Das Ende eines europäischen Minderwertigkeitskomplexes

Die anhaltenden Unruhen in Frankreich und die Unfähigkeit aller Beteiligten, diese Krise zu lösen, beendet einen langjährigen Minderwertigkeitskomplex der übrigen Europäer.

Solche Bilder prägen gerade das Image Frankreichs auf der Welt. Nicht sehr förderlich. Foto: Eurojournalist(e) / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – Ach, liebe Franzosen und Französinnen! Was haben wir euch beneidet, wie lange haben wir in diesem Gefühl gelebt, dass alles in Frankreich besser, eleganter, leckerer, und schöner sei! Wie neidisch hat Europa auf Frankreich geschaut, auf die Haute Couture, die edle Gastronomie, die freiheitliche Geschichte, die schönen Frauen und Latin Lovers, auf diese Leichtigkeit des Seins an einem sonnigen Nachmittag auf einer Terrasse unter den Platanen – das ist es, was uns schon als Kinder unter dem Begriff „Leben wie Gott in Frankreich“ zum Träumen brachte.

„Leben wie Gott in Frankreich“? Dieser Ausdruck sagt alles. Zum Einen, dass man im Ausland davon ausging, dass wenn Gott ein Land als Wohnsitz zu wählen hätte, dass dies Frankreich sei, da dort eben die Lebensqualität am höchsten ist. Wahrscheinlich hätte er als Wohnsitz das Schloss Chambord gewählt, wo sich französische Könige, Präsidenten und wohl auch Demonstranten am wohlsten fuhlen.

Ja, Europa hat euch bewundert, liebe Französinnen und Franzosen, für diese grandiose Stadt Paris, die Architektur, die Prachtboulevards, die Stadtpaläste, das schnelle, elegante Leben, die Liebe an der Seine, die Sterne eines Paul Bocuse, eure Schauspieler von Depardieu bis Jean Gabin, eure Poeten von Baudelaire bis Boris Vian – und seit einigen Monaten schlägt das alles um.

Aber vielleicht merkt ihr das noch gar nicht, liebe Französinnen und Franzosen, dass in unseren Nachrichten die Bilder von den „Gelbwesten“-Demos direkt nach denen von den Demos aus Venezuela kommen, und dass sich die Bilder gleichen. Bis an die Zähne bewaffnete Polizisten nebeln die Hauptstädte ein, wütende Demonstranten versuchen, die Symbole der Nationen zu stürmen und zu schänden, die Gewalt hat in den Straßen Einzug gehalten und selbst so eklige Phänomene wie ein neuer, ewig alter Antisemitismus drückt sich wieder in aller Öffentlichkeit aus. Das ist das, was man gerade im Ausland vermerkt. Ebenso wie den Umstand, dass die französische Wirtschaft, genau im Moment eines leichten Aufschwungs, durch diese hausgemachte Krise wieder um Jahre zurückgeworfen wurde.

Das Land der Liebe? Kann man heute noch verliebt über die Champs-Elysees oder an der Seine entlang bummeln? Vielleicht noch unter der Woche, doch welcher Tourist kommt nun schon freiwillig am Wochenende nach Paris? Um sich bei „Akt XX“ das Tränengas um die Nase wehen zu lassen? Oder um einen verirrten Schlagstock abzubekommen?

Rechtsextreme, Linksextreme, Antisemiten und andere seltsame Gestalten prägen gerade die Stadtbilder auch in der Provinz. Nach Bordeaux oder Toulouse fährt momentan nur noch, wer dort beruflich zu tun hat und ansonsten macht man einen großen Bogen um Frankreich, das als Reiseziel gerade fast so attraktiv ist wie die Türkei.

Und wenn man dann sieht, wer das Land gerade lahmlegt, dann hat das nichts mehr mit dem Frankreich zu tun, das wir so bewundert haben. Denn solche haben wir auch. Die demonstrieren auch regelmäßig, vor allem in Sachsen, wollen auch aus Europa aussteigen, haben etwas gegen Flüchtlinge, Juden, Homosexuelle und andere Minderheiten. Das also gibt es auch Frankreich. Und das ist dann ebenso wenig bewunderswert wie in Dresden, Chemnitz oder Leipzig.

Aber „Dankeschön!“, dass ihr uns damit von diesem uralten Minderwertigkeitskomplex befreit habt. Hinter der Fassade der urbanen Eleganz, des freiheitlichen und unabhängigen Geistes, der führenden Kultur Westeuropas, schlummern die gleichen Dämonen wie bei uns. Es wäre an der Zeit, diese Dämonen, die Europa wieder und wieder ins Unglück gestürzt haben, gemeinsam zu bekämpfen, über alle Grenzen hinweg. Damit es eines Tages wieder heißen kann „Leben wie Gott in Frankreich“.

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