Der „Literarische Adventskalender“ (24)

Autor Stefan Böhm und Eurojournalist(e) präsentieren: „Straßburger Glaubensbekenntnis - Kommissar Sturnis dritter Fall“. Heute: Kapitel 24 – „Das Buch“

Vor Erfindung des Buchdrucks war die Herstellung von Büchern mühevolle Handarbeit... Foto: Alte Uni Heidelberg / Wikimedia Commons / CC0 1.0

Kapitel 24 – Das Buch

Gerade noch rechtzeitig kam er vor dem Straßburger Hauptbahnhof an und parkte den rostigen Scénic, der die Innenstadt eigentlich gar nicht mehr befahren durfte, direkt vor dem Bahnhof, im Halteverbot. Sicherheitshalber montierte er schnell sein Blaulicht auf das Dach der alten Rostlaube und legte ein Schild mit „Kriminalpolizei im Einsatz“ auf das Armaturenbrett.

Die Masche würde nicht mehr lange gut gehen. Irgendwann hätte ihn die police municipale am Wickel und dann wäre es vorbei mit seinem guten alten Renault. Sturni fluchte. Ein neues Auto war eine Investition, für die er gerade wirklich kein Geld übrighatte. Die Hochzeit, der Umzug, die neuen Möbel, das alles kostete Unsummen! Vielleicht sollte er komplett auf eine trotinette umsteigen und im Dienst den Dienstwagen nutzen, auf den er Anspruch hatte. Das war ohnehin viel ökologischer.

***

Olivia fiel ihm aus dem TGV direkt in die Arme. Während ihrer gemeinsamen Zeit in Paris hatten sie sich eng angefreundet. Nach seinem zunächst unfreiwilligen dreimonatigen Aufenthalt in Paris, während dem er einen Korruptionsskandal in der französischen Atomindustrie aufgedeckt hatte, hatte er Olivia dort einige Male besucht, gemeinsam mit Margaux und Christian – ohne grand-mère, versteht sich …

Sie parkten sein Auto in sicheren Gefilden und schlenderten dann gemütlich in Richtung Grande Île, überquerten den Seitenarm des Flusses und gingen zielstrebig in Richtung ihres gemeinsamen Lieblingslokals in der Petite France, die Corde à Linge, die „Wäscheleine“.

„Nun erzähl! Was ist so wichtig an Orianes Forschungen, dass du dich sofort in den TGV nach Straßburg gesetzt hast?“

Sturni kam auf den eigentlichen Grund ihres Besuchs zu sprechen, als sie sich gerade zwei kleine bière pression und zwei große planchettes, mit Wurst und Käse belegte kalte Platten, bestellt hatten.

„Wenn sich meine Vermutung bewahrheitet, dann ist das von Oriane fotografierte Buch eine Sensation, eine Weltsensation sogar! Wo ist es? Ich muss es unbedingt genau untersuchen!“

Olivia war Feuer und Flamme. So kannte er sie. Immer auf hundertachtzig, immer voller Elan bei der Sache, ob es sich um muskelbepackte Liebhaber handelte oder um irgendwelche verstaubten Bücher, ihre Begeisterungsfähigkeit für beides war die Gleiche.

„Wenn ich das wüsste … Ich komme gerade von einem Benediktinerkloster in der Nähe des Mont Sainte-Odile. Eine junge Nonne, die ich befragen wollte, habe ich nur noch erhängt aufgefunden, vermutlich Selbstmord. Ich gehe davon aus, dass sie es war, die Oriane umgebracht hat. Das Buch habe ich allerdings nicht bei ihr gefunden.“

„Das ist ja schrecklich!“

„Vor drei Tagen wurde im Münster die Jesusfigur an der Kanzel zerstört. Dabei wurde festgestellt, dass sich hinter der Figur ein Hohlraum befunden hat. Ein Restaurator des Münsters vermutet, dass in diesem Hohlraum ein Buch versteckt wurde, wahrscheinlich über Jahrhunderte hinweg. Am Tag darauf wird Oriane ermordet aufgefunden und auf ihrem Rechner findet man am Vortag aufgenommene Fotos von einem uralten Buch. Da kann man leicht eins und eins zusammenzählen. Hatte ich dir ja schon am Telefon erzählt.“

Olivia schwieg einige Zeit, dachte nach. Sie konnte immer noch nicht fassen, was ihrer Freundin widerfahren war, wollte nicht glauben, dass sie eiskalt ermordet wurde und zuvor selbst straffällig geworden sein sollte. Dann aber bestätigte sie Sturnis Vermutung.

