Der „Literarische Adventskalender“ (16)

Autor Stefan Böhm und Eurojournalist(e) präsentieren: „Straßburger Glaubensbekenntnis - Kommissar Sturnis dritter Fall“. Heute: Kapitel 16 – „Spurensuche“

So weit war um 1439 herum der Bau des Münsters fortgeschritten... Foto: Stefan Böhm

Kapitel 16 – Spurensuche

Er hatte Josmeyer und den ebenfalls neuen Gerichtsmediziner um ein gemeinsames Gespräch gebeten. Jacques Arbogast, ein weiterer neuer Kollege mit einem komischen Namen. Sturni fühlte sich so langsam alt, seine ganzen altgedienten Freunde gingen in den Ruhestand. Dabei war er noch nicht einmal Mitte vierzig.

Dieses Mal verzichtete er auf eine erneute Beschau der Leiche. Es war ja offensichtlich, wie Oriane umgebracht worden war, mittels eines Stiches mitten ins Herz. Den Anblick ihres nackten Körpers in Arbogasts Refugium hätte er nicht ertragen. Das war bei Leichen, die er nicht am Tag zuvor geküsst hatte, schon hart genug.

Vielleicht sollte er doch einmal mit der gleichfalls neuen Betriebspsychologin sprechen, die vor Kurzem allen Mitarbeitern des Präsidiums ein unverbindliches und vertrauliches Gesprächsangebot unterbreitet hatte. Betriebspsychologin … eine neue Spinnerei von Direktor Bouget. Dennoch, er fühlte sich ein wenig labil im Moment, das stimmte schon. Bouget würde es sehr begrüßen, wenn insbesondere die Führungskräfte im Präsidium sich ein wenig „coachen“ ließen, meinte sie in ihrer Mail, mit der sie sich und ihre neue Funktion präsentiert hatte. Was auch immer „coachen“ heißen sollte im neufranzösischen Sprech der aus Paris stammenden Spitzenbeamten der Polizeiverwaltung, zu der Direktor Bouget sich in Straßburg als Einziger und mit großem Stolz zählte.

***

   „Was habt ihr für mich?“

Sie hatten es sich in Arbogasts Arbeitszimmer bequem gemacht. Sturni legte die Füße auf seinen Schreibtisch, wie er es bei Arbogasts Vorgänger, seinem Freund Olivier Belliard, immer gemacht hatte, wenn sie einen neuen Fall zu besprechen hatten.

Ein befremdeter Blick seines neuen Kollegen ließ ihn die Füße schnell wieder von dessen Schreibtisch herunternehmen, schließlich benötigte er Arbogasts Expertise. Sacredieu – Herrgott noch mal! Was war die neue Generation spießig. Wäre doch nur Olivier Belliard noch in Amt und Würden.

„Bei der Ermordeten handelt es sich um Frau Oriane Jacquesson, wohnhaft in Paris, vierunddreißig Jahre alt, promovierte Kunsthistorikerin, mit aktuellem Aufenthalt in Straßburg.“

Zut – Mist … Die Identität des Opfers war den Kollegen ja nicht bekannt gewesen. Die Arbeit hätte er ihnen auch ersparen können. Sturni nickte anerkennend und bat sie mit einer Handbewegung fortzufahren.

„Die Todesursache ist in dem Fall ziemlich klar. Tod durch Herzversagen aufgrund eines Stiches mitten ins Herz. Kein Selbstmord, sondern Mord. Den Stich konnte sie sich nicht selbst zugefügt haben, das haben wir schon rekonstruiert. Ein neuer Fall für Sie, Kommissar Sturni!“

„Das dachte ich mir schon. Weiter?“

„Interessant ist der Gegenstand, mit dem sie erdolcht wurde.“

„Ein Dolch, vermute ich?“

„Das dachte ich auch, anfangs. Stimmt aber nicht. Sie wurde mit einem Kreuz ermordet, einem sakralen Gegenstand.“

Sturni wurde hellhörig.

„Einem Kreuz, von Dieu?“

„Dieu, ich verstehe nicht?“

„Hugues Dieu, der Clochard, der auf der Insel übernachtet und die Polizei gerufen hat.“

„Ah …“

„Schon gut, vergessen Sie’s.“

Auch sein neuer Kollege Arbogast hatte keinen Humor, zumindest nicht Sturnis Humor. Zugegeben, im Hinblick auf die katholische Kirche war er nicht jedermanns Sache, sein Humor. Er musste sich zurücknehmen, um sich keine Beschwerden seiner neuen Kollegen gegenüber Bouget einzufangen.

