Der „Literarische Adventskalender“ (20)

Autor Stefan Böhm und Eurojournalist(e) präsentieren: „Straßburger Glaubensbekenntnis - Kommissar Sturnis dritter Fall“. Heute: Kapitel 20 – „Der Verdacht“

Selbst an so wundervollen Orten wie der "Petite France" geschehen entsetzliche Verbrechen... Foto: Stefan Böhm / CC-BY-SA 4.0int

Kapitel 20 – Der Verdacht

Im Präsidium angekommen, begab er sich gleich zu Auguste Romain und seiner IT-Abteilung. Romain und er hatten sich arrangiert in den letzten Jahren. Der Leiter des IT-Bereichs war immer noch Bougets Liebling, doch hatte auch Sturni seinen Platz innerhalb der Führungsriege der Kriminalbeamten behauptet. Er war einfach zu gut in seinem Metier, als dass man auf ihn hätte verzichten können.

„Schön, dass du uns mal wieder beehrst. Habe mich über die Eckdaten deines neuen Falls informiert. Tolle Frau!“

Sturni sah ihn verständnislos an. Auf Bougets Schreibtisch lagen große Abzüge von Orianes Leiche am Tatort, die von der Spurensicherung aufgenommen worden waren. Ihr bildhübsches Gesicht wurde auf den Bildern vom grellen Scheinwerferlicht erhellt. Ihr wohlgeformter Körper, ihr überdimensionierter Vorbau zeichnete sich deutlich unter ihrer Bluse ab, zwischen ihren Brüsten das mittelalterliche Kreuz, das die Mörderin ihr durch das Brustbein gerammt hatte, die weiße Bluse im Bereich der Brust rot getränkt mit ihrem Blut. Es war ein surrealer Anblick.

Wie konnte Romain beim Bild der ermordeten Frau nur so einen Kommentar ablassen? Das war geschmacklos! Für Sturni war Romain der Prototyp eines IT-Nerds, fett, speckig, mit ungepflegten langen Haaren und Klamotten, die er tagelang nicht wechselte. Ein Kollege von der Sitte hatte ihm mal im Vertrauen erzählt, dass er Romain einmal in Flagranti an der Route du Petit Rhin, also unmittelbar vor der Grenze nach Deutschland, am Straßenstrich aufgegriffen hatte, als Kunde … Da es sich um einen Kollegen gehandelt habe, habe er noch mal beide Augen zugedrückt, was eigentlich gegen die Dienstvorschriften war.

In Frankreich war seit einigen Jahren schon die Inanspruchnahme sexueller Dienstleistungen strafbar und Freier mussten mit einer saftigen Buße rechnen. Schlimmer als die Strafe an sich war für viele ertappte, vermeintlich treue Familienväter, erfolgreiche Geschäftsleute und sogar Politiker, die Scham der Enthüllung. Sturni war froh, dass er damit nichts zu tun hatte. Die Aufklärung eines Mordfalls war da doch eine klare Sache, meistens zumindest. Leider gab es viel zu häufig Überschneidungen in dieses Milieu bei seinen Mordfällen …

Die Geschichte passte zu Sturnis Bild von Romain. Er war einfach nur widerlich! Aber es half nichts, er war nun einmal ein Genie in IT-Dingen, wurde von Direktor Bouget – weshalb auch immer – nach Kräften gefördert, und hatte Sturni schon bei vielen Fällen entscheidende Tipps gegeben.

Sturni vermutete ja, dass Romain Direktor Bouget in der Hand hatte. Vielleicht verfügte er über geheime Aufnahmen von Bouget aus einem Kehler Stundenhotel jenseits der Grenze, wer wusste das schon. Fakt war, dass ihr gemeinsamer Direktor Romain alles durchgehen ließ, während er für den geringsten Fehltritt Ärger mit seinem supérieur bekam. Geflissentlich überging Sturni dennoch seine geschmacklose Bemerkung und kam zur Sache.

„Straumann hat mir gesagt, dass ihr das Laptop des Mordopfers untersucht. Habt ihr schon etwas sicherstellen können, was wichtig für uns sein könnte?“

„Ich hatte mir spannendere Fotos erhofft, bei dieser Sexbombe!“

Er war einfach nur abstoßend. Oriane war tot, und er geilte sich an den Bildern ihrer Leiche auf.

