Corona – und nun? Frage an uns Künstler…

Sind wir mit dem Gröbsten durch? Steht uns eine zweite Welle ins Haus? Egal, es ist höchste Zeit, wieder Worte zu finden. Wird nun alles anders? Nur, wenn man darüber redet. Aber wie? In dem man Fragen stellt – und die dümmsten finden Sie in loser Folge hier.

Das Virus als Kunstobjekt der Objektkunst oder welche Farbe ist Kunst. Foto: HFCM Communicatie / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int

(Michael Magercord) – „Was ist der Mensch?“ Das waren noch Fragen, die der Königsberger Philosoph Immanuel Kant unbeschwert und voller Erwartung auf eine schlüssige Antwort stellen durfte: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? In Coronazeiten und für die Zeit danach?

Okay, die letzte Frage hatte der gute Kant im ausgehenden 18. Jahrhundert noch nicht auf dem Schirm. Aber auch solch ein Ereignis hätte ihm sicher nicht die Hoffnung genommen, eine Beantwortung seiner Fragenkaskade wäre möglich. Denn im Gegensatz zu uns setzte er noch ganz auf die Vernunft. Wir wissen es nun besser – oder schlechter, wenn man so will – und fühlen uns verloren im Wirrnis des Hier und Jetzt. Der Straßburger Philosoph Jean-Luc Nancy, dessen Ausführungen uns an dieser Stelle schon öfter wenigstens klarer machen konnten, worin wir uns verloren haben, hat eine Antwort für den Königsberger Kollegen parat: „Der Mensch ist die Frage, was ist der Mensch.“ In diesem Sinne stellen wir uns nun wieder richtig dumm, und zwar so dumm, dass wir uns einfach erlauben, den unbeantwortbaren Fragen des Herrn Kant noch eine weitere hinzuzufügen: Was brauche ich wirklich?

Antwort: Kunst. Ja, denn jeder Mensch ist Künstler! Das hat ein Künstler gesagt. Joseph Beuys war’s, von dem allerdings die meisten Menschen, sprich Künstler, vermutlich eher fragen, ob der selber überhaupt Künstler war: Fettecken und Honigpumpen – Kunst? Diese Frage ist natürlich ebenso unbeantwortbar, aber immerhin nähern wir mit ihr der unmittelbaren Bedeutung von Kunst. Denn eigentlich geht es gar nicht ums „Brauchen“, sondern ums „Sein“, das sich am greifbarsten und gleichsam unfassbarsten in der Kunst offenbart und man landläufig „Kultur“ nennt.

Was ist Kultur? – Das immerhin ist ziemlich einfach zu beantworten: alles. Alles, was der Mensch fühlt, denkt und tut. Denn alles, was außerhalb der absoluten Notwendigkeit geschieht, unterliegt einem bestimmten Bild, welches wir uns vom Menschen machen, und das wiederum unser Zusammenleben in einer Gesellschaft bestimmt. Dafür gibt es andere Worte: Ideologie, Philosophie oder Humanismus – oder eben einfach „Kultur“. Der Mensch ist eben nicht nur von dieser Welt, sondern lebt in seiner kulturell geprägten fixen Idee, was das denn sei, die Welt, und welche Rolle er darin einnimmt. Kultur ist das Übersinnliche, und in dessen Sinne sind wir alle, sobald wir satt sind und im Trockenen sitzen, Esoteriker – mich natürlich ausgenommen! Ich bin selbstverständlich „Realist“ und klar: der einzige Realist weit und breit!

Träum süß, du Realist deiner selbst… Denn wie bestimmend das selbstgefertigte Menschenbild sogar in so „real“ daherkommenden ökonomischen Belangen ist, konnten wir hier ja letztes Mal sehen, als wir uns fragten, warum nun in der Post-Corona-Wirtschaft der Teufel wieder aktiv sein darf: Es ist das Bild eines durch Lohnarbeit befreiten Menschen, dass uns davon abhält, eine gerade dem freien Individuum angemessene Lösung zu finden. Man könnte das ganze Konjunkturpaketgeld ja nun auch einfach dazu nutzen, allen Bundesbürgern zu garantieren, dass ihnen, einmal in Einkommensnot geraten, eine auskömmliche Unterstützung zuteil wird, mit der sie nicht auf ein Essenstafel-Niveau fallen und sich auch nicht zuvor aller Ersparnisse und Wohneigentums entledigen müssten.