„Nein, Herr Dieu war es nicht. Das konnten wir ausschließen. Es befanden sich keinerlei Spuren von ihm an und um die Leiche.“

Klar, er hatte darauf verzichtet, Oriane im Todeskampf zu Hilfe zu eilen und schön abgewartet, bis sie mausetot und der Mörder über alle Berge war. Eigentlich sollte man ihn dafür zur Rechenschaft ziehen, wegen unterlassener Hilfeleistung. Wahrscheinlich war er zum Tatzeitpunkt nicht zurechnungsfähig, mit an die drei Promille im Blut. Man würde ihm nichts anhängen können. Außerdem konnte man von einem Außenstehenden nicht erwarten, dass er sich todesmutig auf einen Mörder mit einem Dolch, in diesem speziellen Fall einem Kreuz, in der Hand stürzte. Nein, sie mussten schon froh sein, wenn aus Dieu etwas Verwertbares herauszubekommen war.

„Kommen wir zurück zur Mordwaffe. Was hat es damit auf sich?“

„Wie gesagt, handelt es sich um keinen Dolch, sondern um ein Kreuz, das nach vorne angespitzt ist. So konnte es als Mordwaffe verwendet werden. Ein handgeschmiedetes, schlichtes Kreuz, wahrscheinlich sehr alt.“

„Das ist in der Tat sehr ungewöhnlich.“

„Wir haben die Mordwaffe auf Spuren untersucht. Keine Fingerabdrücke, der Täter muss Handschuhe getragen haben.“

Josmeyer schaltete sich nun ebenfalls in das Gespräch ein, was Sturni mit einem dankenden Blick quittierte. Es konnte nur noch besser werden.

„Interessant ist aber der Gegenstand an sich. Wir sollten unbedingt sein Alter bestimmen lassen. Ich habe meinen neuen Freund Wattwiller kontaktiert und er wollte mich dabei unterstützen. Er war hochgradig interessiert, als ich ihm die Tatwaffe beschrieben habe.“

Sturni war sich nicht sicher, ob er eine Beteiligung von Claude Wattwiller tatsächlich für sinnvoll hielt, doch dafür war es nun zu spät.

„Ich glaube, dass das handgeschmiedete Kreuz aus dem Mittelalter stammt. Eine erste Analyse des Materials hat die Vermutung bestätigt. Vielleicht sogar aus dem frühen Mittelalter, also zwischen 500 und 1 000 nach Christi Geburt.“

Dieu, Kreuz, Mittelalter … Was sollte das alles? Was hatte Oriane Jacquesson damit zu tun? Sie war Kunsthistorikerin, recherchierte im Münster. War das eine erste Spur?

„Wenn die Vermutung bestätigt wird, stellt sich die Frage, woher diese Tatwaffe kommt. Gegenstände aus dieser Zeit sind extrem selten, finden sich allenfalls in einigen Museen. Die Waffe könnte demnach wichtige Rückschlüsse auf den Täter geben, da man an so ein Kreuz nicht ohne Weiteres rankommt. Der Täter muss verrückt gewesen sein, das Kreuz als Waffe zu verwenden. Das legt doch eine direkte Spur zu ihm. Warum hat er nicht einfach einen gewöhnlichen Dolch verwendet, den man in jedem Waffenladen ohne besondere Genehmigung kaufen kann?”

„Vielleicht war der Mord nicht geplant. Vielleicht haben sich die beiden getroffen, weil der Täter Frau Jacquesson das Kreuz zeigen wollte. Vielleicht wollte sie es ihm abkaufen. Sie ist Kunsthistorikerin und ging irgendeiner geheimen Spur nach. Es gibt doch einen großen Markt für illegale Antiquitäten und Kunstgegenstände. Es kam zum Streit, zum Beispiel über den Kaufpreis, der Täter geriet in Rage und hat sie im Affekt ermordet.“

Sturni ließ seinen Gedanken und Assoziationen freien Lauf.

