Der Aufstand der Unsichtbaren

Frankreich rätselt, warum die „Gelbwesten“ weiterhin und bei winterlicher Kälte weiter draußen protestieren. Der Grund dafür ist nicht nur politisch.

Das Gruppenerlebnis und die gegenseitige Anerkennung ist für viele "Gelbwesten" so wichtig wie die politischen Forderungen. Foto: Eurojournalist(e) / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – Winter 18/19. Ganz Frankreich ist besetzt. Ganz Frankreich? Nein, ein kleines Dorf an der bretonischen Küste leistet weiter Widerstand… Das ist natürlich eine Parodie, die Situation in Frankreich ist weitaus ernster als ein Comic. Ein tiefer Riss geht durch die französische Gesellschaft und dieser Riss ist nicht nur politisch, sondern er ist auch menschlich. Es ist der Aufstand der Unsichtbaren.

Seit sieben Wochen sind in Frankreich Verkehrskreisel und Mautstellen auf den Autobahnen besetzt, kommt es immer wieder zu Demonstrationen, die mal friedlich, oft aber gewalttätig verlaufen. Die politische Kaste ist in heller Aufregung, da Teile dieser Bewegung der „Gelbwesten“ inzwischen von allen möglichen Extremisten unter dem Beifall der Oppositionsparteien (und das sind ja in Frankreich alle Parteien bis auf die Regierungspartei LREM) instrumentalisiert worden sind, von Bürgerkrieg und Umsturz schwafeln und das eigentliche Thema, den sozialen Fortschritt, schon fast vergessen haben. Aber warum setzen sich die „Gelbwesten“ nicht an den Verhandlungstisch und arbeiten konstruktiv an dem von ihnen anfangs geforderten sozialen Fortschritt mit?

Das Leben auf den Barrikaden ist aufregend. Auf den Verkehrskreiseln Frankreichs treffen sich seit 7 Wochen Menschen, die es ansonsten nicht gewohnt sind, aus dem Haus zu gehen, sich als „arm“ zu outen und mit anderen Schicksalsgenossen und -genossinnen zu überlegen, wie man seine soziale Kondition verbessern kann. Auf den Verkehrskreiseln herrscht so etwas wie Basisdemokratie. Jeder und jede einzelne ist hier ein vollwertiger Mensch, der nicht deswegen, weil am Ende des Monats das Geld knapp wird, schräg angeschaut wird. Für viele der „Gelbwesten“ ist dies eine neue Erfahrung. Denn wer in Armut lebt, lebt normalerweise auch in der Scham, die Armut wird als soziales Stigma verschwiegen und man erduldet sein Schicksal schweigend. Doch das ist seit dem Auftauchen der „Gelbwesten“ anders – die Zeit der Scham ist vorbei.

Auf den Verkehrsinseln kommt es nicht darauf an zu brillieren, sondern solidarisch zu sein, ein Teil einer großen, virtuellen Familie, die den Vorteil bietet, dass man sie anfassen kann, dass man untereinander redet, sich gegenseitig anerkennt, sich nicht schämen muss. Die große Solidarität der Franzosen (die sich allerdings nur auf die sozialen Forderungen, nicht aber auf die gewalttätigen Exzesse hier und da bezieht) tat ein Übriges – Frankreich hat „seine“ Armen entdeckt und Frankreich wäre nicht Frankreich, würde der Hauch der Revolution keine Sympathien wecken.

Doch nun wird es Zeit, mit der Umsetzung zu beginnen. – Und die wird schwierig werden, denn die „Gelbwesten“ haben keinerlei Veranlassung, die Verkehrsinseln zu räumen und ihre Protestaktionen einzustellen. Ein ergebnisloses Verlassen der Verkehrsinseln wäre für die Betroffenen eine Katastrophe, nicht nur politisch, sondern vor allem menschlich. Denn für die meisten „Gelbwesten“ würde ein Rückzug auch den Rückzug in die soziale Isolation bedeuten, zurück in die Scham, zurück in die Einsamkeit. Und hier ist nun die Regierung gefordert.

Die französische Regierung darf sich nun nicht im administrativen Dschungel verrennen – sie muss liefern. Sie muss den „Gelbwesten“ einen Grund geben, wieder nach Hause zu gehen, ohne sie zurück ins soziale Abseits zu schicken.

Der soziale Fortschritt, der Schwerpunktthema der französischen Regierung zu Anfang des Jahres sein muss, sollte diese soziale Komponente berücksichtigen und Wege aufzeigen und ermöglichen, die es den „Gelbwesten“ ermöglichen, sich rund um ihre sozialen Forderungen zu organisieren, sich zu begegnen, ihre gelebte Solidarität zu systematisieren.

Ein echter sozialer Fortschritt muss diese menschliche Dimension berücksichtigen und hierfür ist es erforderlich, dass die Regierung ein Dialogformat findet, in dem schnell gehandelt werden kann und in dem auch Organisationen, Vereine und Verbände gehört werden, die Erfahrung in der Sozialarbeit vor Ort haben. Die Städte und Kommunen müssen eingebunden werden – auf Frankreichs politischem Kalender steht eine Art moderner „Versammlung der Generalstände“. Ohne einen echten sozialen Fortschritt wird Frankreich nicht zur Ruhe kommen. Ob das gelingt, ohne die Betroffenen zurück ins innere Exil zu schicken, ist fraglich. Aber es würde sich lohnen, alles dafür zu tun, dass Frankreich seinen sozialen Zusammenhalt wiederfindet.

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