Der dicke französische Hals

Ganz Frankreich ist unzufrieden. Obwohl die Wirtschaft kleine Zeichen des Aufschwungs zeigt, geht fast der ganze Öffentliche Dienst auf die Straße. Woher kommt die allgemeine Unzufriedenheit?

Nach den Lehrern, Notfallärzten und Feuerwehrleuten jetzt auch die Polizei - am 2. Oktober organisiert sie den "Nationalen Wutmarsch" in Paris... Foto: Eurojournalist(e) / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – Frankreich, September 2019. Die langen Sommerferien sind vorbei und wie jedes Jahr löst die „Rentrée“, also der Beginn des Schuljahrs, eine Art kollektiven Missmut aus. Mitten hinein in diese ohnehin schon schlechte Stimmung platzt gerade einem Berufsstand im Öffentlichen Dienst nach dem anderen der Kragen. Die Parallelität der Arbeitskämpfe lässt aufhorchen – was läuft gerade schief in Frankreich?

Die Lehrer sind unzufrieden, die Feuerwehr organisiert Warnstreiks und Postkarten-Aktionen an die Adresse des Präsidenten, die Ärzte in den Notfallaufnahmen streiken, das sie hoffnungslos überlastet sind und jetzt rumort es auch bei der Polizei, die am 2. Oktober in Paris den „Nationalen Wutmarsch“ organisiert, um gegen den Mangel an Anerkennung, Ausrüstung und Geld zu demonstrieren. Das könnte zu seltsamen Konstellationen führen – werden am Ende die „Gelbwesten“ solidarisch mit der Polzei demonstrieren? Werden andere Ordnungskräfte gegen ihre Kollegen vorgehen?

Aber wie kann es sein, dass ausgerechnet in dem europäischen Land, das den höchsten Beamtenanteil an der Bevölkerung hat (5,66 Millionen Beamte, was rund 20 % der gesamten Arbeitnehmerschaft entspricht – in Deutschland gibt es rund 1,8 Millionen Beamte), die Beamten auf die Straße gehen, um gegen unhaltbare Arbeitsbedingungen zu demonstrieren?

Das Problem, das Frankreich nicht gelöst bekommt, ist die Verwaltung. – Ein teilweise ineffizienter und aufgeblasener Verwaltungsapparat, der sich vom zentralistischen Paris in endlosen Zuständigkeits-Meandern bis auf die lokale Ebene fortpflanzt, verschlingt den größten Teil der Mittel, von denen nicht mehr viel vor Ort ankommt. Die verbeamteten Berufe, die gerade auf die Straße gehen, haben mit ihren Forderungen Recht.

Die Lehrer arbeiten in häufig veralteten Schulgebäuden mit viel zu großen Klassen, woran auch die vielen angekündigten Reformen nichts ändern, da diese zumeist im gigantisch anmutenden Apparat der „Education Nationale“ versanden, die, Staat im Staat, die gleichen Zuständigkeits-Wirrungen zwischen nationaler, regionaler und lokaler Ebene abbilden. Bis da eine Reform tatsächlich in den Schulen ankommt, braucht es Zeit, ganz viel Zeit.

Der Feuerwehr fehlt es nicht nur an Feuerwehrmännern, sondern auch an Sicherheit. Als Vertreter eines immer verhassteren Staats werden die Rettungskräfte immer häufiger Zielscheibe von Angriffen und Körperverletzungen bei ihren Einsätzen. Dazu fehlen Mittel, um die Feuerwehren zu modernisieren und Gefahrenzulagen wie die „Feuerprämie“ werden zwar immer wieder zugesagt, doch immer nur in ferner Zukunft – und den Feuerwehrleuten platzt gerade der Kragen.

Was sollen da die Notfallmediziner sagen? 16-Stunden-Schichten gelten in den Notfallaufnahmen schon als halber Urlaub, es fehlt, wie überall, an Personal, Geld und Infrastruktur. Besonders in Kleinstädten im ländlichen Bereich müssen immer häufiger die Notfallaufnahmen geschlossen bleiben, weil es dort keine Notfallärzte mehr gibt. Verständlich, denn um den Arbeitsaufwand eines Notarztes zu leisten, muss man in Frankreich schon eine leicht masochistische Ader haben. Dazu kommt, dass sich ähnlich wie bei der Feuerwehr die aggressiven Übergriffe durch Patienten häufen, die der Ansicht sind, dass sie nicht schnell genug an der Reihe sind.