„Das könnte natürlich sein. Eine Alternative wäre, dass das historische Kreuz bewusst gewählt wurde. Der Tatort, die Tatwaffe, das wirkt irgendwie nicht zufällig, hat etwas Rituelles.“

Immerhin eine Sache hatte Neuling Arbogast mit seinem Vorgänger Belliard gemein. Beide gefielen sich darin, selbst Mutmaßungen anzustellen. Allerdings musste er dem Neuling zugestehen, dass an seiner Vermutung etwas dran sein könnte, er deutlich scharfsinniger schlussfolgerte als sein Vorgänger Belliard.

Arbogast hatte Recht, Oriane lag wie ein Opferlamm vor diesem Gutenberg-Denkmal. Konnte das wirklich ein Zufall sein? Sturni hatte sich jedes Detail des Tatorts im grellen Licht der Scheinwerfer der Polizei eingeprägt.

„Die Möglichkeit müssen wir in Betracht ziehen. Überhaupt, der Tatort. Weiß jemand, was es mit diesem Gutenberg-Gedenkstein auf sich hat, an diesem gottverlassenen Ort, an den sich kein Tourist im Traum verirren würde? Das macht doch keinen Sinn!“

Sturni wusste, dass Johannes Gutenberg, der Erfinder des Buchdrucks, etwa zehn Jahre seines Lebens in Straßburg verbracht hatte. Immerhin gab es einen Place Gutenberg mitten auf der Grande Île, mit einem Denkmal für den großen Meister. Anders als am völlig unbekannten Tatort gab es dort sogar Touristen, die sich die große Statue in der Innenstadt genauer anschauten. Selbst Touristengruppen mit ihren Stadtführern hatte er schon andächtig vor der Statue verweilen sehen.

Die Stadt und ihre Bewohner waren stolz darauf, dass Gutenberg die Grundlagen seiner Erfindung in Straßburg entwickelt hatte. Der Durchbruch mit dem Druck der Gutenberg-Bibeln, dem ersten gedruckten Buch in Serie, war ihm dann aber erst nach Rückkehr in seine Geburtsstadt Mainz gelungen. Während Mainz sich bis heute als die Gutenberg-Stadt verkaufte, war der berühmte Erfinder in Straßburg nur eine von vielen Größen.

„Die Geschichte dieser Gedenkstätte ist kaum bekannt, ist ihre Lage doch zu abgelegen. Als Gutenberg damals, im Jahr 1434, nach Straßburg kam, ließ er sich zunächst außerhalb der Stadt, aber innerhalb des umfriedeten Bereichs des damaligen Klosters Sankt Arbogast nieder. Der Gedenkstein soll daran erinnern, dass Gutenberg an dieser Stelle den Grundstein für den modernen Buchdruck gelegt hat.“

Die junge Generation war also nicht nur spießig, sondern dazu noch furchtbar gebildet. Gerichtsmediziner Arbogast fing an, Sturni Angst zu machen.

„Kloster Sankt Arbogast? Hat das etwas mit Ihnen zu tun? Sind Sie verwandt oder verschwägert mit dem Klostergründer? Mit dem Zölibat nahmen sie es früher ja noch nicht so genau, habe ich mir sagen lassen.“

Der neue junge Kollege druckste herum und wurde puterrot.

„Mein Familienstammbaum lässt sich in der Tat über viele Jahrhunderte zurückverfolgen, allerdings nicht bis auf den ersten Bischof von Straßburg, den heiligen Arbogast, der im 6. und 7. Jahrhundert das Christentum im Elsass etablierte.“

„Auf ihn ging der Name des Klosters zurück? Heute steht da ja nicht mehr viel.“

„So ist es. Der Name des Klosters verweist auf eben jenen heiligen Arbogast, dessen Namen ich zufälligerweise trage.“

Arbogast, Arbogast, hatte er den Namen vor kurzem nicht schon einmal gehört? Richtig, jetzt fiel es ihm wieder ein. Oriane hatte bei ihrem gestrigen Gespräch erwähnt, dass sich ihre Studien auf einen heiligen Arbogast bezögen, dessen Reliquien verschollen seien. Sie wollte in der Angelegenheit Untersuchungen unter der Krypta des Münsters anstellen, die ihr aber von der Diözese verweigert wurden. Wurde ihr die Genehmigung verweigert, weil an der Geschichte etwas dran war?