„Leider war in der Hinsicht nichts Brauchbares dabei.“

Jegliches schlechte Gewissen oder Taktgefühl ging diesem Menschen ab.

„Allerdings hat sie in der Tat am Tag vor ihrem Tod noch an ihrem Rechner gearbeitet. Sie hat Fotos hochgeladen, wie gesagt, leider nicht von ihrem entblößten Prachtkörper, sondern irgendwelche ollen Buchseiten.“

Sturni hatte zunehmend Mühe, die Contenance zu wahren, aber es half alles nichts, gegenüber Romain würde er immer den Kürzeren ziehen. Bouget würde sämtliche Beschwerden gegen ihn unter fadenscheinigen Vorwänden abwiegeln.

„Kannst du mir die Bilder auf meinen Rechner schicken? Kann ich sie mir mal anschauen?“

„Nichts leichter als das!“

Wenige Klicks mit seiner Maus und die angekündigten Fotos erschienen auf Romains riesigem Bildschirm. Am Vortag ihrer Ermordung hatte Oriane vormittags eine große Anzahl Bilder von ihrer Handykamera hochgeladen und auf ihrem Rechner abgelegt. Das war der Tag, an dem er sie mittags in ihrer neuen Wohnung gesehen hatte.

Bei den Fotos handelte sich tatsächlich um ein antiquarisches Buch. Vom Einband bis zur letzten Seite hatte Oriane es fotografiert und die Bilder auf ihrer Festplatte hinterlegt. Sturni dachte angestrengt nach. Was hatte es damit auf sich?

Das Buch war eingebunden in Rot eingefärbtes Leder, die Kanten waren mit Messingbeschlägen verstärkt. Auf dem ledernen Einband waren Wappen und Siegel eingeprägt, alles sah sehr hochwertig aus. Das galt auch für die fotografierten Seiten. Was war das für eine Sprache, deutsch, lateinisch, französisch? Sturni konnte es nicht erkennen. Auf den Seiten fanden sich neben dem Text Verzierungen und Malereien. Die Anfangsbuchstaben auf jeder Seite waren filigran verziert, wirkten handgemalt. Keine Frage, dies war kein gewöhnliches Buch, sondern ein Kunstwerk.

Während Sturni nachdachte, glotzte Romain lustvoll auf das Bild der toten Oriane. War der Typ etwa nekrophil? Der Mann fing an, ihm Angst zu machen. Und so jemand war ein hochgestellter Beamter im Polizeipräsidium …

Was hatte es mit dem Buch auf sich? Weshalb beschäftigte sie sich damit, wissend, dass sie nur noch wenige Monate zu leben haben würde? Hatte es etwas mit ihren Studien zu tun, im Münster?

Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er rief sich Wattwillers Worte in Erinnerung, als er vom Ergebnis seiner Untersuchungen im Hohlraum hinter der Jesusfigur an der Kanzel des Münsters berichtete:

„Wir haben Spuren von Papier, Leder und Metallabrieb, wahrscheinlich Messing, in dem kleinen Hohlraum gefunden. Die Papierspuren scheinen sehr alt zu sein. Außerdem befanden sich Rückstände von Druckerschwärze darauf. Die Spuren von Leder und Messing könnten auf einen Bucheinband hinweisen. All das deutet auf ein Buch hin.“

Während seiner Ermittlungen war Sturnis Gehirn zu außergewöhnlichen Leistungen fähig. Er konnte ganze Sequenzen von Dialogen vor seinem inneren Auge hervorrufen, Bilder von Tatorten fotografisch abspeichern. Mit dieser Fähigkeit hatte er schon so manchen Fall gelöst. Außerhalb seiner Ermittlungen funktionierte sein Gedächtnis hingegen wie ein Sieb.

Sollte es sich etwa um das verschwundene Buch handeln, das Wattwiller hinter der Jesusfigur in der Kanzel des Münsters vermutete? War Oriane vielleicht sogar die Täterin? Hatte sie das geheimnisvolle Buch bei einer Nacht-und-Nebel-Aktion geklaut und die Beschädigung der Figur war dabei nur Mittel zum Zweck?

Sturni erinnerte sich, wie er ihr von dem Vorfall erzählt hatte:

Ich komme übrigens gerade aus dem Münster, das hast du ja gesehen. War dienstlich dort. Jemand hat heute Nacht die Jesusfigur an der Kanzel abgeschlagen. Ausgerechnet in der Nacht vor dem Jesus-Leuchten, dem großen Spektakel.

