Darf man Wolodomyr Selensky kritisch betrachten?

Wer heute den ukrainischen Präsidenten kritisch betrachtet, wird sofort als „Putin-Freund“ abgestempelt. In einer komplexen Welt wollen viele diese am liebsten Schwarz-Weiß sehen.

Die blinde Heldenverehrung Selensys ist in diesem Krieg wenig zielführend. Foto: President.gov.ua / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – Für die einen ist Wolodomyr Selensky schlicht ein Held. Für die anderen ist er ein Schauspieler, der seine Schäfchen offshore ins Trockene gebracht hat und der von Kiew aus seinem Volk das Sterben für den Ruhm des Vaterlands befiehlt. Vermutlich liegt die Wahrheit, wie so oft, irgendwo dazwischen, doch ist diese Debatte tabu. Vermeintliche Helden kritisiert man nicht. Auch, wenn sie gar keine Helden sind.

Seit 5 Monaten dauert der russische Angriffskrieg auf die Ukraine bereits an und hat nicht nur Abertausende Menschenleben gekostet, sondern auch das ohnehin schon brüchige wirtschaftliche und soziale Gleichgewicht des Westens ins Schlingern gebracht. Dabei hat es der ukrainische Präsident Wolodomyr Selensky geschafft, durch eine streng bilaterale Diplomatie einen Kriegs-Hype auch in westlichen Ländern auszulösen, wo mittlerweile selbst einstmals Friedensbewegte gar nicht genug Kriegswaffen und Geld in die Ukraine schaffen können – die Lust am Krieg ist ausgebrochen.

Selensky liefert der westlichen Politik und den Medien das, was diese wollen: Heldengeschichten. Es stimmt schon, dass in den letzten Jahren die weltweite Politik wenig Heldenhaftes hervorgebracht hat, sondern kollektiv dabei versagt, diesen Planeten und seine Bewohner zu schützen. Da sind die ukrainischen Heldengeschichten eine wohltuende Abwechslung. Nur, was ist heldenhaft, wenn man sein Volk opfert und sein Land von einer militärischen Übermacht zerstören lässt, ja, sogar selbst damit beginnt, Infrastrukturen auf dem eigenen Territorium zu zerstören und das dann als „Erfolg“ verkauft?

Die Entscheidung, sich gegen eine militärische Übermacht zu stellen, liegt einzig und alleine bei der Ukraine - und es besteht auch keinerlei Zweifel darüber, dass der Aggressor Putin heißt. Doch bedeutet dies nicht, dass man Selensky nicht kritisch hinterfragen darf und dass Kritik an Selensky bedeutet, dass man „Putin-Freund“ oder „Putin-Versteher“ ist. Doch da dieser Krieg in der Ukraine für Kiew nur geführt werden kann, wenn der Westen weiter kolossale Geldsummen und Waffen in die Ukraine pumpt, sollte wenigstens gestattet sein nachzufragen, was wir, der Westen, in der Ukraine eigentlich erreichen wollen.

Geschickt hat Selensky das Narrativ auf den Markt geworfen, dass in der Ukraine „europäische Werte“ und sogar die „Zukunft Europas“ verteidigt würden. Warum das angeblich so ist, hat bisher niemand ernsthaft hinterfragt, dazu klingt diese Kommunikation einfach zu gut. Doch haben in der Ukraine, bis zum Kriegsbeginn nach Ansicht selbst ukrainischer Experten das „korrupteste Land Europas“, noch nie „europäische Werte“ gegolten, die Zukunft Europas war noch nie von der Ukraine abhängig und das Land war bereits vor dem Krieg Lichtjahre davon entfernt, den Kriterien für eine Aufnahme in die EU zu entsprechen. Doch davon sollte man heute lieber nicht sprechen, denn der Westen hat Selensky zum Helden erklärt und Helden kritisiert man nicht.

Dabei steht der Name Selensky in den „Panama-Papers“, den geleakten Unterlagen über Prominente, die ihre Millionenvermögen offshore gebunkert haben, um in ihren jeweiligen Heimatländern keine Steuern zahlen zu müssen. Auch sein gespaltenes Verhältnis zum ultranationalistischen Asov-Regime ist unklar, doch das sind Nebensächlichkeiten. Und auch weitere Fragen sollte man lieber nicht stellen. Denn Helden kritisiert man nicht.

Anders verhält es sich mit der befohlenen Opferbereitschaft der Ukrainer. Der Donbass und ein großer Teil der Südukraine ist heute unter russischer Besatzung und die russische Armee wird sich von dort nicht mehr vertreiben lassen, auch, wenn die ukrainische Propaganda (die natürlich auch ungefiltert vom Westen übernommen wird) suggeriert, dass die Ukraine schon bald siegen wird und dass der Krieg dann schnell beendet ist. Genau die gleiche Propaganda haben die Menschen auch 1914 und 1939 gehört, was darauf hinweist, dass auch der Ukraine-Krieg sehr lange dauern und ungeheuer viele Opfer fordern wird. Nicht nur in der Ukraine, sondern auf der ganzen Welt. Da das so ist, sollte die Welt eigentlich auch mitreden, wie es in der Ukraine weitergeht und sich nicht auf die einfache Rolle des Waffen- und Geldlieferanten der Ukraine reduzieren lassen.

