Der Gipfel der europäischen Heuchelei

Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit hat das oberste britische Gericht dem amerikanischen Antrag auf Auslieferung von Julian Assange stattgegeben. Nun hängt sein Schicksal an einem seidenen Faden.

"Britische Gerichte sind Komplizen der langsamen Ermordung eines unschuldigen Mannes"... Foto: Alisdare Hickson / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – In den letzten Wochen, speziell seit dem brutalen Überfall Russlands auf die Ukraine, ist viel die Rede von den „europäischen Werten“, die angeblich in der Ukraine bis zum letzten Mann verteidigt werden. Aber allzu weit her ist es mit diesen europäischen Werten allerdings nicht. Denn die Auslieferung eines Journalisten, dessen „Verbrechen“ es ist, der Weltöffentlichkeit die Wahrheit über amerikanische Kriegsverbrechen zur Kenntnis zu bringen, rückt unaufhaltsam näher, ohne dass es die europäische Politik für nötig hält, in irgendeiner Form einzugreifen. Die letzte Hoffnung ist die britische Innenministerin Priti Patel, eine Politikerin, deren Ruf zwischen knallhart und brutal einzuordnen ist. Nur sie kann diese schändliche Prozedur noch stoppen, an deren Ende 175 Jahre Gefängnis in den USA auf den wohl bekanntesten Whistleblower warten.

In den letzten Jahren haben mehrere europäische Regierungen Gesetze zum angeblichen Schutz von Whistleblowern erlassen, doch seltsamerweise hat kein europäisches Land und auch nicht die EU als Ganzes darauf reagiert, dass in Großbritannien ein Whistleblower seit 10 Jahren der Freiheit beraubt wird, seit drei Jahren mit Terroristen und Mördern in einem Hochsicherheitsgefängnis vegetiert und dort nach Einschätzung der UNO physische und psychische Folter erleidet. Würde Assange in Russland einsitzen, stünde der Westen geschlossen auf den Hinterbeinen, um seine Freilassung zu fordern. So aber findet Folter und Skandal im Westen statt und da schauen die heldenhaften Verteidiger der „europäischen Werte“ lieber woanders hin.

Seit Jahren zirkulieren Petitionen, seit Jahren gibt es Gutachten, mit denen die Folterung von Julian Assange dokumentiert wird. Die Strafverfahren, die zur Auslieferung Assanges gegen ihn gestartet worden waren, wurden nach Jahren still und heimlich eingestellt, da sie gegenstandslos waren und nur deshalb fabriziert wurden, um einen Vorwand für seine Auslieferung an den Schurkenstaat USA zu bewirken. „Schurkenstaat“ deshalb, weil sich während seines Prozesses in London herausstellte, dass die CIA bereits Pläne für seine Entführung ausgeheckt hatte, wahlweise auch für seine Ermordung, sollte die Entführung nicht klappen. Das sind Methoden, die der Westen in keinem anderen Land durchgehen lassen würde. Doch hier geht es um Großbritannien, die USA, wirtschaftliche und politische Interessen, und da interessieren die „europäischen Werte“ schlagartig niemanden mehr. Auch nicht diejenigen, die sich ansonsten selber als die „Beschützer der Whistleblower“ selbst feiern.

Die Hoffnung, dass die britische Innenministerin Priti Patel eine humanistische Anwandlung erlebt und die Auslieferung Assanges in ein sicheres Todesurteil verhindert, ist gering. Denn auch Priti Patel gehört in den britisch-amerikanischen Interessenskomplex und in diesem spielt Assange eine gewichtige Rolle. Denn die Briten brauchen nach ihrem Brexit, den sie in einem Anfall eines ultranationalistischen Hochgefühls fabriziert hatten, dringend eine „Morgengabe“, um die USA zu einem neuen Freihandelsabkommen zu bewegen, das für das wirtschaftliche Überleben der Insel wohl dringend erforderlich wäre. Also ist man bereit, Assange zu opfern und seltsamerweise scheint das auf Ebene der EU niemanden, aber auch wirklich niemanden zu interessieren.

Wo sind denn jetzt die Ursula von der Leyen, Charles Michel und all die anderen Pilger nach Kiew, die sich dort selbst an der Seite Selenskys als die „Helden der Freiheit und der europäischen Werte“ feiern? Was sind diese „europäischen Werte“ überhaupt wert?

Sollte das Schlimmste eintreten, nämlich die Auslieferung Assanges an die USA, müsste die EU im Grunde die gleichen Sanktionen gegen Großbritannien und die USA verhängen, wie man sie auch gegen andere „Schurkenstaaten“ verhängt. Aber jede Wette, das wird nicht passieren. Denn die „europäischen Werte“ sind offenbar Schön-Wetter-Werte, die nur so lange Gültigkeit haben, wie es uns passt und wie wir mit ihnen Geld verdienen oder uns anderweitig Vorteile verschaffen können.

Eine Auslieferung Assanges an die USA wäre das Ende der Pressefreiheit, ein Anschlag auf die demokratischen Grundwerte und auf alles, wofür unsere Vorfahren seit 1789 gekämpft haben. Und das wiederum führt zu der Feststellung, dass diese „europäischen Werte“ das Papier nicht wert sind, auf dem sie stehen. Zu allem Chaos, das momentan um uns herum ausgebrochen ist, kommt das Thema Assange erschwerend hinzu. Denn plötzlich merkt man, wie verlogen und heuchlerisch dieses Gerede von „europäischen Werten“ ist. Schon bald wird das Schicksal Julian Assanges entschieden werden, von hoch korrupten Politikern, denen eben diese „europäischen Werte“ völlig egal sind. Doch was ist das für eine Welt, in der westliche Kriegsverbrecher nicht nur nicht zur Rechenschaft gezogen werden, sondern der Überbringer der Nachricht gefoltert und auf kleiner Flamme zu Tode gekocht wird?

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