Der Rest würde schon von allein ergeben: Tatkraft oder Schlaffheit – der Mensch ist, wie er ist, und die Frage nach seinen Bedürfnissen klärte dann jeder für sich. Und ginge man, wie im Kapitalismus, davon aus, dass der Mensch eben doch ein aus sich selbst heraus aktives Wesen ist, dann könnte sich aus dieser individellen Lebenssicherheit schließlich eine ganz neue allgemeine Dynamik entfalten. Doch die nun seit über eineinhalb Jahrhunderten bestimmende industrielle Lohnarbeitskultur sorgt dafür, dass diese simple, an den Grundbedürfnissen des Menschen ausgerichtete Lösung weder den Ökonomen und ihrem politischen Arm, noch den Lohnarbeitern selbst in den Sinn kommen kann.

Also gut, verbleibend im Menschenbild der Erwerbskultur wird das nie was mit den einfachen Lösungen – schade eigentlich. Doch immerhin zeigt uns dieses Beispiel einmal mehr, dass „Kultur“ kein Bedürfnis unter vielen ist, sondern eine umfassende Seinsweise. Wer aber nun erkennen will, wie seine Kultur beschaffen ist, wohin sie sich bewegt oder darin gar nach Wegweisern sucht, der wende sich an die Kunst. Sie ist die Verkörperung des Übersinnlichen in unserer Gesellschaft. Und bei allem Mittun an dem, was man landläufig Normalität nennt, das Übersinnliche zu bewahren – das war für Immanuel Kant nur über die Kunst möglich. Und zu „wahren“ gilt es den Sinn fürs Übersinnliche allemal, denn, so Kant: „im Übersinnlichen liegt der Vereinigungspunkt aller unserer Vermögen“, Neudeutsch: der Sinne und des Denkens – und dieser Punkt ist dann der Mensch?

“Auch ohne zu wissen, was er ist, hat der Mensch einen Sinn dafür, was er ist” – sagt nun Jean-Luc Nancy: “Der Mensch merkt, dass es durchaus einen Wert hat, sich ein wenig Sinn zu geben, selbst wenn er spürt, dass es letztlich keinen endgültigen Sinn gibt”. Kunstwerke lassen sich der Ausdruck dieser Versuche der Sinngebung verstehen und sie geben darüber Auskunft, wie sich diese Sinnsuche in den unterschiedlichen Epochen jeweils gestaltet hat. In ihnen kann man das bestimmende Übersinnliche lesen – wenn es sich denn lesen lässt. „Schauen Sie sich die Kunstwerke von heute an: Kunst wurde zu etwas, das immer von der Frage begleitet wird, ob dieses oder jenes überhaupt Kunst ist?”, konstatiert der Straßburger Philosoph. Und doch: Wenn nämlich die heutige Kunst nur noch die Frage stellt, ob sie überhaupt noch Kunst ist, beschreibt Jean-Luc Nancy damit nicht ein tiefes Grundgefühl unserer Zeit: eine verwirrte Orientierungslosigkeit, die mit einem ziellosem Hyperaktivismus kompensiert wird?

Ist das so? – Dann könnte der Spaß ja jetzt losgehen! Dann können wir tun, wozu uns der Philosoph ermuntert, nämlich von den Kunstwerken auf den Zustand der Gesellschaft und ihrer Zukunft zu schließen. Welche Hinweise auf die Zeit nach Corona verbergen sich in der Kunst? Was wird uns die plötzliche Schockstarre neues bringen? Vielleicht nichts, weil sie dazu dann doch zu kurz war. Bisher zeichnen sich bestenfalls die Verstärkung eines Trends ab, der ohnehin schon spürbar war: die Rückkehr der Tagespolitik in die Kunst und den Kunstbetrieb. Bliebe immerhin die Frage, ob es unsere suchenden Seelen wirklich streichelt, wenn die Linien des Übersinnlichen ihren Vereingungspunkt im Politischen finden?