Es gibt viele Beispiele in der Geschichte, in der unterlegene Länder vor einer militärischen Übermacht kapituliert haben. – Das Ergebnis war fast überall das gleiche – die meisten Menschen haben diese Kriege und die Kapitulationen überlebt. Gleichzeitig hat sich kein einziges Unrechtsregime auf Dauer halten können und auch das sollte man berücksichtigen. Als Belgien und die Niederlande vor dem „1000jährigen Reich“ kapitulierten, fanden sie bereits 5 Jahre später ihre Souveranität wieder. Als die Tschechoslowakei vor dem sowjetischen Einmarsch kapitulierte, erlebte das Land einige schwierige Jahre, bevor knapp 30 Jahre später nicht nur die Besatzung vorbei war, sondern sich das Land wie gewünscht in die Tschechische Republik und die Slowakei aufteilen konnte. Bedeutet das, dass Alexander Dubcek in Prag ein Feigling oder ein Weichei war? Er war ein Realpolitiker, der sich weigerte, sein Volk einem sinnlosen Gemetzel auszusetzen und das Ergebnis gab ihm Recht – die 30 Jahre sowjetischer Besatzung forderten weniger als 100 Menschenleben. Und die Sowjetunion gibt es nicht mehr.

Doch ist heute alleine schon die Forderung nach europäischer Abstimmung und einer europäischen Strategie für diesen Krieg ein Grund, als „Putin-Freund“ abgestempelt zu werden. Das liegt daran, dass die Menschen in einer immer komplexeren Welt möglichst einfache Antworten haben möchten. Putin ist das Schwein, also ist Selensky der Held. Aber so einfach ist es eben nicht.

Unsere Politiker haben die Pflicht und Schuldigkeit, mehr zu tun, als sich in olivgrünen T-Shirts grinsend in Kiew fotografieren und sich langsam, aber sicher, von Selensky in den III. Weltkrieg manövrieren zu lassen. Europa muss darüber nachdenken, was es in dieser Situation erreichen will und ob man wirklich bereit ist, die eigenen Länder in tiefstes Chaos zu stürzen, damit der im Grunde bereits verlorene Krieg in der Ukraine noch möglichst lange dauern kann. Und der Ukraine-Krieg betrifft nicht nur Europa, sondern wird Kettenreaktionen auslösen.

Der von diesem Krieg ausgelöste Hunger in der Welt wird zu neuen Flüchtlingswellen führen und die Flüchtlinge werden sich dorthin orientieren, wo es vermeintlich Schutz, Essen und Trinken und keine Bombeneinschläge gibt. Das ist logisch und wir müssen uns die Frage erlauben, ob wir das wollen. Einfach Selensky hinterherzudackeln und den ukrainischen Präsidenten die Weltstrategie bestimmen zu lassen, könnte sich als massiver Fehler herausstellen.

Sind diese Überlegungen ein Zeichen dafür, dass man „Putin-Freund“ ist? Sicher nicht, denn Putin ist alleine für diesen Krieg verantwortlich. Putin ist so etwas wie ein „Welt-Feind“, was allerdings niemanden, nicht einmal die Ukraine, davon abhält, weiter Geschäfte mit Energieträgern aus Russland zu machen. Nur – Fragen sollte man lieber nicht stellen, denn der Westen hat beschlossen, dass man entweder Selensky-Anbeter ist oder aber Putin-Freund.

Dabei gibt es noch zahlreiche Optionen, die bislang nicht ausgelotet wurden. Doch Optionen, die in Richtung Waffenstillstand oder gar Frieden gehen, stehen nicht hoch im Kurs, dazu ist die Kriegs-Geilheit einfach zu groß. Will die Welt wirklich sehen, ob Putin am Ende sein nukleares Arsenal einsetzt? Wollen wir es wirklich wissen? Wollen wir Bürgerkriege und Versorgungs-Kämpfe bei uns und in anderen Teilen der Welt? Sind wir bereit, für den längst unter russischer Kontrolle stehenden Donbass jahrzehntelange Konflikte in anderen Teilen der Welt zu akzeptieren?

Diese Diskussionen müssen ergebnisoffen geführt werden, da so viele Dinge berücksichtigt werden müssen, dass es keine einfachen Antworten gibt. Nur eines ist klar: Die verklärte Heldenverehrung Selenskys ist dabei wenig hilfreich. Der Mann ist kein Messias, sondern ein Kriegsherr, der für den Ruhm seines Landes bereit ist, seine Bevölkerung zu opfern und sein Land zerstören zu lassen. Und ja, man darf (und muss) Selensky kritisch hinterfragen, ohne dass man dadurch zum „Putin-Freund“ wird.

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