Demokratie geht auf den Geist

Geistlose Populisten nerven, aber noch schlimmer ist es mit der Demokratie, die ist nämlich anstrengend und anspruchsvoll. Jedenfalls wenn man mit ihr ernst macht. Wie in Kingersheim im Elsass.

Ein moderner Bürgermeister, der für direkte Demokratie kämpft... Foto: Ville de Kingersheim

(Red) – Im Frankreich ist Jo Spiegel bereits ein bekannter Politiker, obwohl er „nur“ Bürgermeister eines kleineren Städtchens im Departement Haut-Rhin ist. Doch es ist eben nicht sein Amt allein, das ihm seinen Bekanntheitsgrad beschert, sondern die Art und Weise, wie er es versteht und ausführt. Sein Kingersheim ist in Frankreich bereits zum Synonym für direkte Demokratie geworden. Am vergangenen Sonntag stand er nun auch auf der anderen Seite der Rheins im Deutschlandfunk Rede und Antwort über das Modell der „konstruierenden Demokratie“, das in dem Vorort vom Mühlhausen praktiziert wird – und über die Zukunft der repräsentativen Demokratie in populistischen Zeiten.

Denn die heutige Form der Demokratie, die sich für die meisten Bürger in zyklisch abgehaltenen Wahlen erschöpft, wird zunehmend infrage gestellt – ausgerechnet von jenen, die von sich behaupten, sie sprächen für das Volk. Was tun, um der populistischen Herausforderung entgegenzutreten? Mehr Demokratie wagen, rät Joseph Spiegel, und in Kingersheim tut er es auch: Seine Gemeinde ist zum Pilotprojekt stringenter Bürgerbeteiligung in Frankreich geworden. Regelmäßig finden Bürgerkonferenzen statt, partizipative Räte mit ausgelosten Teilnehmern arbeiten die Beschlussvorlagen für den Stadtrat aus, der sie dann noch formal bestätigt. Diese Form der Beteiligung ist sehr anspruchsvoll, Bürger und Politiker brauchen neben dem Willen, ergebnisoffen und konstruktiv zusammenzuwirken, vor allem Geduld.

Direkte Demokratie ist ein anstrengender Lernprozess für alle Beteiligten. Bürger müssen bereit sein, sich erst einmal das Wissen anzueignen, das vielen Entscheidungen zugrunde liegt, und sich auch darüber klar werden, dass jede Entscheidung für etwas gleichzeitig eine Entscheidung gegen etwas ist. Und Politiker müssen lernen, dass ihre Prioritäten nicht unbedingt von den Normalsterblichen geteilt werden. Und wenn sie das nicht begreifen und trotzdem so etwas wie direkte Demokratie üben lassen, geht die Debatte meist am Thema vorbei.

Das Paradebeispiel dafür lieferte die so genannte „Schlichtung“ beim Bau des Megabahnhofs Stuttgart 21. In neun öffentlichen Sitzungen besprachen Fachleute, Bürgerexperten und Vertreter aus Politik und des Bauherrn alles, was sie für alles hielten: Finanzen, Umwelt, Juchtenkäfer, Bahnsteiglängen, Passagierumschlagzeiten bis hin zur Eignung des Gipskeupers für die Tunnelbohrung – nur über den eigentlichen Grund, der viele Menschen erst zu Wutbürgern werden ließ, nicht: die emotionale Verbundenheit mit dem Bestehenden und ja, auch dem „Schönen“. Dafür gibt es in der Politik keine Sprache und auch der Bürgermeister von Kingersheim musste sie erst erlernen. Als es dort um den Abriss eines alten Gutshofes ging, regte sich Widerstand unter den Alteingesessenen, sie fanden ihn „schön“. Jo Spiegel: „Um die Dimension des Schönen zu erfassen, muss ein Politiker zu allererst zuhören können.“

Das gilt auch für die Ängste, die heute oft den Diskurs bestimmen, ohne dass man ihrem Ursprung wirklich auf den Grund geht. Wie aber kann eine Demokratie auf unterschwellige Sorgen und vage Empfindungen reagieren? Wäre es zu einfach sich der Erfahrung der Küchenpsychologie zu bedienen, wonach Reden lassen wichtiger ist als Recht haben? Könnte die dialogische Form der Demokratie auch eine therapeutische Funktion wahrnehmen?