Und nun wurde sie ermordet aufgefunden, an einer Stelle, an der früher ein Kloster mit dem Namensgeber Arbogast gestanden hatte. Mit einem schlichten Kreuz, das mutmaßlich uralt war und aus dem frühen Mittelalter stammte. War das eine Spur? Er zog seinen Notizblock, notierte die Namen und Begriffe Oriane, Kreuz, Arbogast, Gutenberg und versah sie wechselseitig mit Verbindungsstrichen und einem Fragezeichen.

***

   „Habt ihr sonst noch etwas für mich? Gibt es irgendwelche DNA-Spuren, sonstige Hinweise auf den Täter?“

„Auf ihrer Wange haben wir Speichelreste einer dritten Person gefunden. Frau Jacquesson hat vor ihrem Ableben wohl noch mit jemandem rumgeknutscht.“

Sturni, der seine Kehle gerade mit einem Schluck Wasser kühlte, musste laut husten und prustete Arbogast eine Wasserfontäne ins Gesicht.

„Désolé, das tut mir wirklich leid. Ich muss mich wohl verschluckt haben. Bitte fahren Sie fort!“

Tiefer konnte er im Ansehen seines neuen Kollegen nicht mehr sinken. Mit stoischer Miene wischte Arbogast sich mit einem Stofftaschentuch das Wasser aus dem Gesicht.

„Ein Sexualdelikt können wir aber ausschließen. Oriane Jacquesson wurde nicht vergewaltigt, hatte vermutlich schon seit längerer Zeit keinen Geschlechtsverkehr mehr.“

Sie hatte während der vergangenen zwei Wochen in seiner kleinen Wohnung übernachtet. Das hätte er wohl mitbekommen … Obwohl, Oriane hatte sich nicht groß um ihre Gastgeber geschert, ging bei ihnen ein und aus, wie sie wollte, kam manchmal erst spät in der Nacht oder gar am nächsten Vormittag zurück. In der letzten Nacht, bevor sie ausgezogen war, hatte sie überhaupt nicht bei ihnen geschlafen, und in der darauffolgenden Nacht war sie ermordet worden. Im Grunde genommen hatte er keine Ahnung, was Oriane in den letzten zwei Wochen in Straßburg getrieben hatte.

„Auch die Speichelreste waren älteren Datums, stammten zumindest nicht aus der Zeit, in der sie ermordet wurde, den frühen Morgenstunden der letzten Nacht. Sie hat also nicht mit ihrem Mörder rumgeknutscht, zumindest nicht unmittelbar vor der Tat.“

Sturni fiel ein Stein vom Herzen. Man würde seine Speichelspuren in eine DNA-Datenbank einstellen und einen Abgleich vornehmen. Da sich seine DNA nicht in der Datenbank fand, würde es keinen Treffer geben. Vorerst war er aus dem Schneider und würde nicht als Verdächtiger bei seinen eigenen Ermittlungen ins Visier geraten. Das hätte ihm gerade noch gefehlt …

Wenn dann zu einem späteren Zeitpunkt herauskam, dass es sich um seine DNA handelte, würde er eine gute Ausrede finden. Schließlich hatte Oriane bis gestern noch offiziell bei ihm gewohnt. Ach ja, und Margaux sollte diesen Auszug der Akte dann wohl besser nicht auf ihren Schreibtisch bekommen … Zum Glück war sie bereits in Mutterschutz.

„Die Spur verfolgen wir natürlich weiter, DNA-Feststellung und Abgleich mit unseren Datenbanken. Vielleicht ergibt sich da ja etwas. Was haben wir sonst noch?“

Sturni hatte sich wieder im Griff und versuchte, Arbogast und Josmeyer auf ein anderes Thema zu bringen. Wenn Direktor Bouget in diesem Stadium der Ermittlungen herausfände, dass sich Sturnis DNA-Spuren auf der Leiche befanden, dann würde er ihn sofort von dem Fall abziehen, wenn nicht gar Schlimmeres. Straumann würde den Fall nie lösen. Nein, dieses kleine Detail würde er erst einmal schön für sich behalten. Außerdem mussten seine Kollegen zunächst einmal nicht wissen, dass das Mordopfer zwei Wochen lang bei ihm gewohnt hatte …

***

   „Wir haben Frau Jacquessons Ärzte ausfindig gemacht und eine Stellungnahme zu ihrem Gesundheitszustand eingeholt.“

Sturni staunte, wie schnell so etwas heutzutage gehen konnte.

