Corona im Ghetto – ab in den Wald!

Die Umsetzung der Maßnahmen, die die europäischen Staaten gegen das Corona-Virus ergreifen, fällt doch ziemlich unterschiedlich aus: Mann-o-Mann, manche Staaten und ihre Behörden kommen schon auf irrwitzige Ideen – oder dreht hier schon einer durch?

Wenn es irgendwo gerade ungefährlich ist, dann im Wald. Und genau dort darf jetzt niemand mehr hin... Foto: (c) Michael Magercord

(Von Michael Magercord) – Ich bin ein Ghetto-Kid. Das habe ich vor Kurzem erfahren aus berufenem Mund. Der bedeutendste Denker von Straßburg, wenn es um Fragen der Architektur und Stadt geht, hat es mir auf den Kopf zugesagt. Also indirekt zumindest: “Das ist doch ein Ghetto für Reiche”, sagt der Philosoph und meinte den Stadtteil von Straßburg, in dem ich wohne – und das auch noch mehr denn je. Wir alle wohnen ja derzeit mehr als jemals zuvor. Und jemals als zuvor leben wir in unseren Stadtvierteln, ob die nun reich oder arm sind.

Das Virus ist gerecht, es kann alle erwischen. Es sucht sich seine menschliche Wirtszelle und ihm ist es egal, ob die in einem Reichen oder Armen steckt, einem Mächtigen oder Machtlosen: Alle sind ohnmächtig vor dem Virus – selbst jene, die glauben, durch ihren Medienkonsum so langsam selbst zum Virologen und Epidemiologen geworden zu sein. Und ebenso sind wir alle nun den Maßnahmen ausgesetzt, die gegen seine Verbreitung ergriffen werden.

Ich lebe also im Ghetto der Reichen und trotzdem bin ich derselben Gefahr ausgesetzt, wie alle unfreiwilligen Extrem-Wohner: dick zu werden oder Alkoholiker oder beides. Denn auch die Reichen müssen daheim bleiben. Haben sie es leichter, nur weil sie in Palästen residieren? Ach je, ausgerechnet bei uns: Da wurde uns in den letzten Jahren viel Beton vor die Balkone geklotzt, die nahe Industrie sendet nach wie vor ihre Duftmarken hinüber und selbst bei Ausgangssperre rattern Rasenmäher.

Holt mich hier raus… aber dazu brauchen auch wir vermeintlich Reichen einen Passierschein. Diesen Zettel, der uns erlaubt, auf der Straße zu sein, zum Einkaufen zu gehen, und wenn’s sein muss, sogar zum Joggen, obwohl das Gehechel eine wahre Virenschleuder ist, aber nicht – und jetzt bricht das Ghetto-Kid in mir heraus – in den nahen Wald zu gehen. Das ist nämlich verboten, und nicht nur ich frage mich: Wer hat sich das denn bloß wieder ausgedacht!

In den Wald, wo man sich bestens aus dem Weg gehen kann, wo die Jogger ihre Viren ins Grüne zerstäuben können, wo Fiffi nicht auf die Rabatte kackt, im Wald, wo man vor lauter Bäumen keine Menschen sehen muss, ausgerechnet da sollen wir nicht mehr hin? Aber hallo, wir sind das Ghetto, wir sind die Ghetto-Kids, das lassen wir uns nicht bieten! Die Trampelpfade, die um das Absperrgitter herum in den tiefen Wald führen, sind unsere Graffiti-Tags! Sprayer-Bombing im Spaziergang quasi!

Und wenn wir schon mal dabei sind: Eure dämlichen Zettel, diese albernen Passierscheine, die können doch nur wieder aus den verqueren Köpfen der ENArchisten. An der Verwaltungseliteschule und anderen Brutstätten der Bürokratie lernt man wohl, die ganze Welt sei in eine “procédure”, einen justizbewährten Formularvorgang, zu fassen. Ist sie aber nicht! Schon gar nicht diese verrückte Welt derzeit! Wie wäre es, wenn man einfach mal davon ausgeht, es mit Bürgern zutun zu haben, mit halbwegs vernünftigen Wesen also, die ein gesundes Eigeninteresse daran haben, weder sich noch andere anzustecken?

