Das „Vel d’Hiv“ – ein französisches Trauma

Am Wochenende jährte sich zum 80. Mal ein schlimmes Kapitel der Geschichte. Am 16./17. Juli 1942 verhafteten französische Polizisten über 13.000 jüdische Mitbürger, die nach Auschwitz gebracht wurden.

Auf dieser Mauer in Paris stehen die Namen der Kinder, die vom Vel d'Hiv nach Auschwitz deportiert wurden. Foto; Benoît Prieur / Wikimedia Commons / CC0 1.0

(KL) – Die Verhaftung von mehr als 13.000 jüdischen Mitbürgern am 16./17. Juli 1942, darunter ein Drittel Kinder, die bis zu ihrem Transport ins Todeslager nach Auschwitz in der Radsport-Halle „Vélodrome d’Hiver“ in Paris zusammengepfercht wurden, ist ein schwarzer Fleck in der jüngeren französischen Geschichte, der so gar nicht zum französischen Selbstverständnis passt, nach dem während des II. Weltkriegs mehr oder weniger alle Franzosen im Widerstand waren.

Die Aktion „Vel d’Hiv“ wurde auf Betreiben des jungen Polizeichefs der Kollaborations-Regierung von Vichy, René Bousquet, von der französischen Polizei durchgeführt, was den Nazi-Besatzern sehr Recht war, da sie keine Soldaten hierfür mobilisierten. Zwar versuchten andere Mitglieder der Vichy-Regierung noch, die Aktion „abzumildern“, indem sie forderten, dass „nur“ ausländische Juden verhaftet und den Nazi-Henkern überstellt werden sollten, doch während der Verhaftungswelle legten die französischen Polizisten einen erstaunlichen Übereifer an den Tag und verhafteten weitaus mehr Menschen als das von den Nazis gefordert worden war.

Gewiss, rund um das „Vel d’Hiv“ gibt es auch Erzählungen von französischen Polizisten, die jüdische Mitbürger warnten und ihnen genug Zeit zum Untertauchen gaben, doch diese Geschichten der Menschlichkeit sind die Ausnahme – die gesamte Aktion stellt ein Traum dar, das Frankreich bis heute nicht verarbeitet hat. Denn dass Franzosen andere Franzosen verhaften und diese ihren Mördern ausliefern, das ist Kollaboration in Reinkultur.

René Bousquet verfolgte bei dieser Aktion ein sehr persönliches Ziel. Der junge Karrierist, der in Vichy schnell Karriere gemacht hatte, wollte eine möglichst unabhängige Polizei im nicht besetzten Teil Frankreichs unter seiner persönlichen Kontrolle haben. War zunächst geplant, dass die Aktion von deutschen Soldaten durchgeführt werden sollte, überzeugte Bousquet die Besatzer davon, dass die französische Polizei dies besser alleine durchführen könnte, um sich als zuverlässiger Partner der Nazis zu präsentieren.

Nur knapp 100 der über 13.000 deportierten jüdischen Mitbürger überlebten Auschwitz und den Krieg. Und seitdem stellt sich die Frage, wie es sein konnte, dass französische Politiker und die französische Polizei so motiviert mit den Nazis kollaborieren konnten. Hier gibt es noch geschichtlichen Aufholbedarf, denn in den Jahren vor dem II. Weltkrieg und der folgenden Besatzung, gab es zahlreiche Franzosen, die sich mit der kranken Ideologie der Nazis identifizieren konnten. Das hört zwar heute niemand mehr gerne, doch gehört es zur historischen Aufarbeitung des II. Weltkriegs, dass man wissenschaftlich ergründet, was auch Franzosen (und Menschen in anderen Ländern) in die Arme der Nazi-Ideologie trieb.

Fünf Tage blieben die Verhafteten im „Vel d’Hiv“, ohne sanitäre Einrichtungen, ohne Wasser, ohne Verpflegung, in höchster Todesangst, bevor sie in den Zügen des Todes nach Auschwitz gebracht wurden, wo die meisten unmittelbar nach der Ankunft vergast wurden.

Nachdem im letzten Präsidentschafts-Wahlkampf der Kandidat Eric Zemmour versucht hatte, das Handeln der Vichy-Regierung zu rechtfertigen („Vichy hatte versucht, jüdische Menschen zu retten“) ist es wichtig, die historische Aufarbeitung möglichst präzise zu gestalten, damit sich solche Geschichtsverfälschungen nicht im kollektiven Bewusstsein verankern können.

Wenn man die Geschichte des „Vel d’Hiv“ anschaut, möchte man, dass nie wieder Krieg ist, damit sich solche menschlichen Abgründe nicht wiederholen können. Doch Frieden und Verständigung haben heute keinen hohen Stellenwert – es ist wieder Krieg und auch dieser Krieg wird Horrorereignisse wie das „Vel d’Hiv“ zeitigen. Und niemand sollte hinterher behaupten, er habe nicht gewusst, dass Krieg dazu führt, dass Menschen ihren niedersten Instinkten freien Lauf lassen und solche Verbrechen begehen.

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