Den Französinnen reicht es

150 000 Frauen (und Männer) haben am Samstag in Frankreich gegen Gewalt gegen Frauen demonstriert. Ist das der Startschuss für einen gesellschaftlichen Wandel?

Auch in Strassburg demonstrierten am Samstag Tausende DemonstrantInnen. Foto: Marc Chaudeur / Eurojournalist / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – Die Zahlen sind erschreckend und ähneln stark denen in Deutschland. Denn Frankreich und Deutschland sind diejenigen Länder in Europa, in denen die Zahlen die statistisch meisten Fälle von Gewalt gegen Frauen verzeichnen. Ob der Aktionstag am Samstag der Auftakt für eine gesellschaftliche Veränderung war?

Eine von zwei Frauen hat nach Angaben des Vereins „Odoxa“ bereits sexuelle Gewalt erlebt; 16 % der gesamten französischen Bevölkerung (Frauen und Männer) war als Kind Opfer sexueller Gewalt; täglich werden in Frankreich 200 Frauen vergewaltigt; 80 % (!) aller behinderten Frauen in Frankreich werden Opfer sexueller Übergriffe – und in diesem Jahr wurden bereits 137 Frauen von ihren Partnern oder Ex-Partnern getötet. Zahlen, die nur schwer zu ertragen sind.

Das Phänomen ist natürlich nicht neu – nur dass bisher dieses Thema weitgehend totgeschwiegen wurde, ein gesellschaftliches Tabu, zumal die große Mehrheit dieser Übergriffe im familiären Kontext und Freundeskreis erfolgt. Dies erklärt auch die immense Dunkelziffer, denn viele Fälle werden nirgends gemeldet und folglich auch nicht erfasst.

Doch von Seiten des Staats gibt es kaum Hilfestellungen für Opfer sexueller Gewalt. Rund 80 % aller Verfahren wegen häuslicher Gewalt werden eingestellt und bedrohte Frauen müssen sich nicht viel Hilfe von der Polizei erwarten, wenn sie sich wegen Gewalt und/oder Morddrohungen an die Freunde und Helfer wenden. In der Regel weigern sich diese, eine Anzeige aufzunehmen und erklären achselzuckend, dass „sie nichts machen können, so lange nichts passiert ist“, wie in dem kürzlichen Mord an einer Frau im elsässischen Oberhoffen – die Frau hatte sich mehrfach an die Polizei gewandt, nachdem sie bereits Opfer von Gewalt wurde und ihr Ex-Partnern gedroht hatte, sie zu töten. Reaktion der Behörden – keine.

Doch nun reicht es den Französinnen und auch vielen Franzosen. Der erste Schritt hin zu einer Veränderung ist es, das Schweigen und das Tabu zu brechen. Und dann ist tatsächlich der Staat und Gesetzgeber gefordert – zum einen müssen endlich Regelungen getroffen werden, dass bei häuslicher Gewalt der Aggressor ein sofortiges Hausverbot erhält, zusammen mit der Androhung einer sofortigen Inhaftierung, falls er gegen dieses Haus- und Kontaktverbot verstößt. Der Grund ist einfach – Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt werden, leben oft in wirtschaftlicher Abhängigkeit ihrer Partner und Peiniger und haben schlicht nicht die Möglichkeit, alleine oder mit Kindern einfach die gemeinsame Wohnung zu verlassen, um sich in Sicherheit zu bringen. Doch wenn es für die Opfer in der Praxis nicht möglich ist, sich zu trennen, dann muss der Aggressor entfernt werden und diese Maßnahme muss mit aller Härte des Gesetzes durchgesetzt werden. Statt die Ressourcen der Polizei mit der Jagd auf kleine Kiffer zu verplempern, wäre es sinnvoller, diese Ressourcen zum Schutz der Hälfte der Bevölkerung einzusetzen.

150 000 DemonstrantInnen in ganz Frankreich, Vereine und andere Organisationen, die für den Schutz von Opfern kämpfen – auch hier kann der Staat aktiv werden, beispielsweise durch die Finanzierung von Frauenhäusern, Opferanwältinnen, Notfall-Anlaufstellen. Denn es reicht nicht mehr, wenn nach jedem der bislang 2019 erfolgten Morde an Ex-Partnerinnen „weiße Märsche“ zu organisieren und seine Betroffenheit zu verkünden.

Häusliche Gewalt ist etwas, das auf die politische Agenda gehört und zwar mit höchster Priorität. Es müssen entsprechende Änderungen der Rechtslage durchgeführt und Mittel für den Opferschutz bereitgestellt werden. Die Demonstrationen vom Samstag waren ein wichtiger Schritt, dieses Thema noch sichtbarer im kollektiven Bewusstsein zu verankern. Häusliche Gewalt ist alles andere als ein Kavaliersdelikt, es handelt sich um ein kriminelles Verhalten, das dafür sorgt, das für Frauen der gefährlichste Ort die eigenen vier Wände sind. Und diesen Zustand zu akzeptieren und nicht auf allen Ebenen Maßnahmen zu ergreifen, das ist der Offenbarungseid der Gesellschaft vor der Gewalt. Es wird Zeit, die Prioritäten der gesellschaftlichen Projekte neu zu definieren. Sofort.

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