Der „alten Welt“ geht die Puste aus

Überall auf der Welt gehen die Menschen auf die Straße, um gegen soziale Ungerechtigkeiten und für die Teilhabe an der Gesellschaft zu demonstrieren. Und um zu sagen, dass sie die Nase von dieser „alten Welt“ voll haben.

Wenn sich die "alte Welt" nur noch so wie in Hong Kong gegen die "neue Welt" wehren kann, ist sie eigentlich schon am Ende... Foto: Bill Gallo / Voice of America / Wikimedia Commons / PD

(KL) – Es brodelt. Und zwar überall. Chile, Venezuela, Hong Kong, Iran, Moskau; Paris und an vielen anderen Orten dieser Welt. Den Menschen reicht es. Korruption, Gewalt, soziale Ungerechtigkeiten, organisiertes Verbrechen, Manipulationen – ganze Erdteile versinken im Chaos. Cyber-Manipulationen und Gewalt in den Straßen – die Welt brennt und die Auseinandersetzungen kommen immer näher, was man nicht zuletzt am rasanten Aufstieg von Extremisten aller Couleur erkennt. Die „alte Welt“ hat ausgedient, passt nicht mehr zu den Realitäten der heutigen Welt und wir erleben gerade die Wirren der Epoche der schlecht organisierten und noch schlechter reflektierten Technologischen Revolution, die viele, viele Menschen auf der Strecke lässt.

Die Profiteure dieser „alten Welt“, geprägt von einem anachronistischen Kapitalismus neoliberaler Couleur, der in allen Ländern Armut, Verelendung und ein riesiges soziales Gefälle verursacht, reagieren überall auf der Welt gleich – mit brutaler Gewalt. Nur, diese gewaltsame Unterdrückung des berechtigten Zorns der Menschen lässt sich nicht ewig repressiv handhaben. Vielleicht lange, aber nicht ewig. Die gigantischen Summen, die in Sicherheits-, Überwachung- und Kriegssapparate gesteckt werden, könnten einen gesellschaftlichen Wandel finanzieren, mit dem erstmals eine grundlegende Änderung des gesellschaftlichen Modells „von oben“ eingezogen werden könnte.

Die Staatsapparate haben sich in den meisten Ländern verselbstständigt, es wird manipuliert, gelogen, betrogen, sich bereichert, getrickst und das Vertrauen der Menschen in die politischen Systeme tendiert inzwischen gegen Null. Nur, politische Systeme können nur dann funktionieren, wenn sie von einem minimalen gesellschaftlichen Konsens getragen werden, das hat uns die Geschichte gelehrt. Doch heute ist das Chaos greifbar, es langt nicht mehr, die immer lauter werdenden Proteste kleinzuschießen und zu -knüppeln und damit „die staatliche Ordnung“ aufrecht zu erhalten. Denn da gibt es nicht mehr viel aufrecht zu erhalten. Die Regierungen dieser Welt sind inzwischen wie im alten Rom Selbstbedienungsläden, in denen man für die Dauer eines Mandats für sich persönlich so viel herausholt, wie nur eben geht. Die damit einhergehende Dekadenz trägt nur zur Vertiefung der Gräben bei – die 0,1 % der Superreichen, die glauben, sie würden die Welt beherrschen, tanzen gerade auf einem Vulkan, der jeden Moment ausbrechen kann.

Studenten, die blutend vor den Kameras taumeln, Demonstranten, denen aus nächster Nähe Hartgummigeschosse und Tränengasgranaten ins Gesicht geschossen werden, in Polizeihaft ermordete Demonstranten, Menschen ohne Wohnung, Nahrung, medizinische Versorgung – diese Gewalt kann nur eines erzeugen: Gegengewalt. Die Mächtigen dieser Welt haben den Grad der Verzweiflung ihrer Völker unterschätzt. Früher reichte es noch, Protesten massive Polizeiaufgebote entgegen zu stellen, doch diese Zeiten sind vorbei. Wie sang schon Janis Joplin? „Freedom’s just another word for nothing left to loose“, doch wer nichts mehr zu verlieren hat, der schreckt auch vor Tränengas und Hartgummigeschossen nicht mehr zurück. Die Menschen werden sich, frei nach der amerikanischen Sängerin, selbst befreien.

Der „alten Welt“ geht die Puste aus. – Der Wildwest-Kapitalismus, der die Welt regiert, ist genauso gescheitert wie der Kommunismus und der Sozialismus in ihrer korrupten Form und im Zeitalter der Neuen Technologien bleibt dies den Menschen nicht mehr verborgen. Die Zusammenhänge zwischen Politik und Wirtschaft sind ohne große Probleme nachzulesen, die Korruption findet heute unser aller Augen statt und die täglichen Schweinereien der Mächtigen sind nicht mehr zu verschweigen, was man gut am aktuellen Impeachment-Verfahren gegen Donald Trump erkennt.