„Es passt alles zusammen. Oriane hatte mir erzählt, dass sie bei ihren Studien in Paris in einer uralten Quelle auf eine ganz heiße Spur gestoßen sei, die nach Straßburg führt, ins Münster. Vermutlich war es ein Hinweis, dass sich in der weltberühmten Kanzel des Münsters ein Geheimnis verbirgt, hinter der Figur des Jesus.“

„Hört sich logisch an.“

„Ich habe die Fotos, die du mir geschickt hast, analysiert. Wenn es keine Fälschung ist, dann handelt es sich wirklich um ein sehr, sehr altes Buch. Als Erstellungsdatum wird das Jahr 1444 aufgeführt und als Erstellungsort Straßburg. Es handelt sich um ein mit beweglichen Lettern gedrucktes Buch!“

Sturni pfiff leise durch die Zähne.

„Das ist in der Tat ziemlich alt für ein Buch!“

Der Kriminalist reimte sich zusammen, wie es sich zugetragen haben könnte:

„Obwohl sterbenskrank, reist sie hierher, bricht bei Nacht und Nebel in das Münster ein, beschädigt die Figur an der Kanzel, legt den Hohlraum frei und klaut das wertvolle Buch. Dabei wird sie von jemandem beobachtet. Vielleicht von Valerie Geiler. Schließlich ist sie eine angehende Nonne, betet vielleicht häufiger im Münster, oder so etwas. Oder von jemand anderem, der dann Valerie Geiler darauf ansetzt, sie zu ermorden. Nachdem sie das wertvolle Buch geklaut hat, fotografiert sie jede Seite und legt die Bilder auf ihrem Rechner ab.“

Die Pferde gingen mal wieder durch mit Antoine Sturni. Er assoziierte frei, kombinierte, und versuchte so, dem verschollenen Buch auf die Schliche zu kommen. Das war eine seiner Stärken.

„Danach verabredet sie sich – weshalb auch immer – mit Valerie Geiler in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages auf der Île Coléo. Vielleicht hat Valerie Geiler sie erpresst. Vielleicht hat sie ihr gedroht, sie bei der Polizei anzuzeigen, wenn sie ihr das Buch nicht herausgibt. Wir benötigen unbedingt die Auswertung der Verbindungen von Orianes Handy. Oriane trifft sich mit der Nonne bei Nacht und Nebel und wird von ihr ermordet. Hatte sie das Buch bei dem Treffen bei sich? Hat Valerie Geiler es ihr abgenommen, nachdem sie Oriane umgebracht hat? Und wenn ja, wo ist es, das Buch? Weshalb finden wir ihr Gewand in ihrem Zimmer, das sie eindeutig als Täterin überführt, nicht jedoch das sagenumwobene Buch?“

Der Mord war aufgeklärt. Es galt also nur noch, ein altes Buch zu finden, das vielleicht mit den beiden Todesfällen zusammenhing. Das war eigentlich unter seinem Niveau. Dennoch wollte er auch dieses Rätsel noch lösen, Oriane und Olivia zuliebe. Er kombinierte mehr aus Zeitvertreib denn aus wirklichem Interesse. Nur wenn es um Mord ging, lief er zu Höchstform auf.

„Antoine, hör mir doch noch einmal genau zu! Ich befürchte, du hast den wesentlichen Satz meiner Aussage nicht gehört oder – wahrscheinlicher – nicht verstanden. Es handelt sich um ein „mit beweglichen Lettern gedrucktes Buch“ aus dem Jahr 1444, das in Straßburg hergestellt wurde. Klingelt es irgendwo bei dir?“

Olivia musste lachen. Ihr war klar, dass Sturni keine Ahnung hatte, worauf sie hinauswollte. Sie genoss es augenscheinlich, ihn noch ein wenig als ungebildeten elsässischen Trottel vorzuführen, trotz des Schmerzes über den Verlust ihrer engen Freundin Oriane.

„Ja … natürlich … ein gedrucktes Buch. Was denn sonst? Meinetwegen auch mit beweglichen Lettern … Was auch immer das heißen soll?“

Sturni fühlte sich in die Enge gedrängt. Ihm war klar, dass er sich nun eine Standpauke würde anhören dürfen, dass er ja ein ganz toller Ermittler sei, in Sachen Allgemeinbildung aber ein Totalausfall …

„Lieber Antoine, du magst ja ein hervorragender Ermittler sein …“

Wusste er’s doch.

