Der Irrtum des atomaren Gleichgewichts

Jahrzehnte lang hatte die Welt gedacht, dass die gegenseitige Bedrohung mit Atomwaffen für ein stabiles Gleichgewicht sorgen würde. Doch haben sich alle getäuscht.

Die am 9. August 1945 in Nagasaki abgeworfene Atombombe war im Vergleich zu den heutigen Atomwaffen ein "Sylvesterböller"... Foto: Hiromichi Matsuda / Wikimedia Commons / PD

(KL) – Auf der gegenseitigen atomaren Abschreckung basierte seit dem II. Weltkrieg die weltweite Sicherheits-Architektur, wobei man davon ausging, dass wenn in den großen Blöcken des Westens und des Ostens Atomwaffen-Arsenale vorhanden sind, keine der beiden Seiten so wahnsinnig wäre, eine atomare Auseinandersetzung anzuzetteln. Das ging so lange gut, wie in der Tat auf beiden Seiten Regierungen am Ruder waren, die dieses atomare Gleichgewicht als gegeben betrachteten und denen es nicht unbedingt egal war, ob man diesen Planeten verwüstet oder nicht. Doch seit Putins Angriff auf die Ukraine stimmt diese Doktrin der gegenseitigen atomaren Abschreckung nicht mehr.

Die Atomwaffen, die heute in den Raketensilos in Kaliningrad und anderswo stehen, sind von einer Vernichtungskraft, die mit den Atombomben von Hiroshima und Nagasaki nicht mehr vergleichbar sind. Und plötzlich befindet sich der Westen einem alten, kranken und offenbar völlig den Realitäten entrückten Diktator gegenüber, der bereits vor Wochen seine Atomstreitkräfte medienwirksam in Alarmbereitschaft versetzt hat, dessen Propagandasender bereits vorrechnen, wie lange eine mit Atomsprengköpfen bestückte Rakete nach Berlin, Paris und London braucht und der, sollten seine militärischen Misserfolge in der Ukraine weitergehen, immer mehr mit dem Rücken an der Wand steht.

Sollte Putin tatsächlich militärisch weiter unter Druck geraten, könnte eine Situation eintreten, wie sie von Außenminister Lawrow immer wieder ins Gespräch gebracht wird. Falls Putin in seinem Wahnsinn einen Atomschlag führen, dann müsste er, so die bisherige Doktrin, damit rechnen, dass ein ebenso vernichtender Schlag auf Moskau geführt wird. Nur – diese Doktrin bestand aus dem Konzept der Abschreckung und basierte auf der Annahme, dass schon keine der beiden Seiten so verrückt sein könnte, durch einen solchen Doppelschlag ganze Erdteile zu vernichten.

Westliche Experten halten einen russischen Atomschlag für unwahrscheinlich, „denn dann müsste Putin ja mit einer Antwort auf Russland rechnen“. Und was ist, wenn das Putin egal ist? So, wie es Hitler 1945 egal war, dass ganz Deutschland zerstört wurde und im letzten Kriegsjahr Millionen Zivilisten und Soldaten in einem bereits längst verlorenen Krieg ums Leben kamen?

Abgesehen davon, dass fraglich ist, ob der Westen technisch in der Lage wäre, in so kurzer Zeit zu antworten (die Zeit, die eine solche russische Rakete in die europäischen Hauptstädte braucht, beträgt zwischen 2 und 3 Minuten), würde ein solcher „Doppelschlag“ in beide Richtungen unvorstellbare Folgen haben, Millionen Menschenleben kosten und Europa auf Jahrzehnte hinaus unbewohnbar machen. „Russland aber auch“, entgegnen die „Experten“. Daher nochmal die Frage: Und wenn das Putin egal ist? Wenn Putin den finalen Showdown einer Niederlage und einer eventuellen Inhaftierung in Den Haag vorzieht?

Der Westen steht also vor einer Situation, die es so bisher noch nicht gab. Denn beim Szenario „russischer Atomschlag – westlicher Gegenschlag“ würde sich der Westen daran beteiligen müssen, große Teile Europas und Russlands zu vernichten. Das klingt allerdings eher nach kollektivem Selbstmord als nach Abschreckung.

Seit dem II. Weltkrieg haben wir uns durch die atomare Aufrüstung in eine Sackgasse manövriert. Die atomare Aufrüstung hatte nur scheinbar ein Gleichgewicht geschaffen, faktisch wurde die ultimative Bedrohung Europas und der Welt geschaffen. Die Vorstellung, dass der Ukraine-Krieg bis zum Ende mit konventionellen Waffen geführt wird, ist blauäugig. Zwar gibt es vor dem Atomschlag noch Zwischenstufen, nämlich die nicht viel weniger gefährlichen biologischen und chemischen Waffen, doch ist die Gefahr, dass es zu einem Atomschlag kommen könnte, leider völlig real.

Dass in einer solchen Bedrohungslage Politiker wie Alexander Graf Lambsdorff Menschen, die für Abrüstung und Frieden demonstrieren, als „Putins 5. Kolonne“ diffamiert, ist unglaublich. Diejenigen, die sich heute auf dem Sofa oder hinter dem Bildschirm als Kriegstreiber aufführen, sollten wenigstens an dieses Szenario denken. Denn sollte Putin merken, dass er seinen Krieg verliert, wird er nicht auf den Einsatz seines atomaren Arsenals verzichten. In einer solchen Situation hätten wir dann zwei bis drei Minuten Zeit, uns zu überlegen, wie wir reagieren, wohin wir versuchen uns zu retten und dann schnell zu sterben. Vielleicht sollte man doch noch einmal alle diplomatischen Wege ausloten, diese Situation anders aufzulösen. Ansonsten könnte alles ziemlich schnell gehen.

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