Der „Literarische Adventskalender“ (12)

Autor Stefan Böhm und Eurojournalist(e) präsentieren: „Straßburger Glaubensbekenntnis - Kommissar Sturnis dritter Fall“. Heute: Kapitel 12 – „1436: Das Schwein“

Buchdruck, Humanismus, Strasbourg - das gehörrt zusammen... Foto: Stefan Böhm / CC-BY-SA 4.0int

Kapitel 12 – 1436: Das Schwein

Sein Freund Johannes Hültz hatte ihn auf ein großes Spektakel hingewiesen, das heute auf dem Platz vor dem Münster ausgerichtet werde. Um seine Handwerker auf der Münsterbaustelle bei Laune zu halten, hatte er einen kleinen Wettbewerb organisieren lassen.

Auf dem Münsterplatz war ein mit Holzbrettern umzäunter Bereich aufgebaut worden. Der Boden war mit Stroh ausgelegt. Im Gatter befand sich ein großes, kräftiges Schwein, das zufrieden grunzend an ein paar fauligen Essensresten knabberte.

***

Henne hatte sich inzwischen gut eingelebt in Straßburg. Vor den Toren der Stadt unterhielt er eine eigene Werkstatt, unterrichtete wohlhabende Bürger im Schleifen von Edelsteinen und ließ sich selbst in der Bearbeitung von Metallen unterweisen.

In seiner freien Zeit besuchte er gerne die Badehäuser und Schankstuben der Stadt, verkehrte mit seinesgleichen, dem begüterten Bürgertum, und hatte innerhalb kürzester Zeit seinen Platz gefunden im sozialen Gefüge der aufstrebenden Metropole.

***

Zur Belustigung der Arbeiter auf der Münsterbaustelle und als abwechslungsreiches Schauspiel für die Bürger der Stadt hatte man den blinden Bettlern Rüstungen angelegt und sie mit schweren Knüppeln ausgestattet, in die zuvor kleine, spitze Nägel eingeschlagen worden waren.

Die Menge johlte, als man die erbarmungswürdigen Gestalten in diesem Aufzug an das Gatter führte. Demjenigen unter ihnen, dem es gelänge, das Schwein mit seinem Knüppel zu erschlagen, wurde dessen Fleisch als Preis in Aussicht gestellt. Ein unvorstellbarer Reichtum für einen blinden Bettler, der allenfalls zu den hohen Festtagen einen Fetzen Fleisch als Almosen abbekam. Dafür lohnte es, sich der Lächerlichkeit preiszugeben und selbst verletzt zu werden.

Der Baumeister des Münsters, sein Freund Johannes höchstpersönlich, öffnete das Gatter und gewährte den Blinden Einlass, unter dem Jubeln der um die Absperrung versammelten Gaffer.

Der ohrenbetäubende Lärm machte es selbst für die gut geschulten Ohren der Blinden schwer, das verwirrt grunzende Schwein zu orten. Wild schlugen sie daher mit ihren Keulen um sich, in der Hoffnung, das Schwein mit einem Glückstreffer zur Strecke zu bringen.

„Habe ich dir zu viel versprochen? Ein solches Spektakel wurde dir in Mainz bestimmt noch nie geboten.“

Nein, diese Form der Volksbelustigung kannte er nicht aus seiner Heimatstadt. Fasziniert und angewidert zugleich verfolgte Henne das Geschehen im Gatter.

Einer der Blinden war von einem anderen schwer mit der Keule getroffen worden, zu Boden gegangen und schrie nun wie am Spieß. Das machte es den anderen noch schwerer, das Quieken des Schweins, dem nun gewahr wurde, dass es ihm an den Speck gehen sollte, von den Schmerzensschreien ihres Leidensgenossen zu unterscheiden.

Angewidert wandte Henne sich ab. Das war eine neue Form des Gladiatorenkampfes der Antike, schlimmer als das. Hatten sie diese Barbarei nicht hinter sich gelassen, lebten in einer modernen, fortschrittlichen, in einer besseren christlichen Welt?

Die Menge ergötzte sich am Leid der Armen, der Schwachen, der Gebrechlichen, an der Panik des Schweins, direkt vor einem der größten Gotteshäuser der Welt. War ein solches Schauspiel vereinbar mit dem Willen Gottes, mit den Predigten unseres Herrn Jesus? Es schien so, befanden sich doch einige Geistliche unter den Zuschauern, die keinen Anstoß zu nehmen schienen an dem unwürdigen Schauspiel. Im Gegenteil, die Pfaffen waren es, die am lautesten applaudierten, wenn es wieder einmal einen der Armen erwischt hatte.

Irgendwann, als die meisten Blinden selbst verletzt am Boden lagen, weil sie entweder einen Schlag mit der Keule abbekommen hatten oder von dem in Panik umherrennenden Schwein niedergetrampelt worden waren, öffneten einige kräftige Burschen das Gatter, fingen das schon reichlich erschöpfte Schwein und hingen ihm ein kleines Glöckchen um den Hals, das einen hellen Ton von sich gab, wenn es sich bewegte.