Sie hatte sich unwissend gegeben:

Ist nicht wahr? Das habe ich ja gar nicht mitbekommen. Und was hast du damit zu tun? Ich dachte, du bist Mordermittler. Hat man dich degradiert, Abteilung Kunstraub? Wenn du mich brauchst, ich helfe gerne. Zufälligerweise habe ich mich während meiner Doktorarbeit intensiv mit den Kanzeln der Spätgotik befasst und die berühmte Kanzel im Straßburger Münster war ein wesentlicher Teil davon. Ich könnte dir jetzt einen kleinen Fachvortrag dazu halten, obwohl ich eigentlich Lust auf etwas anderes hätte…

Er ließ den Dialog, die ganze Situation vor seinem inneren Auge Revue passieren, rief sich ihren Gesichtsausdruck ins Gedächtnis, als er ihr von dem Vorfall erzählte …

Oriane hatte ihn angelogen! Sie wusste ganz genau, was in der Nacht im Münster geschehen war. Irgendetwas an ihrem Gesichtsausdruck war ihm für den Bruchteil einer Sekunde komisch vorgekommen, bevor sie sich wieder im Griff hatte. Oriane war tatsächlich auf der Suche nach einem im Münster verborgenen Gegenstand, doch er befand sich nicht unter der Krypta, sondern in der Kanzel, hinter der filigranen Figur des Jesus, und sie hatte ihn in der Nacht zuvor gestohlen.

Und ihre plumpe Anmache? War das etwa nur ein Ablenkungsmanöver? Sturni war fast ein wenig enttäuscht …

Es passte alles zusammen, altes Papier mit Druckerschwärze darauf, ein roter Ledereinband, Messingbeschläge. Wattwiller hatte recht mit seiner Vermutung. Im Hohlraum hinter der Jesusfigur hatte sich ein Buch befunden, ein Buch, das von Oriane Jacquesson gestohlen und fotografiert worden war. Die Fotos hatte er vor sich. Doch wo war das Original?

„Merci, Auguste! Das ist wirklich sehr hilfreich für mich. Ich melde mich, wenn ich noch etwas von dir benötige.“

Versonnen blickte Romain auf das Bild der toten Oriane, aus seinem Mundwinkel lief etwas Speichel herab. Der Typ mochte ein perverses Schwein sein, doch er hatte ihm einmal mehr einen entscheidenden Hinweis gegeben.

Sturni stürmte in sein Büro und fuhr den Rechner hoch. Romain war ein zuverlässiges, perverses Schwein. Die Datei mit den Fotos befand sich schon als ZIP-Datei in seinem Posteingang.

Sturni betrachtete die Bilder erneut, sah sich jede Seite genau an. Das musste es sein. Es gab eine Verbindung zwischen der Sachbeschädigung im Münster und dem Mord an Oriane, mit einem grundlegenden Unterschied: Im ersten Fall war Oriane die Täterin und im zweiten das Opfer …

Er nahm die noch verschlossene Akte der Sachbeschädigung im Münster von seiner Ablage für erledigte Angelegenheiten und legte sie mitten auf seinen Schreibtisch. Küchlers und Tignels Fall war nun wieder der Seine.

Wer könnte ihm dabei weiterhelfen? Um was für ein Buch handelte es sich, das so wertvoll oder wichtig war, dass man es – vielleicht jahrhundertelang – in einem Geheimversteck in der Kanzel des Münsters verborgen hielt? Wer hatte es dort versteckt?

Wattwiller kam ihm in den Sinn, doch er verwarf den Gedanken gleich wieder. Nichts interessierte Watt-will-er mehr als der Inhalt des Hohlraums hinter der Jesusfigur. Wahrscheinlich könnte er ihm sogar weiterhelfen, doch dann wüssten er und die ganze Diözese innerhalb kürzester Zeit, was sich in dem Hohlraum befunden hatte. Das wollte er nicht, im Moment zumindest.

Olivia …, weshalb hatte er nicht gleich an sie gedacht? Er musste sie ohnehin anrufen, ihr mitteilen, dass ihre Freundin Oriane ermordet worden war. Das hätte er schon längst tun sollen, die beiden waren eng befreundet. Nur ihretwegen hatte er Oriane für zwei Wochen bei sich aufgenommen und sich dafür jede Menge Ärger mit Margaux eingehandelt. Plötzlich fühlte er sich schuldig, hatte ein schlechtes Gewissen. Oriane Jacquesson war eine erwachsene Frau, sicher, wusste, was sie tat. Dennoch hatte Olivia sie ihm quasi „anvertraut“, während sie in Straßburg war. Hätte er ihren Tod verhindern können, ja müssen?