Ebenso könnte man nun spekulieren, welche Kunst aus unserer Zeit nachhaltig wirken wird. Werden es weniger die Werke selbst sein, als eher der Umgang mit ihnen? Das Schicksal der Fettecke von Joseph Beuys könnte einen Hinweis geben. Der Hausmeister der Düsseldorfer Kunstakademie hatte wenige Monate nach dem Tod des Künstlers Ecke von der fettigen Masse gesäubert. Ein aufmerksamer Künstlerkollege konservierte die ranzige Restbutter unter in einem Eimer. Er nannte dieses Werk nun: „Reste einer staatlich zerstörten Fettecke“. In einem gerichtlich festgestellten Vergleich musste das Land Nordrhein-Westfalen schließlich 40.000 DM Schadensersatz für den Verlust des ursprünglichen “Werkes” zahlen. Was lernen wir daraus? Dass Fett als Kunst zu einem beinahe religiösen Objekt werden kann. Spötter sagen ja schon länger: Kunst sei die Religion der Moderne, Museen, Akademien und Konzertsäle ihre Kathedralen. Und zwar für alle. Selbst jenen, die da gar nicht erst hingegen, vermittelt allein ihre Existenz das wohlige Gefühl einer erhabenen Kultur anzugehören – und siehe, so hätte eine Fettecke auch ihnen Sinn gestiftet?

Aber schenken wir uns an dieser Stelle das allzu wilde Spekulieren über den Sinn von Kunst. Kunst hat es immer gegeben und es wird sie immer geben – das allein beweist, das wir, die Sinnsucher, sie brauchen. Welche Kunst? Darf jeder für sich entscheiden. Was er mit dieser Kunst anfängt? Sich betäuben, zerstreuen, bilden, erbauen oder Zeichen der Zeit darin ausmachen – soll’s doch ein jeder halten mit Kunst, wie er’s will. Soll er sie bestaunen, belächeln, sich ärgern oder gleich selber welche machen. So oder so ist Kunst der Spiegel des Übersinnlichen, in dem wir unsere Kultur auf ihren Sinn hin einer genauen Betrachtung unterziehen können. Nichts werden wir dringlicher brauchen, schon gar, wenn uns nach dem – vorläufigen? – Ende der Coronaschockstarre alles wieder allzu schnell „normal“ erscheint. Die Kunst eröffnet die Chance, mit dem Übersinnlichen in Kontakt zu treten, ohne gleich esoterisch werden zu müssen – oder gar „esohysterisch“, wie so manche überpolitisierte Zeitgenossen. Kurz: Kunst ist kulturelle Selbsterkenntnis – und wer bedürfte ihr nicht nötiger als ich, der Realist meiner selbst.

Und nun nach der Theorie noch die praktischen Kulturhinweise:

Im Straßburg sind die städtischen Museen seit Samstag wieder geöffnet, außer das Toni-Ungerer-Museum, das erst am 3. Juli aufmacht, und das Zoologische Museum, welches wegen Renovierungsarbeiten noch bis 2023 geschlossen bleibt. Aber die gallo-römische und die elsässische Kultur, die Stadthistorie, Kunst des Mittelalters und der Moderne, sowie die Gemälde alter Meister – sie alle sind wieder unter den üblichen Hygieneauflagen wieder zugänglich.
Informationen gibt es hier.

Darüber hinaus haben kleinere Ausstellungsorte und Galerien geöffnet, darunter das CEAAC und die Fotogalerie La Chambre.

Diesen Termin gilt es sich vorzumerken: am 30. Juni wird die Straßbrger Philharmonie OPS ein erstes Konzert mit Publikum veranstalten: Musik aus drei Jahrhunderten, von Haydn bis Freddie Mercury.
DI 30. Juni, 20 Uhr im Palais de la Musique et des Congrès
Karten für 6 und 15 € gibt es hier!

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