„Auf mich machte sie einen fitten Eindruck.“

Fragende Blicke von Arbogast und Josmeyer. Er fühlte sich ertappt, hatte sich verplappert …

„Alors, ich meine, ihre Leiche … machte einen fitten Eindruck auf mich. Äh, also, bevor sie ermordet wurde … vermute ich mal … “

Er druckste herum und dachte daran, wie sie sich vor ihm auf ihrem Bett geräkelt hatte. Aber das ging seine neuen Kollegen nun wirklich nichts an … Sie war wirklich top in Form gewesen, auch wenn der Schönheitschirurg an der einen und anderen Stelle noch Optimierungen vorgenommen hatte.

Josmeyer und Arbogast sahen sich an und beschlossen dann stillschweigend, dem sinnentleerten Gestammel des ermittelnden Hauptkommissars keine weitere Bedeutung zuzumessen …

„Der Eindruck täuscht. Die Frau war sterbenskrank, hätte wohl nur noch wenige Monate zu leben gehabt, wenn sie nicht zuvor gewaltsam aus dem Leben gerissen worden wäre.“

Sturni schluckte. Hätte er das gewusst, dann hätte er sich anders verhalten, wäre freundlicher gewesen. Nun bekam er doch ein schlechtes Gewissen.

„An welcher Erkrankung litt sie denn?“

„Sie hatte einen Gehirntumor, nicht operabel. Der Tumor begann bereits auf die Gehirnregion Nucleus accumbens zu drücken.“

„Nucleus, was?“

„Der Bereich im Gehirn, der gemeinhin als das Lustzentrum gilt.“

„Ah!“

„Durch die weitere Ausbreitung des Tumors hätte Frau Jacquesson in Kürze ihr Lustempfinden verloren, einige Zeit später hätte er zum Tod geführt. Ihre Ärzte sagten aus, dass Frau Jacquesson über ihren Gesundheitszustand und ihre Perspektiven im Bilde war.“

Sturni hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Nun wurde ihm einiges klar, ihre extreme Verwandlung seit ihrem Kennenlernen in Paris, ihre plumpe Anmache, ihr exzessives Verhalten. Oriane wusste, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte. Sie wusste, dass ihre Fähigkeit Lust zu empfinden in Kürze verloren gehen würde, bevor sie einige Zeit später ihr Leben verlieren würde.

Offensichtlich hatte sie sich mit dieser Diagnose dazu entschieden, das Maximale aus der ihr noch verbleibenden Zeit herauszuholen, Leben und Lust im Exzess zu genießen, solange ihr dies noch vergönnt war.

Wieder einmal wurde ihm bewusst, wie kurz, wie zerbrechlich das Leben doch war, wie intensiv man jeden Moment des Glücks genießen sollte, wissend, dass er, dass das Leben an sich, jederzeit zu Ende sein konnte.

„Das ist eine wichtige Information, auch wenn ich nicht glaube, dass ihre Erkrankung etwas mit ihrer Ermordung zu tun hatte. Wir müssen diesen Umstand aber auf jeden Fall im Hinterkopf behalten.“

Ein weiterer Gedanke kam Sturni in den Sinn. Wenn Oriane wusste, dass sie nur noch wenige Monate zu leben hatte, weshalb hatte sie sich dann dazu entschieden, nach Straßburg zu ziehen, um dort ihrer Forschungsarbeit nachzugehen?

Nun gut, Sturni hätte selbstverständlich Straßburg gewählt, um dort seine letzten Momente zu verbringen. Er ging aber davon aus, dass Orianes Liebe für die Stadt nicht mit der seinen vergleichbar war. Es musste also etwas mit ihren Studien zu tun haben. Diese mussten ihr so wichtig gewesen sein, dass sie selbst die letzten Momente ihres Lebens damit verbringen wollte. Offensichtlich ging sie einer – zumindest für sie – wichtigen Spur nach, die sie unbedingt noch vor ihrem Tod aufdecken wollte. Sturni machte sich eine weitere Notiz in seinen Block: Oriane, Recherchen, Münster …?

***

   „Gibt es sonst noch etwas? Irgendwelche Spuren und Hinweise auf den Täter am Körper der Leiche oder am Tatort?“

„Die gibt es in der Tat.“

Nun war Josmeyer an der Reihe. Zu ihm hatte er gleich einen besseren Draht als zu Arbogast.