Er wählte ihre Nummer:

„Antoine, wie schön von dir zu hören! Wie geht es dir, euch? Wann kommt das Baby? Und wie läuft es mit Oriane? Hat sie inzwischen eine Wohnung gefunden? Sie ist ganz schön „speziell“ geworden, nicht wahr? Ich hätte dich vorwarnen müssen.“

Olivia hatte offensichtlich schon einige Tage keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt, wusste von nichts.

„Ich habe leider schreckliche Neuigkeiten. Oriane ist tot. Sie wurde ermordet!“

Sekundenlang Stille am anderen Ende der Leitung. Oriane war eine ihrer engsten Freundinnen gewesen.

„Das ist ja furchtbar!“

„Ich wollte dich schon längst darüber informieren, kam aber nicht dazu. Gestern Morgen wurde sie erstochen aufgefunden. Ich ermittle in dem Fall.“

Am anderen Ende der Leitung hörte er, wie Olivia schluchzte und in Tränen ausbrach. Er hätte taktvoller vorgehen sollen. Unbedingt musste er mal eines dieser Seminare besuchen, bei dem Polizeibeamten beigebracht wurde, wie man nahen Angehörigen und Freunden schwere Schicksalsschläge vermittelte, Selbstmorde, Mord … Außerdem nahm er sich vor, die Betriebspsychologin zu kontaktieren, wenn er mal wieder etwas Luft hatte. Wieder spürte er heftige Kopfschmerzen, Schwindelgefühle überkamen ihn. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Er musste dem nachgehen, später, wenn Zeit dafür war …

„Wusstest du, dass Oriane sterbenskrank war? Sie hatte nur noch wenige Monate zu leben.“

„Nein, davon hatte ich keine Ahnung. Sie kam mir vor wie das blühende Leben. Im Gegenteil, ich hatte den Eindruck, dass sie in letzter Zeit erst so richtig aufdrehte, Schönheits-OPs, Männergeschichten, das war zuvor nie ihr Stil gewesen.“

„Das hatte wohl mit ihrer Erkrankung zu tun. Sie wollte die ihr verbleibende Zeit noch in vollen Zügen genießen.“

„Das könnte eine Erklärung sein.“

Sturni räusperte sich.

„Olivia, es tut mir leid. Ich fühle mich schuldig und verantwortlich. Oriane hatte die letzten zwei Wochen bei uns gewohnt. Erst am Tag vor ihrer Ermordung ist sie bei uns ausgezogen. Ich konnte ihren Tod nicht verhindern.“

„Mach dir keine Vorwürfe! Hättest du eine Chance dazu gehabt, wäre sie noch am Leben, da bin ich mir ganz sicher.“

„Ich kann sie nicht mehr zum Leben erwecken, auch wenn ich das gerne würde. Aber ich kann ihren Mörder finden. Und du kannst mir vielleicht dabei helfen.“

„Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um Orianes Mörder zu überführen. Was kann ich für dich tun?“

„Weißt du, woran sie in Straßburg arbeiten wollte?“

„Wahrscheinlich nicht viel mehr als du. Bei ihren Studien in Paris war sie wohl auf eine Quelle aus dem ausgehenden Mittelalter gestoßen, nach der es im Straßburger Münster ein Geheimnis gebe. Dieses Geheimnis wollte sie lüften. Nur deshalb war sie nach Straßburg gezogen. Worum es dabei aber genau ging, weiß ich nicht.“

„In der Nacht vor ihrer Ermordung wurde im Münster eine Jesusfigur beschädigt. Dahinter befand sich ein Hohlraum. Unsere Spurensicherung und ein Restaurator des Münsters haben diesen Raum untersucht und vermuten, dass ein Buch darin versteckt war. Das Buch wurde offensichtlich entwendet, zumindest war der selbst Experten unbekannte Hohlraum leer.“

„Hört sich spannend an. Aber was hat das mit Oriane zu tun? Glaubst du etwa, dass sie die Figur beschädigt und das Buch geklaut hat? Das wäre nicht ihre Art. Sie war kein krimineller Mensch, konnte keiner Fliege etwas zuleide tun.“

„Wir haben Orianes Rechner nach ihrem Tod untersucht. Am Morgen nach dem Einbruch und der Sachbeschädigung im Münster hat sie auf ihrem Laptop Fotos hinterlegt, von einem Buch. Sie hat jede Seite eines sehr kunstvoll gearbeiteten antiquarischen Buches fotografiert und auf ihrer Festplatte abgespeichert. Ist das nicht ein merkwürdiger Zufall?“

Stille am anderen Ende der Leitung.