Und die Polizei? Ausgerechnet die Polizei ist in Frankreich gnadenlos unterbesetzt. 170 Polizisten pro 100.000 Einwohner gibt es (Deutschland 298) und diese müssen in Zeiten sozialer Unruhen und politischer Megashows Schichten schieben, bei denen man weiß, dass diese kaum durch Freizeit abgegolten werden können. Dazu ist das Gehalt der Ordnungshüter fast lächerlich. Berufsanfänger in Polizeiuniform verdienen in Paris 1.310 Euro netto im Monat, was in der Hauptstadt kaum für eine bescheidene Miete reicht. In der Provinz liegt das Gehalt bei 1.236 Euro netto und dafür halten die Polizisten tagaus, tagein den Kopf hin. Immer wieder hört man Berichte von Polizisten, die Ausrüstungselemente aus eigener Tasche bezahlen, da die Mittel vor Ort nicht ausreichen.

Es ist die Verwaltung aller dieser Bereiche, die den Beamten vor Ort das Leben schwer macht. Für jeden Mist gibt es einen Abteilungsleiter, einen Unterabteilungsleiter, Referenten, Beauftragte, endlose Sitzungen, in denen es oft um nicht mehr geht, als eine Sitzung als Tätigkeitsnachweis zu organisieren und so verwaltet Frankreich gerade seinen Öffentlichen Dienst zu Tode.

Die Politik reagiert auf diese Situation, die Streiks, die Forderungen und allgemeine Unzufriedenheit so, wie sie in den letzten Jahren auf alles reagiert. Mit vollmundigen Versprechungen und Zusagen, die entweder gar nicht umgesetzt oder auf einen Zeitpunkt terminiert sind, zu dem schon eine andere Regierung die angekündigten Maßnahmen umsetzen müsste. Was diese dann allerdings auch nicht tut.

Versprechungen verpflichten nur diejenigen, die daran glauben - Gleichzeitig leistet sich Frankreich den aufgeblasensten Politik- und Verwaltungsapparat Europas. Rund 1 % der Bevölkerung bekleidet ein öffentliches Amt – es gibt 600.000 gewählte Volksvertreter auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene, mit entsprechenden Stellvertretern, Bürochefs, Zuarbeitern und Referenten und dieser Machtapparat glänzt vor allem durch das, was die Briten „Pomp and Circumstances“ nennen. Teure Repräsentation, ein oft ans Lächerliche grenzendes Prunkgehabe der „élus de la République“, Kosten bis zum Abwinken. Für die Repräsentation des Staats, da hat sich seit Ludwig IV. nicht viel geändert, ist immer genug Geld da – immerhin stehen diese 600.000 Damen und Herren ja als Symbole der Republik da und dafür, dass die Nation auch im letzten Winkel der Ardèche respektiert wird, darf man weder Kosten noch Mühen scheuen. Da bleibt eben für Schulen, Krankenhäuser, Feuerwachen oder die Polizei nicht mehr viel übrig, außer Versprechungen auf eine blendende Zukunft. Kein Wunder, dass es ein französischer Präsident war, Jacques Chirac, der, angesprochen auf nicht gehaltene Wahlversprechungen, folgenden Satz prägte: „Versprechungen verpflichten nur diejenigen, die daran glauben“. Anders ausgedrückt: Selbst schuld, wer an die Versprechungen von Politikern glaubt.

Doch zwischen dem Öffentlichen Dienst, der auf die Barrikaden geht und den „Gelbwesten“ (auch in Frankreich leben rund 15 % der Menschen unter der Armutsgrenze) muss sich Frankreich auf einen mehr als heißen Herbst einstellen. Die französische Regierung wäre gut beraten, würde sie ihr neofeudales Gehabe herunterfahren und weniger Geld für die eitle Selbstdarstellung, dafür aber mehr Geld für den Öffentlichen Dienst ausgeben, denn wenn diese Pfeiler der Gesellschaft das Handtuch werfen, dürfte es in den Pariser Palästen ziemlich einsam werden. Es wäre nicht das erste Mal, dass in Frankreich das unzufriedene Volk seinen Monarchen zum Teufel schickt.

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