Bisher wird der demokratische Diskurs bestimmt von Politikern, die alle Probleme kompliziert und dringlich erscheinen lassen, von Bürgerbewegten aus der soziokulturellen Elite, die den Beitrag der Bürgerseite okkupieren, und von infantilisierten Bürgern, die verlangen, man müsse sich besonders um ihre Anliegen und Meinungen kümmern. Ein institutionell gestalteter Prozess der Entscheidung, in dem auf klar geordneten Bahnen die Diskussion in eine kollektive Intelligenz mündet, wäre, so Jo Spiegel, das Antidot gegen den Populismus. Ein völlig untaugliches Mittel dazu sei übrigens die bislang angewendete Form der direkten Demokratie: das Referendum, worin es lediglich um Ja und Nein geht, und das keine auszuhandelnden Schattierungen mehr zulässt.

Davon allerdings, dass die „konstruierende Demokratie“ dem Populismus auf nationaler Ebene Einhalt gebieten konnte, ist auch Kingersheim noch weit entfernt. Denn obwohl der Bürgermeister fünf Mal hintereinander mit großer Mehrheit wieder gewählt wurde, stimmten viele Kingersheimer bei nationalen Wahlen der letzten Jahre für den Front National. Ob die hohen Zustimmungswerte für den Bürgermeister auch damit zu erklären sind, dass sich in ihrer eigenen Gemeinde selbst jene ernst genommen fühlen, die sich von der „großen“ Politik eher verlassen wähnen?

Höchste Zeit also, um vielleicht auf nationaler Ebene ebenfalls die politische Debatte für alle zu öffnen? In dem Gespräch im Deutschlandfunk zieht Joseph Spiegel Bilanz und versucht einen Ausblick auf die Entwicklung der Demokratie – so sollte zum Beispiel zum Thema Rente, wo die üblichen Akteure aus Arbeitgebern, Gewerkschaften, Versicherungsträgern und Politikern keine langfristig tragbaren Systemideen mehr zustande bringen, ein partizipativer Rat eingerichtet werden. Oder noch wichtiger: ein Vetorecht der Natur und des Klimas könnte in der Verfassung verankert sein. Eine zweite parlamentarische Kammer, die sich aus Experten und per Los bestimmten Bürgern zusammensetzt, kann Parlamentsentscheidungen für nichtig erklären, wenn ihre Projekte den langfristigen ökologischen Bedürfnissen widersprechen. Jo Spiegel ist sich am Ende des Gespräches im Deutschlandfunk sicher: „Dieses Vetorecht wird kommen, weil es muss.“

Das Gespräch mit Jo Spiegel im Deutschlandfunk in voller Länge als Text und Audio finden Sie, wenn Sie HIER KLICKEN!

1 Kommentar zu Demokratie geht auf den Geist

  1. Irene Kircher // 28. Januar 2019 um 14:20 // Antworten

    Sehr geehrter Herr Spiegel,
    ich habe vor kurzem am Radio einen Bericht gehört über Ihre Bürgermeistertätigkeit, den BürgerInnen zuzuhören und sie in Ihre Arbeit einzubinden. Wie viele, die von Ihrer Arbeit hören, bin ich auch sehr begeistert. Die Presse bemüht sich wohl z.T. sehr darum, Ihre direkte Demokratie der Öffentlich bekannt zu machen.
    Ich wünsche mir sehr, Sie könnten mit unserer Regierung reden und sie beraten. Ich fürchte nur, sie ist beratungsresistent “auf diesem Ohr”. Vor allem die Bevölkerung in den neuen Bundesländern braucht es, dass ihnen zugehört und sie ernst genommen werden.
    Ich wünsche es mir so sehr, Ihr Vorbild würde Schule machen. Mir bereitet die politische Entwicklung große Sorgen.
    Für Sie hoffe ich, dass Sie viel positive Rückmeldung bekommen und damit weitere Energien, Ihre Ideen zu verbreiten.
    Mit freundlichen Grüßen
    I. Kircher

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