„Deine Allgemeinbildung offenbart aber mal wieder tiefe Abgründe. Und das als überzeugter Straßburger…“

„Mach’s nicht so spannend. Es kann ja nicht jeder in Kunstgeschichte promoviert sein. Irgendjemand muss ja schließlich auch noch für Recht und Ordnung sorgen und einer ehrlichen Arbeit nachgehen.“

Sturni versuchte zu kontern, so gut er konnte.

„Das erste mit beweglichen Lettern gedruckte Buch entstand nach aktuellem Stand der Wissenschaft irgendwann nach 1448, wahrscheinlich gegen 1450. Es wurde von Johannes Gutenberg gedruckt, in Mainz und nicht in Straßburg.“

Sturni schwante, dass er sich jetzt einen ausgiebigen Fachvortrag würde anhören müssen. Darauf hatte er überhaupt keine Lust. Dennoch wurde er hellhörig. Gutenberg? Oriane wurde auf der Île Coléo, der sogenannten Gutenberg-Insel, von der er selbst erst vor zwei Tagen erfahren hatte, ermordet aufgefunden. Direkt vor einer Stele, die das Abbild des großen Meisters darstellte, zumindest so, wie man ihn sich vorstellte. Es gab nämlich keine überlieferten Bilder von ihm. Gab es da etwa einen Zusammenhang?

Olivia dozierte weiter. Er musste sich konzentrieren, jede Information konnte wichtig sein. Außerdem wollte er sich ja ohnehin einmal mit der Geschichte seiner Stadt befassen, und Gutenberg war ein Teil davon. Er konnte also noch etwas dazulernen.

„Als landläufig erstes mit beweglichen Lettern gedrucktes Buch gelten die Gutenberg-Bibeln, die der weltberühmte Erfinder zwischen 1452 und 1454 in Mainz gefertigt hat. Noch heute existieren neunundvierzig Exemplare davon. Die Tatsache, dass diese Bücher mehr als 500 Jahre überdauerten, zeigt, um welch hochwertige Produkte es sich damals handelte.“

Davon hatte selbst Antoine Sturni schon einmal etwas gehört.

„Experten wissen natürlich, dass die Gutenberg-Bibel nicht das erste gedruckte Werk mit beweglichen Lettern war. Die Bibeln waren lediglich Gutenbergs Aushängeschild, sein Meisterwerk sozusagen, mit dem er seiner bahnbrechenden Erfindung zum Durchbruch verhalf. Davor hat er vermutlich andere Werke, wie die Sibyllenweissagung und eine lateinische Grammatik, die Donate, gedruckt. Gutenberg war ein genialer Erfinder, aber eben auch ein gewiefter Geschäftsmann, und er druckte, was ihm Geld einbrachte.“

Olivia drohte, sich zu verzetteln. Für Sturni war wichtig, dass sie zurück zum Wesentlichen kam. So langsam ging ihm auf, worauf sie hinauswollte.

„Dennoch gilt bisher als gesichert, dass Gutenberg der Buchdruck mit beweglichen Lettern erst in Mainz gelang, und nicht schon in Straßburg, wo er sich durch historische Quellen gesichert zwischen 1434 und 1444 aufgehalten hat. Bekannt ist, dass er während dieser Zeit wichtige Vorarbeiten für seine Erfindung geleistet hat. Selbst eine Druckerpresse hat er gemeinsam mit drei weiteren Geschäftspartnern schon in Straßburg entwickelt. Bisher nahm man aber an, dass ihm der Durchbruch erst in seiner Geburtsstadt Mainz gelang, wo sich seine Spur ab 1448 wiederfindet. Im Zeitraum zwischen 1444 und 1448 klafft eine Lücke in seinem Lebenslauf, bei dem man nicht weiß, wo er sich aufgehalten oder woran er in dieser Zeit gearbeitet hat.“

Sturni war nun ganz bei ihr. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass die nun folgenden Ausführungen wichtig waren, auch wenn der Mordfall gelöst war.

„Wenn nun ein in Straßburg gedrucktes Werk aus dem Jahr 1444 auftauchen sollte, würde das bedeuten, dass jemand anderes vor Gutenberg den Buchdruck erfunden hat? Oder, dass Gutenberg schon 1444 in Straßburg, seinem letzten bekannten Aufenthaltsjahr in der Stadt, ein Buch gedruckt hat, richtig?“

„Du überraschst mich immer wieder, mein Lieber. Das hätte ich dir gar nicht zugetraut. Ich bin beeindruckt!“

Sturni ging nicht auf Olivias Neckereien ein. Es begann, interessant zu werden.