Das Gesellschaftssystem, in dem es einem winzigen Bruchteil der Menschen blendend, der überwiegenden Mehrheit der Menschen allerdings schlecht bis katastrophal geht, lässt sich auch mit brutaler Staatsgewalt nicht mehr aufrecht erhalten. Der gesellschaftliche Wandel hat längst begonnen und auch der Einsatz von Kriegsgerät in der Unterdrückung der Proteste wird diese nicht etwa beenden, sondern weiter befeuern. Und wir sind gerade dabei, diesen gesellschaftlichen Wandel zu verpassen. Statt mit staatlichen Mitteln die besten Köpfe der Welt daran zu setzen, ein neues, der heutigen Zeit angepasstes Gesellschaftssystem zu entwickeln, werden diejenigen niedergeknüppelt, die genau das einfordern, selbst aber nicht über die Möglichkeiten verfügen, ein solches System zu erfinden.

Der Konflikt zwischen den Interessen der Menschen und denjenigen des Kapitals ist nicht mehr zu bemänteln. Der Kapitalismus und die Maxime von Wachstum und Gewinnmaximierung beinhalten, dass man damit Geld verdienen kann, rücksichtslos diesen Planeten zu vergiften und zu zerstören. Der Kapitalismus erlaubt es sich selbst, gegen Bezahlung die Umwelt so zu vernichten, dass sie in absehbarer Zeit kollabieren wird. Eine moderne Gesellschaft braucht aber keine Verschmutzungs-Zertifikate für die Großindustrie und die Interessen ihrer Aktionäre, sondern das Gebot zum Einbau von Filtersystemen, mit denen Verschmutzungen verhindert werden. Die winzigen Schritte, die ab und an von der Politik gemacht werden, reichen nicht aus. Zumal die wahre Macht schon gar nicht mehr in Parlamenten, sondern bei den Lobbys und den Banken auf den Cayman Islands und in anderen Offshore-Paradiesen liegt, dort, wo das ganz große Geld hin- und hergeschoben wird.

Wenn man alle historischen Referenzen bemüht, stellt man fest, dass die aktuelle Entwicklung nur zwei Ausgänge kennt – den Bürgerkrieg und den Krieg. Bürgerkrieg gibt es dort, wo die Mächtigen keinen richtigen Vorwand für einen externen Krieg finden; Krieg dort, wo man es schafft, die Wut der Menschen zu kanalisieren und gegen einen gemeinsamen, vermeintlichen Feind zu dirigieren. So lange keine ernsthaften Anstrengungen unternommen werden, die Zustände in dieser Welt zu verändern, werden diese Entwicklungen bis zur bitteren Neige weitergehen.

Vereinzelt (und zumeist auch noch erfolglos) an den Symptomen herumzudoktern, das reicht eben einfach nicht mehr – nicht die Auswirkungen eines in sich kranken und überholten Systems müssen bearbeitet werden, sondern das gesamte System muss von Grund auf verändert werden.

Es fehlt nicht an schlauen Köpfen, die solche einen gesellschaftlichen Wandel einfordern, es fehlt nicht an Experten und Wissenschaftlern, die in ihren jeweiligen Fachbereichen wissen, wie das geht. Bislang verschwendet die „alte Welt“ viel Geld darauf, diese Experten als unglaubwürdig und den nicht mehr tragbaren Status Quo als „alternativlos“ darzustellen. In allen vergleichbaren Situationen in der Geschichte der Menschheit hat diese Haltung dazu geführt, dass diejenigen, die Unrechtssysteme als „alternativlos“ dargestellt haben, irgendwann in Einzelteilen durch die Strassen getragen wurden, mit dem Kopf voran. Nur dass dieser Kopf dann auf einer Lanze steckte. Die Frage ist nicht, OB das passiert, sondern lediglich WANN es so weit ist.

Und das ist vielleicht das einzig Ermutigende an der aktuellen Lage – in der gesamten Geschichte der Menschheit hat kein einziges Unrechtssystem überdauert. Unrechtssysteme können zwar lange dauern, doch keines dauert ewig. Angesichts der Weigerung der „alten Welt“ sich zu reformieren, ist klar, welchen Weg sie über kurz oder lang gehen wird. Das ist sehr schade, denn im Zeitalter des jederzeit und überall verfügbaren Wissens sollte es eigentlich möglich sein, auf intelligente Art und Weise die Gesellschaft so zu verändern, dass sich alle in ihr wiederfinden. Doch das setzt, zumindest in einem gewissen Maß, den Verzicht auf gewissen Privilegien voraus – und dazu sind die Vertreter der „alten Welt“ geistig nicht flexibel genug. Sie werden sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen, unter Einsatz von Waffen und Uniformen. So, wie sie es immer schon gemacht haben. Und genau wie immer werden sie dann vom Wind der Geschichte einfach weggeblasen werden. Bis dahin wird es Blut, Schweiß und Tränen geben – und die Hoffnung, dass eine „neue Welt“, die wieder aus der Gewalt heraus geboren wird, besser ist als die „alte Welt“.

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