„Wir haben Stoffreste unter den Fingernägeln der Leiche gefunden, die nicht zur Kleidung des Opfers gehörten. Vor ihrem Tod hat Frau Jacquesson noch versucht, sich zu wehren. Vielleicht hat sie sich in die Kleidung des Mörders gekrallt, nachdem der Täter ihr das Kreuz ins Herz gerammt hatte.“

„Das ist eine interessante Spur, die wir genauer untersuchen müssen. Um was für einen Stoff handelt es sich?“

„Auch das ist bemerkenswert. Wir haben die Stofffasern analysiert. Vermutlich stammen sie von einer Kutte, einem kirchlichen Gewand.“

Einer Kutte? Hatte nicht Clochard Dieu ausgesagt, der Mörder habe eine Kutte getragen?

„Wir konnten sogar noch eine weitere Eingrenzung vornehmen. Es könnte sich um ein Ordenskleid gehandelt haben, das von Nonnen getragen wird. Demnach würde die Spur nicht auf einen Täter, sondern eine Täterin hinweisen, die das Ordenskleid einer Nonne getragen hat.“

Eine Frau als Täterin? Auf den Gedanken war Sturni bisher noch nicht gekommen. Es handelte sich um eine brutale Gewalttat, die auf einen Mann schließen ließ. Einen Dolch rammte man einem anderen Menschen nicht so einfach durch das Brustbein ins Herz, schon gar kein angespitztes Kreuz. Dafür war große Kraft notwendig, vor allem, wenn die Person sich auch noch zu verteidigen versuchte.

Eine Nonne also … Natürlich konnte der Mörder auch einfach das Gewand einer Nonne als Tarnung angezogen haben. Doch was, wenn es sich bei der Mörderin tatsächlich um eine Nonne handelte? Alle bisherigen Spuren hatten einen religiösen Bezug. Warum also nicht eine Nonne als Täterin? Sturni machte sich eine weitere Notiz.

***

   „Très bien. Habt ihr sonst noch etwas für mich?“

„Ja, in den Stofffasern fanden sich Spuren von Teig.“

„Der oder die Täterin hat also beim Essen gekleckert oder gekrümelt. Ob uns das wirklich weiterbringt?“

„In diesem besonderen Fall vielleicht schon. Heutzutage ist das Brot, das man beim Bäcker kauft, ein quasi designtes Produkt mit vielen verschiedenen Inhaltsstoffen. Die meisten Bäcker verwenden industriell vorgefertigte Backmischungen, die von Lebensmittelchemikern speziell auf den Geschmack der Kunden ausgerichtet wurden.“

„Und was ist so besonders an unseren Brotresten?“

„Die Krümel, die wir analysiert haben, enthalten nichts von alledem.“

„Ein Baguette vielleicht?“

„Selbst Baguette hat mehrere Inhaltsstoffe. Neben Weizenmehl hätten wir zumindest Spuren von Hefe, Salz, Zucker und vielleicht auch Milch finden müssen, was nicht der Fall war.“

„Okay, unser Mörder hat sein Brot bei einem Öko-Bäcker eingekauft. Da muss er heutzutage nicht mehr nach Kehl oder gar in die Öko-Metropole Freiburg rüberfahren, die gibt es jetzt auch bei uns in Straßburg. Hinweis ist notiert, auch wenn uns das nicht viel weiterbringen wird.“

Josmeyer und Arbogast räusperten sich gleichzeitig. Seine beiden jungen Kollegen standen ihm gegenüber und schauten ihn an, als sei er schwer von Begriff, ein oller Trottel in hoher Funktion.

„Auch diese Schlussfolgerung greift zu kurz. Die Teigreste enthielten lediglich Weizenmehl, sonst nichts.“

Josmeyer sah ihn Beifall heischend an und erntete seinerseits einen verständnislosen Blick, diesmal von Sturni.

„Unser Mörder hatte also keine Glutenunverträglichkeit, ist notiert. Das schränkt den Täterkreis natürlich enorm ein, heutzutage.“

Sturni dachte an die vielen Kinder in Christians Schule, die allergisch auf irgendwelche Lebensmittel reagierten. Eine Plage der modernen, klinisch reinen Industrieländer, in denen sich die Immunsysteme der Kinder nicht mehr richtig ausbilden konnten, sicher. In seinem neuen Fall brachte es ihn nicht wirklich weiter.