Den verbliebenen Blinden gelang es nun, das Schwein einzukreisen und mit ihren Knüppeln auf es einzuschlagen, so lange, bis es unter fürchterlichem Gequieke völlig erschöpft zusammensackte. Weiter hieben die drei übrig gebliebenen blinden Kämpfer auf das arme Geschöpf ein, bis es keinen Ton mehr von sich gab.

Da nun jeder für sich in Anspruch nahm, den entscheidenden, todbringenden Schlag gesetzt zu haben, das Schwein also allein ihm zustehe, entbrannte ein Streit zwischen den letzten Kämpfern, der darin endete, dass sie gegenseitig mit ihren Knüppeln aufeinander losgingen. Mehrere kräftige Arbeiter der Münsterbaustelle mussten eingreifen und die Streithähne voneinander fernhalten. Johannes Hültz fällte daraufhin das salomonische Urteil, dass das fette Schwein in drei Teile zerlegt und unter den siegreichen Blinden aufgeteilt werden solle.

Henne hatte seinen privilegierten Platz direkt am Gatter zu diesem Zeitpunkt schon verlassen. Er hatte sich in eine der engen Gassen hinter der Münsterbaustelle zurückgezogen und übergab sich, bis nur noch farbloser Schleim seinen Magen verließ. Noch nie zuvor war ihm so übel zumute gewesen.

Unter dem Applaus der Menge wurde der hilf- und wehrlose Mensch erniedrigt, zum Tier degradiert. Das Tier wiederum, die arme Kreatur, wurde gequält bis zum Tode, nur damit der Mob sich daran ergötzen konnte. Und die Obrigkeit, die Patrizier, der Klerus, hatten ihre Freude daran, sahen keinen Widerspruch zum sonntäglichen Kirchgang und den Predigten über die Barmherzigkeit des Herrn.

***

Als Henne sich wieder unter Kontrolle hatte und auf den Vorplatz des Münsters zurückkehrte, war dieser nahezu menschenleer.

„Was ist geschehen?“, fragte er einen der auf dem Platz Verbliebenen.

„Auf der Münsterbaustelle hat es einen Unfall gegeben. Die beiden Männer im Tretrad auf der Münsterplattform sind aus dem Tritt gekommen. Einer von ihnen hat sich mit dem Bein in den Holzverstrebungen verfangen, die das Rad zusammenhalten. Der Arme hat sich dabei alle Knochen gebrochen, wurde bei vollem Bewusstsein gerädert. Der schwere Sandstein, den sie gerade mit dem Kran nach oben hievten, hat sich daraufhin aus seiner Sicherung gelöst, ist herababgestürzt und hat einen weiteren Arbeiter erschlagen. Die Menge ist ins Münster gestürmt, um sich das Unglück aus der Nähe anzusehen.“

Das nächste Spektakel zog den Mob in seinen Bann, das Schicksal der Blinden und des Schweins interessierte schon nicht mehr. Henne ging nicht ins Münster, um das nächste Elend zu begaffen.

***

Nachdenklich ging er die wenigen Kilometer nach Sankt Arbogast zu Fuß nach Hause. Dabei sinnierte er darüber, in was für einer Welt er lebte. Das erbarmungswürdige Schauspiel hatte ihn zutiefst erschüttert. Ihm war bewusst, dass er kein gewöhnlicher Erdenbürger war. Er war im Begriff, etwas zu erschaffen, mit dem man den Verlauf der Geschichte würde ändern können, etwas Großes, etwas Weltumspannendes. Die Gabe war auch Pflicht. Es genügte nicht, mit seiner Erfindung eine Menge Geld zu verdienen, das er dann wieder im Badehaus und bei sonstigen Vergnügungen verprassen würde.

Es war an der Zeit, seinem Leben einen Sinn zu geben. Er würde seine Fähigkeiten dazu nutzen, die Welt zu verändern. Seine Schaffenskraft sollte dazu dienen, das wahre Wort und den wahren Willen Gottes dem gemeinen Volk nahezubringen. Nicht verfälscht und von prachtvollen Kanzeln herab kundgetan durch die Predigten der Pfaffen, nicht verstanden vom gemeinen Volk, und nicht gelebt von der gebildeten Obrigkeit.

So in Gedanken versunken merkte er gar nicht, dass er an der Pforte seines Hauses angelangt war, wo er von seinem Diener, dessen Frau und einem verführerischen Duft aus der Küche erwartet wurde.

Fortsetzung folgt…

Stefan Böhm

Straßburger Glaubensbekenntnis
Kommissar Sturnis dritter Fall

Originalausgabe
1. Auflage
© 2020 Stefan Böhm
Taschenbuch-ISBN: 978-3-969-66410-0
Umschlagsgestaltung und Satz:
Sarah Schemske (www.buecherschmiede.net)
Lektorat: Martin Villinger
Korrektorat: Bücherschmiede (www.buecherschmiede.net)
Bestellung und Vertrieb: Nova MD GmbH, Vachendorf
Druck und Bindung:
Sowa Sp. z o.o.
ul. Raszyńska 13
05-500 Piaseczno
Polen

Alle Rechte vorbehalten. Alle Figuren und deren Biografien sind erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

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