessen erreichen wird, was er beabsichtigt? Wer jetzt nicht vom Unglauben abfallen will, der ersetzte „Gott“ gegen den Begriff „Natur“ und denke dabei vor lauter Corona einmal kurz ans Klima.

Handeln der Organe – Doch vor lauter Corona denken die unionierten Europäer eher an Finanzpakete – und das wäre nicht das Dümmste, wenn sich die mit dem Geld gesegneten Institutionen nun nicht damit abmühen, mit ihrer Hilfe den alten Zustand wieder herstellen zu wollen. Ob es ihnen gelingt, die unterschwellige Ahnung der Menschen, dass es doch nicht mehr so wird wie zuvor, zu nutzen, um gemeinsam darüber nachzudenken, was Wohlstand und Lebenswert wirklich ausmachen? Vermögen sie, sich um das zu kümmern, was Egon Friedell, unser unermüdlicher Chronist der Neuzeit, einst ohne falsche Gerechtigkeitsbeschwörungen treffend als „Ungeschicklichkeit der Verteilung“ bezeichnete? Werden sie es schaffen, sich an den Kern der Zukunftssorgen ihrer Bürger heranzutasten oder doch nur wieder dem friedellschen Schicksal erliegen, wonach alle politischen Kräfte immer nur nachführende, rückwärtsgewandte Organe sind? Oder gehören die Besteuerung oder gar eine Art von Grundeinkommen nun einmal zu jenen Dingen, die sich – wenn überhaupt – eben doch nur innerhalb den viel engeren, aber auch klareren Grenzen der einzelnen Mitgliedsstaaten regeln lassen?

Allein, dass sich auf all die Fragen zur Rolle der EU einfach keine verbindliche Antwort einstellen will, zeigt, dass wir gar nicht wissen, wie die EU trotz ihrer ausgeklügelten Institutionen eigentlich funktioniert – oder wenigstens wie und auf welchen Feldern sie funktionieren sollte. Das weiß man übrigens nicht einmal, wenn man mit ihren Organen unmittelbar in Kontakt gekommen ist und durch die lichten Flure in die fensterlosen Sitzungssäle des Parlamentsgebäudes schreitet. Ja, da hat die schöne und unbedingt richtige fixe Idee, den kontinentalen Frieden zu bewahren, eine riesige Anstalt mit gewaltigen Gebäuden geschaffen, doch nun weiß man nicht so recht, was man mit dem Apparat wirklich anfangen soll. Und kaum ist Corona, wird die Arbeit der Exekutive in der Brüssler Kommission auf ein wenig Koordination zur Offenhaltung der nationalen Grenzen oder zur Organisation der Verteilung eines Impfstoffes beschränkt.

Latente Idealisten – Nun macht wieder jeder, was er meint, machen zu müssen – was aber vielleicht gar nicht einmal das Schlechteste ist: das zeigt der EU nämlich ihre Grenzen auf – und wie gesagt: besser, man kennt sie, als durch ungewolltes Anrennen gegen sie das Gegenteil von dem zu erreichen, was man eigentlich wollte. Vielleicht wurde schon alles erreicht, was der einst so fixen Idee zugrunde lag? Herrscht nicht Frieden? Was kann aus den Idealen so einer hehren Idee noch groß werden, wenn mit ihr bereits ernst gemacht wurde? Was sollten wir Europäer nun noch gemeinsam wollen? Hören wir, bevor wir uns schließlich der Aufgabe zuwenden, dazu einen Vorschlag zu unterbreiten, einen letzten Ratschlag von Egon Friedell, dem Neuzeitanalytiker: „Niemand wird etwas, das er nicht latent in sich trägt, zu seinem Ideal erheben. Aber ebenso wenig etwas, das er bereits verwirklicht hat.“ Und somit dürfen wir uns nun endlich wieder ganz dumm stellen und damit diese dümmliche Frage: Was tragen wir EU-Europäer latent in uns, was sich in unserer Gemeinschaft noch nicht verwirklicht hat?

Antwort: Kleinstaatlichkeit – klingt widersprüchlich, wie von vorvorgestern, gar „anti-europäisch“? Weit gefehlt. Zeitgemäßer als Kleinstaat geht nicht: regionale Wirtschaft, lokaler Austausch, kurze Entscheidungswege – das klingt doch ziemlich zukunftsgerichtet. Fehlt nur noch, dass man in der EU endlich klärt, was man auf welcher Ebene am besten regeln kann und wie viel latente Kleinstaatlichkeit sich dabei verwirklichen lässt. Was wäre darin die Rolle der EU gegenüber den Bürgern ihrer Mitgliedskleinstaaten? Die Bürger nicht mehr vor sich selbst zu schützen, sondern vor übergriffigen Ansprüchen ihrer kleinstaatlichen Zentralorgane – und daraus erwächst nun noch eine wunderbare Idee zu einer Aufgabe der EU, die latent in ihr angelegt, aber noch nicht verwirklicht ist.

Aus der Antwort auf unsere dumme Frage ergibt sich also nun eine dringliche Aufgabe – aber halt… der Mensch, zumal jener, der latente Ideale hegt und voller Ideen zu deren Verwirklichung steckt, braucht immer einen Moment der Muße, oder um es Corona-kompatibel auszudrücken: jede Idee hat ihre Inkubationszeit. Sie wird in diesem Fall genau einen Tag betragen und morgen, im dritten Teil dieser europäischen Ideenkunde, kundgetan. Wer jetzt schon sehen will, wo die praktische Umsetzung auch dieser Aufgabe letztlich enden wird, dem sei ein weiterer Besuch in der bismarckschen Wurstkammer angeraten, dem „Parlament“.

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