„Das Brot, das an den Stoffresten klebte, die wir an Oriane Jacquessons Fingernägeln gefunden haben, wurde nur mit Weizenmehl und Wasser gebacken. Selbst ein Bäcker, der seine Backmischungen noch selbst zusammenmischt, und davon gibt es kaum noch welche, hätte weitere Inhaltsstoffe verwendet. Nicht einmal eine Prise Salz befand sich in den Teigresten. Die Inhaltsstoffe Weizenmehl und Wasser weisen darauf hin, dass es sich um Reste von Hostien gehandelt hat. Nur Hostien beschränken sich streng auf diese Inhaltsstoffe. Das ist klar im Kirchenrecht geregelt. Der Codex Iuris Canonici besagt im Hinblick auf den Leib Christi klar: „Das Brot muss aus reinem Weizenmehl bereitet und noch frisch sein, sodass keine Gefahr der Verderbnis besteht.“

Nun musste Sturni doch aufhorchen. Alleskönner Arbogast hatte wohl im Studium vor Langeweile auch noch das katholische Kirchenrecht auswendig gelernt. Dieser Hinweis war allerdings wichtig. Stoffreste, die auf das Gewand einer Nonne schließen ließen, mit Spuren von Hostien darauf. Die Spur zeigte glasklar in Richtung eines Vertreters der Kirche, oder einer Vertreterin. Er machte eine weitere Notiz in seinen Block, Alphonse Sipp anrufen! Der Pfarrer des Münsters war sympathisch, würde ihm vielleicht weiterhelfen können. Natürlich musste er im Hinterkopf behalten, dass er selbst als Täter in Betracht kommen konnte. Der Küster und der Generalvikar, mit denen er gestern auch Bekanntschaft geschlossen hatte, kamen ihm weniger entgegenkommend vor. Er würde sein Glück beim Pfarrer versuchen.

„Hoffentlich bietet die katholische Kirche auch eine glutenfreie Variante des Leibes Christi an, sonst verliert sie auch noch die Gläubigen mit Zöliakie“, murmelte er noch in seinen Dreitagebart hinein.

Dann bedankte er sich bei Josmeyer und Arbogast für die Ergebnisse und die wertvollen Tipps und verabschiedete sich. Die Spurensicherung und der Gerichtsmediziner hatten mehr herausgefunden, als er erwarten konnte. Es gab eine konkrete Spur, auch wenn sie bisher noch vage war. Ein uraltes Kreuz als Tatwaffe, ein Todeskampf, Stoffreste mit Brotteig unter den Fingernägeln des Opfers, die auf eine Nonne oder einen Mönch als Täter schließen ließen. Das war das Milieu, in dem er sich als Nächstes umhören würde, die katholische Kirche. Da traf es sich ja bestens, dass er gestern schon erste Kontakte geknüpft hatte.

Nachdem er im Polizeipräsidium angekommen war, fand er den Bericht zur Sachbeschädigung an der Jesusfigur in dreifacher Ausfertigung auf seinem Schreibtisch vor. Ohne die Akte auch nur zu öffnen, legte er die für ihn bestimmte Fassung in seine Ablage für erledigte Vorgänge. Dann ging er in Tignels und Küchlers Büro und legte ihnen jeweils ein Exemplar davon auf den Schreibtisch. Er hatte nun wirklich Wichtigeres zu tun. Es galt, den Mord an Oriane Jacquesson aufzuklären.

Fortsetzung folgt…

Stefan Böhm

Straßburger Glaubensbekenntnis
Kommissar Sturnis dritter Fall

Originalausgabe
1. Auflage
© 2020 Stefan Böhm
Taschenbuch-ISBN: 978-3-969-66410-0
Umschlagsgestaltung und Satz:
Sarah Schemske (www.buecherschmiede.net)
Lektorat: Martin Villinger
Korrektorat: Bücherschmiede (www.buecherschmiede.net)
Bestellung und Vertrieb: Nova MD GmbH, Vachendorf
Druck und Bindung:
Sowa Sp. z o.o.
ul. Raszyńska 13
05-500 Piaseczno
Polen

Alle Rechte vorbehalten. Alle Figuren und deren Biografien sind erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

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