„Olivia, bist du noch da?

„Ja, ich höre. Und nun vermutest du, dass Oriane die Täterin war?“

„Oriane hatte nichts mehr zu verlieren, sie war dem Tod geweiht. Und sie war offensichtlich besessen von der Idee, vor ihrem Tod noch ein Geheimnis des Straßburger Münsters aufzudecken. Und just in der Nacht vor ihrem Tod wird – mutmaßlich – ein geheimes Buch aus dem Münster entwendet. Man muss kein Kriminalhauptkommissar sein, um da einen Zusammenhang zu vermuten.“

„Wo ist das Buch jetzt? Habt ihr es gefunden?“

„Nein, es ist verschwunden.“

„Womit kann ich dir dann weiterhelfen?

„Kann ich dir Orianes Bilder zuschicken? Kannst du sie dir mal anschauen? Du bist Kunsthistorikerin, kennst dich vielleicht ein wenig damit aus und kannst mir sagen, um was für ein Buch es sich handelt, Alter, Sprache und so weiter. Ich könnte auch Experten hier in Straßburg damit betrauen, möchte aber keine schlafenden Hunde wecken. Vielleicht wurde Oriane das Buch entwendet, bevor oder nachdem sie ermordet wurde. Vielleicht interessierte sich außer Oriane noch jemand so brennend für dieses ominöse Buch, dass er nicht einmal vor einem Mord zurückschreckte, um in dessen Besitz zu gelangen. Mit der Offenlegung des Verstecks könnte Oriane eine jahrhundertelang verborgene und auch vergessene Büchse der Pandora geöffnet haben. Es könnte sein, dass sie ihren Sensationsfund mit dem Leben bezahlt hat, weil auch jemand anderes dieses Geheimnis lüften wollte. Oder aber, weil dieser Jemand wollte, dass das von Oriane gelüftete Geheimnis auch in Zukunft geheim bleibt. Ihr Tod könnte auf jeden Fall mit dem geheimnisvollen Buch zusammenhängen.“

„Klar, schick mir die Bilder rüber. Ich schaue sie mir sofort an und melde mich, wenn ich dir einige Hinweise geben kann. Mit der Geschichte des Buchdrucks habe ich mich übrigens schon einmal während meines Studiums intensiver beschäftigt. Straßburg spielte eine wesentliche Rolle dabei, auch wenn Johannes Gutenberg der Durchbruch erst später in Mainz gelang.“

Olivia begann zu dozieren. Sie war eine begeisterte Wissenschaftlerin.

„Mit der neuen Technologie wurde eine Revolution losgetreten, der Buchdruck. Mit ihr ging das Mittelalter zu Ende und es begann unser modernes, wissensbasiertes Zeitalter. Reformation, Renaissance, all das wäre ohne Gutenbergs Erfindung so nicht möglich gewesen.“

Seine Pariser Freundin lebte, was Oriane in den letzten Monaten ihres Lebens versucht hatte. Sie liebte den Exzess – ihr Männerverschleiß war vergleichbar mit Sturnis Wechselhäufigkeit seiner Unterwäsche – und war gleichsam besessen von ihrer Arbeit, ihren Studien als Kunsthistorikerin.

Sturni dachte bei ihren Ausführungen an den Gedenkstein für Gutenberg auf der Île Coléo und drückte dann auf Senden.

„Die Bilder sind auf dem Weg zu dir. Melde dich, sobald du mir eine erste Einschätzung geben kannst. À bientôt!“

Er legte auf und fuhr seinen Rechner herunter.

***

Zu Hause hatten sie heute noch etwas zu feiern, eigentlich … Christian hatte für sein Referat über die höchsten Wolkenkratzer der Welt die höchstmögliche Punktzahl bekommen. Sein Sohn war ihm mit der freudigen Nachricht in die Arme gefallen, noch bevor die Wohnungstür ins Schloss gefallen war.

