Der Ärger mit der „Taxonomie“
Das Europäische Parlament in Straßburg hat Gas- und Atomkraftwerke als „klimafreundlich“ eingestuft. Das bringt den Betreibern viel Geld und den Gegnern viel Ärger.
(KL) – Die aktuelle Situation rund um den Ukraine-Krieg und die damit verbundene Verknappung von Energie-Ressourcen zwingt heute viele zum Umdenken. Zu einem Zeitpunkt, zu dem die europäischen Regierungen laut darüber nachdenken, wie man über den nächsten Winter kommt, werden immer mehr Forderungen laut, die Atomkraft, aber auch Gas- und Kohlekraftwerke entweder länger laufen zu lassen als geplant oder sogar zu reaktivieren. Man wäre geneigt, die aktuelle Abstimmung im Europäischen Parlament in diesem Zusammenhang zu betrachten. Doch das ist falsch – die neue Einstufung von Gas- und Atomkraftwerken als „klimafreundlich“ wurde bereits weit vor Beginn des Ukraine-Kriegs von den entsprechenden Lobbys in Brüssel betrieben. Und die haben nun gewonnen. Was bedeutet, dass ihre Auftraggeber jede Menge Geld verdienen werden.
Im Prinzip ist die „Taxonomie“ keine schlechte Sache. Die Einstufung von Energieträgern als „klimafreundlich“ und „nachhaltig“ dient unter anderem dazu, private und öffentliche Investitionen in klimafreundliche Bereiche zu lenken, Projekte in diesen Bereichen förderwürdig zu gestalten und dafür zu sorgen, dass Investitionen möglichst nicht mehr in klimaschädliche Bereiche laufen.
So war dann auch die erste Runde der „Taxonomie“ im letzten Jahr durchaus erfreulich. So wurden Photovoltaik, Hydraulik und Windkraft als „klimafreundlich“ und daher geeignet für Förderungen und Investitionen erklärt. Dass jetzt Gas- und Atomkraftwerke hinzukommen, hat mit dem Ukraine-Krieg nichts zu tun, sondern damit, dass die Lobbys der Energiewirtschaft in Brüssel enorme Aktivität an den Tag legen. Das zeigte sich auch bei der gestrigen Abstimmung im Europäischen Parlament, als nur 278 Abgeordnete gegen die Einstufung dieser beiden Energieträger in die „Taxonomie“ stimmten – erforderlich wären 353 Stimmen gewesen. Und somit gelten nun gas- und Atomkraftwerke als „klimafreundlich“ und dürfen munter gefördert werden.
Diese Lobby-Aktivitäten, die nicht etwa auf die Versorgungssicherheit abzielen, sondern auf die Profitmaximierung der Betreibergesellschaften, verwässern damit allerdings auch die aktuell notwendige Debatte, wie man die ausbleibenden Energielieferungen aus Russland abfedern kann. Die Sorge, wie Industrie und private Haushalte den nächsten Winter überstehen sollen, ist real. Daher muss die Debatte über Zwischenlösungen ergebnisoffen geführt werden und der Ukraine-Krieg zwingt dazu, auch Lösungen zu prüfen, die unter normalen Umständen nicht vorstellbar wären.
Dazu gehört auch, sich Gedanken über eine temporäre weitere Nutzung der Atomkraft zu machen und eventuell die Nutzung so lange weiterzuführen, bis eine Gas- und Energieversorgung aus anderen Quellen zuverlässig funktioniert. Dabei ist die weitere Nutzung von Kohlekraftwerken eigentlich keine Lösung, denn diese Kraftwerke sind die schlimmsten Umweltbelaster und müssten eigentlich so schnell wie möglich heruntergefahren werden.
Dass sich nun erneut die Atom-Lobbys in Brüssel durchgesetzt haben und die Europaabgeordneten bereitwillig als Erfüllungsgehilfen dieser Lobbys agieren, ist kein gutes Zeichen, sondern gehört zu den Dingen, die das sich immer weiter verschlechterte Bild der europäischen Institutionen weiter verschlechtern. Es gibt in vielen europäischen Ländern einen breiten Konsens zum Ausstieg aus der Atomenergie, und die Politik muss verstehen, dass Entscheidungen an der Mehrheit der Menschen vorbei dafür sorgen, dass sich immer mehr Menschen von der Politik abwenden.
Theoretisch könnte die Entscheidung des Europäischen Parlaments noch gekippt werden. Aber eben nur theoretisch. Wenn sich bis zum 11. Juli mindestens 20 Mitgliedsstaaten konstituieren, die noch dazu 65 % der europäischen Bevölkerung darstellen, könnte die Entscheidung noch gestoppt werden. Doch da mehrere Länder nach wie vor auf Atomkraft setzen, vor allem Frankreich mit seinen 56 Atomanlagen, wird dies nicht geschehen. Und so wird dann die Atomkraft, die von einer Mehrheit der Europäerinnen und Europäer abgelehnt wird, zu einer „grünen“ und „nachhaltigen“ und „klimafreundlichen“ Energie. Einmal mehr haben die Lobbys gewonnen und werden enorme Fördergelder, private und öffentliche Investitionen in eine Technologie lenken, für die es bis heute kein schlüssiges Endlagerungskonzept gibt und die vor allem im Nachgang für unglaubliche Kosten sorgen wird, wenn nämlich die nuklearen Abfälle für mehrere Zehntausend Jahre sicher gelagert werden müssen. Aber das kümmert die heutige Politik ebenso wenig wie andere Umweltfragen. Da definiert man lieber ambitionierte Ziele, die dann eben von den kommenden Generationen umgesetzt werden müssen. Doch dass diese kommenden Generationen keinerlei Vertrauen mehr in die Politik haben, das kann man auch verstehen.
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