Das Boris-Bashing können wir uns auch schenken…

Boris Johnson ist nicht das Problem – er ist die letzte Eskalationsstufe einer Entwicklung, an der die EU genauso viel Schuld trägt wie die Briten selbst. Niemand hat die Zeichen der Zeit verstanden.

Nicht nur Downing Street 10 hat versagt, sondern auch das "Europäische Viertel" in Brüssel (Bild)... Foto: Zinneke / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 3.0

(KL) – Der niemals gewählte Boris Johnson, von rund 93.000 Parteigängern zum Regierungschef gemacht, ist eigentlich gar nicht das Problem. Er ist das Ergebnis der Gleichung (Cameron + May) geteilt durch Corbyn minus Bercow. Natürlich ist es jetzt einfach für uns Europäer, auf die dämlichen Briten zu schimpfen, während es umgekehrt für die Briten einfach ist, mit dem Finger auf die unflexiblen und gemeinen Europäer zu zeigen. Doch in den drei Jahren, die sowohl die Briten als auch die Europäer seit dem Referendum 2016 hatten, haben alle zusammen versagt. Auch wir Europäer. Eine Analyse dessen, was da geschehen ist, wäre durchaus hilfreich, wenn sich irgendwann der nächste Austrittskandidat meldet.

Sich heute am Politclown Boris Johnson abzuarbeiten, bringt wenig. Denn das Brexit-Problem gärte schon seit vielen Jahren, nicht erst seit dem Referendum 2016, das weder rechtlich bindend, noch auf der Grundlage von Informationen organisiert worden war. Das Problem begann viel früher, nämlich in dem Moment, in dem sich ein europäisches Land, nämlich Großbritannien, nicht mehr in den Institutionen wiederfand. Und wenn man einmal genau hinhört, ist das in anderen Ländern auch nicht viel anders – zwar ist die Mehrheit der Europäerinnen und Europäer immer noch von der Europäischen Idee überzeugt, nicht aber von deren Institutionen, die von vielen nur noch als aufgeblasener Verwaltungsapparat im Dienste der Finanzmärkte und von Big Business wahrgenommen wird.

Nach dem niederschmetternden Ergebnis des Referendums 2016 glaubten die Europäer nicht daran, dass dieses Votum tatsächlich zu einem tiefen Riss in Europa führen könne. Konnte es aber, weil sowohl die Briten als auch die Europäer nicht reagierten. Die über 48 % „Remainer“ (plus die 3 Millionen Auslandsbriten) starteten ebenso wenig wie die EU eine groß angelegte Charme- und Kommunikations-Kampagne, um die Briten von den Vorteilen eines Verbleibs in der EU zu überzeugen, noch begann irgendjemand mit der Ausarbeitung eines „neuen europäischen Projekts“, obwohl das von fast allen politischen Strömungen am Tag der Ergebnisverkündung 2016 angekündigt worden war.

Dass die 500 Millionen Europäerinnen und Europäer nicht mehr mit ihren undurchsichtigen Institutionen klarkommen, das ist etwas, was man in Brüssel und Straßburg ernst nehmen sollte. Die EU befindet sich heute im Spannungsfeld zwischen einem demokratisch gewählten Parlament in Straßburg und der sehr undemokratisch und hinter verschlossenen Türen agierenden Europäischen Kommission und über allem schwebt der Europäische Rat. Dazu kommt das völlig überholte Grundprinzip der Einstimmigkeit, das selbst die Aktivitäten jedes privat geführten Vereins zum Erliegen bringen könnte. Zehntausende Beamte beziehen hervorragende Gehälter für Dinge, von denen niemand weiß, wo, wie und warum sie passieren. Die Funktionsweise der europäischen Institutionen ist nicht mehr zeitgemäß und müsste folglich komplett neu aufgesetzt werden.

Das war die Nachricht, die das britische Volk schon lange im Vorfeld des Brexit-Referendums nach Europa geschickt hatte. Und offenbar wurde sie ja auch gehört, sonst hätten die EU-Oberen nicht nach diesem Referendum ein „neues europäisches Projekt“ angekündigt. In drei Jahren hätte man eigentlich in der Lage sein müssen, ein solches neues europäisches Projekt zu entwickeln – nur, es hat sich niemand darum gekümmert. Weder in Großbritannien, noch in Europa.

Wofür haben wir denn all die europäischen Hochschulen, Think Tanks, hoch bezahlten Beamten? Mit all diesen Ressourcen ist es nicht möglich gewesen, sich eine neue, moderne, schlankere und effizientere Funktionsweise für die EU auszudenken? Statt die Interessen der 500 Millionen Europäerinnen und Europäer wirkungsvoll in der Welt zu vertreten, beschränkt sich die EU darauf, sich selbst zu verwalten. Mit ausgeprägter Verwaltungsmentalität, ohne politischen Elan.

Und genau an der Stelle muss sich die EU auch an die eigene Nase fassen. Weder waren wir in der Lage, die EU so zu strukturieren, dass sie wirklich in Namen der Bürgerinnen und Bürger agiert, noch waren wir in der Lage, uns angesichts der wachsenden Unzufriedenheit mit dem Entwurf eines neuen, moderneren Europas zu beschäftigen.

Unabhängig davon, wie zu Halloween die Brexit-Posse endet – die Probleme des institutionellen Europas werden nicht enden. Und zwar solange, bis jemand den politischen Mut aufbringt, die Funktionsweise der europäischen Institutionen zu hinterfragen und mit der Ausarbeitung dieses „neuen europäischen Projekts“ zu beginnen. Denn ansonsten werden nach dem Brexit noch andere „-exits“ stattfinden, wenn wir nicht langsam (oder besser schnell) damit anfangen, Europa grundlegend zu reformieren. Das größte Friedensprojekt in der Geschichte dieses Kontinents wäre es wert, dass man diese Anstrengung auf sich nimmt.

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