Warum empfing ihn Margaux bei so einem freudigen Anlass dann mit hochrotem Kopf und verschränkten Armen …? Richtig, der Termin mit den Schwiegereltern …, den hatte er schon wieder ganz vergessen. Sturni hatte ihr nicht einmal eine entschuldigende Nachricht – Ermittlungsdruck und so weiter – zukommen lassen. Er gab Margaux einen verhaltenen Kuss auf die Wange, den sie nicht erwiderte. Oh là, das würde noch heiter werden…

Jetzt war jedoch nicht der richtige Zeitpunkt, das Thema auszudiskutieren, nicht vor Christian. Sein Vortrag war als der Beste der ganzen Klasse ausgezeichnet worden. Ja, er sollte ihn sogar an höherer Stelle vor einem Fachgremium noch einmal vortragen dürfen, beim Präfekten. Christian Sturni als hochbegabtes Kind mit einem Vortrag vor Expertenpublikum im Hôtel de Klinglin … Nicht wie sein Vater, der dort allenfalls zum Rapport einbestellt wurde, wenn es bei der Ermittlung eines Mordfalls, der für die Presse von Interesse war, mal wieder nicht schnell genug ging, und er sich dort einen Einlauf abholen durfte … Sturni musste schmunzeln, bei dem Gedanken.

Der kleine Exkurs, dass ab dem ausgehenden Mittelalter das höchste Gebäude der Welt über mehr als vier Jahrhunderte nicht in Dubai, Shanghai, Mekka oder Shenzhen, sondern in Straßburg gestanden hatte, war ausschlaggebend für Christians Erfolg gewesen.

Nun gut, der Teil mit den historischen Ausführungen war ein Tipp vom Papa. Im Jahr 1439 wurde der 142 Meter hohe Turm des Münsters vom damaligen Baumeister Johann Hültz fertiggestellt und war damit für Jahrhunderte das höchste Gebäude der Christenheit, ja der ganzen Welt. Erst im ausgehenden 19. Jahrhundert gab es höhere Gebäude, gekrönt vom Eiffelturm, der in dieser Hinsicht eine neue Zeitrechnung einläutete.

Bien, da gab es noch die Kathedrale von Lincoln in England und die St. Marienkirche in Stralsund in Deutschland, aber deren Turmhöhen wurden nie wirklich bestätigt, zählten also nicht, schon gar nicht in Frankreich …

Heutzutage wurde der Rekord des höchsten Wolkenkratzers der Welt allenfalls für ein paar Jahre von einem Gebäude am Golf oder in Fernost gehalten, bevor er vom nächsten Projekt des Größenwahns unserer Zeit abgelöst wurde. Ein moderner Wettstreit eines Turmbaus zu Babel, aber das hatte er seinem Sohn nicht für sein Referat mitgegeben.

Wenn man in der Geschichte das höchste Gebäude der Welt als ein Symbol für Wirtschaftskraft, technische Avantgarde und Macht verstehen wollte, so befand sich der Nabel der Welt damals nicht am Golf oder in China, sondern vor ihrer Nase, auf der Grande Île am Oberrhein, in Straßburg, für unglaubliche vierhundert Jahre!

Sturni war mächtig stolz auf seinen Sohn. Der Junge machte sich prächtig, trotz Scheidung und Leben in Patchworkfamilien. Das war alles andere als selbstverständlich.

Fortsetzung folgt…

Stefan Böhm

Straßburger Glaubensbekenntnis
Kommissar Sturnis dritter Fall

Originalausgabe
1. Auflage
© 2020 Stefan Böhm
Taschenbuch-ISBN: 978-3-969-66410-0
Umschlagsgestaltung und Satz:
Sarah Schemske (www.buecherschmiede.net)
Lektorat: Martin Villinger
Korrektorat: Bücherschmiede (www.buecherschmiede.net)
Bestellung und Vertrieb: Nova MD GmbH, Vachendorf
Druck und Bindung:
Sowa Sp. z o.o.
ul. Raszyńska 13
05-500 Piaseczno
Polen

Alle Rechte vorbehalten. Alle Figuren und deren Biografien sind erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

Straßburger Glaubensbekenntnis“ erscheint demnächst als Taschenbuch und ist bereits jetzt als E-Book erhältlich!

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