Oder anders gesagt: Wie wäre es, Menschen auch nur einmal ernstzunehmen. Selbst, wenn es sich um Franzosen handelt. Es stimmt ja, die haben manchmal ein seltsames Verhältnis zu ihren Autoritäten, irgendwas zwischen Kindergarten und Vorschule: immer irgendwie aufmüpfig, aber letztlich kommt man eben doch nicht ohne sie aus. Doch woran liegt das? An diesen albernen Zetteln! Sie sind der Ausdruck für die Infantilisierung der Menschen durch ihre Behörden, und klar, dass sich dann so manche der Bürger entsprechend kindisch benehmen. Und wirklich umfassend kontrollieren kann diese Zettelwirtschaft sowieso niemand, schon gar nicht in unserem Ghetto, hier konnten die Reichen in den besseren Zeiten ihren SUVs ja auch parken, wo es ihnen passte: Null Kontrolle.

Also wieder keinen Glauben in Menschheit, stattdessen das Prozedere mit den Passierscheinen, das nahezu unkontrollierbar ist. Steht dahinter der Gedanke: Wir machen eine Vorschrift, die keiner wirklich einhalten kann, in der Annahme, dass sich so wenigstens ein Minimum an Beschränkungen durchsetzen lässt? Aber wie perfide wäre das denn! Niemand kann es richtig machen, was jeden Bürger schon von vornherein ins Unrecht setzt und damit in ihm ein dauerhaftes Angst- und Beobachtungsgefühl erzeugt. Das ist genau das Richtige in diesen Zeiten. Da hängt man schon so ziemlich durch und dann kommt obendrauf noch so was – danke ihr alten Checker von der ENA!

Wenn man sich an die üblichen Vorgaben hält, keine unnötigen Gänge durch die Stadt unternimmt und enge Nähe von Mitmenschen meidet, ist doch alles gut. Der Zettel ändert jedenfalls nichts daran und sorgt schon gar nicht dafür, dass wir wirklich eineinhalb Meter voneinander Abstand wahren. Ausfüllen müssen wir das Ding nur, damit eure kleine Bürokratenmacht über jeden von uns auch in diesen Zeiten unangetastet bleibt. Die Polizisten, die nun Fiffis Herrchen dingfest machen, wenn das Papier nicht stimmt, könnten etwa als Hilfskräfte bei Krankentransporten gebraucht werden und die Soldaten in ihren Feldküchen Essen auf Rädern für alte Menschen bereitstellen, die besser nicht mehr aus dem Haus gehen sollten. Definitiv zielführender als dieser Zettelkram.

Formular, Procédure und Polizei – alles so, wie man wohl an der Elite-Verwaltungsschule ENA den Umgang mit dem Bürger einübt – und dazu nun auch die Wälder dicht. Wen wundert’s da noch, dass wir alle zu heimlichen Ghetto-Kids werden? Mal ehrlich: wir Vorstadtheroen wären ja vielleicht sogar schon bereit, ein wenig von unserer infantilen Feindseligkeit euch gegenüber abzulassen. Umso mehr nach dieser einschneidenden Erfahrung mit Corona. Wir würden uns gerne konstruktiv einbringen in die Lösung anstehender gesellschaftlicher Fragen der Zukunft, beitragen zu all den gravierenden Änderungen, die auf uns zukommen werden. Werden müssen, denn diese Maßnahmen gegen das Virus sind doch nur das Vorspiel zu den Einschränkungen, die der Klimawandel noch von uns abfordern wird. Wenn sich bis dahin aber das verkorkste Verhältnis zwischen Bürgern und Behörden nicht ändert, kann das noch ziemlich grausam werden.

Sollte der Philosoph, der mich zum Ghetto-Kid gemacht hat, letztlich doch recht haben? Nach ihm ist es nämlich die Elite, die immer so tut, sie sorge gegen unseren störrischen Beharrungswillen für den nötigen Wandel, die eigentlich gar nichts ändern will. Zumindest, wenn es sie selbst betrifft. Ändern soll sich immer das Leben der anderen, sie sollen immer schön flexibel sein, aber die führende Elite kann nach Auffassung der führenden Elite so weiter machen wie eh und je.

Bildet sich da jetzt noch jemand, nach der Coronakrise würde sich grundlegend etwas ändern im Staate? Am Verhältnis der Behörden ihren Bürgern gegenüber? Das die euch ernstnehmen werden? Dass sie auf Ausgleich bedacht den schweren Weg mit euch gemeinsam beschreiten wollen? Hand in Hand, ohen Angst voreinander haben zu müssen? Der Passierscheinzettel ist Zeichen an uns Ghetto-Kinder aller Viertel: Vor jedem Gang nach draußen gemahnt er uns, es gar nicht erst zu wagen, irgendwas an den Verhältnissen ändern zu wollen. Ja, dann träumt mal süß in euren Hütten weiter von einer besseren Welt – ich gehe jetzt erst einmal in den Wald…

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.

*



Copyright © Eurojournaliste