„Erzähl weiter!“

„Du hattest mal wieder den richtigen Riecher. Wenn meine Vermutung stimmt, das Buch auftaucht und die Analyse sie bestätigt, dann wurde der Buchdruck mit beweglichen Lettern zwar von Johannes Gutenberg erfunden – niemand sonst verfügte damals über vergleichbare Fähigkeiten – doch nicht in Mainz gegen 1450, sondern in Straßburg, und zwar schon mehrere Jahre früher, nämlich 1444. In seinem letzten Jahr in Straßburg druckt er ein geheimes Buch und verschwindet danach für vier Jahre von der Bildfläche! Das ist der Hammer!“

„Woher willst du denn wissen, dass das Buch tatsächlich von Gutenberg stammt? Könnte es denn nicht von jemand anderem gedruckt worden sein? Und woran erkennst du, dass es sich tatsächlich um ein gedrucktes und nicht um ein handgeschriebenes Buch handelt? Du kennst doch nur die Fotos?“

„Du hast recht. Um meine Vermutungen zu bestätigen, müsste ich das Original untersuchen. Wir benötigen unbedingt dieses Buch! Nur dann können wir beweisen, dass es sich wirklich um das erste gedruckte Buch und nicht um eine Fälschung handelt. Ich habe mich intensiv mit Gutenberg und seiner Drucktechnik beschäftigt. Bereits anhand der Bilder konnte ich erkennen, dass es sich definitiv um ein gedrucktes und kein handgeschriebenes – die damals übliche Technik des Vervielfältigens von Büchern – Werk handelt. Die Druckqualität ist noch bei weitem nicht so gut wie die der Gutenberg-Bibeln, doch ist das Werk ja auch schon mehrere Jahre früher entstanden. Bestimmt hat Gutenberg seine Drucktechnik in den Jahren dazwischen noch weiterentwickelt. Niemand außer Johannes Gutenberg konnte schon in den 1440er-Jahren über das Know-how verfügen, ein solches Buch herzustellen. Konkurrenz erwuchs ihm erst später durch seinen ehemaligen Geschäftspartner Johannes Fust und dessen Schwiegersohn Peter Schöffer, aber das ist eine andere Geschichte. Außerdem verfügt das Buch über ein Kolophon.“

Konnten sich diese Wissenschaftler nicht einmal verständlich ausdrücken …

„So, so, ein Kolophon … sagst du mir jetzt auch noch, was das ist?“

„Aber gerne doch. Der Begriff stammt aus dem Griechischen.“

Weshalb überraschte Sturni das nicht.

„Es handelt sich um eine Subskription.“

Das war nur unwesentlich besser …

„Für den ungebildeten Laien verständlich, bitte!“

„Ein Impressum!“

„So langsam wird es besser! Und jetzt noch ganz simpel für den kleinen, dummen commissaire, bitte!“

„Um eine Nachschrift am Ende des Buches, in der über den Inhalt, den Verfasser, den Hersteller, den Ort und die Zeit des Druckes informiert wird.“

Damit konnte Sturni etwas anfangen …

„Allein das ist eine Sensation!“

„Und darin steht, dass Gutenberg das Buch im Jahr 1444 in Straßburg gedruckt hat, einfach so?“

„Genauso ist es, mehr oder weniger zumindest.“

Olivia zückte ihr iPad, öffnete das Bild, mit dem Oriane das Kolophon des Buches fotografiert hatte, und zeigte es Sturni:

„Unter dem Schutz des Höchsten ist im Jahr 1444 der Fleischwerdung des Herrn in Straßburg,
nicht mit Hilfe von Schreibrohr, Griffel und Feder,
sondern mit der wunderbaren Harmonie und dem Maß der Typen und Formen
gedruckt und vollendet worden dieses Buch zur Lobpreisung des Herrn durch

Johannes Gutenberg.“

Sturni blieb die Spucke weg.

„Das ist in der Tat sehr bemerkenswert.“

„Umso mehr, als Gutenberg in keinem seiner uns heute noch bekannten Drucke je ein Kolophon verwendet hat. Wozu auch? Er war ja der Erste und Einzige, der diese Technik des Buchdrucks anwenden konnte. Also war es ja völlig klar, von wem die Bücher stammten, von Henne Gensfleisch, genannt Gutenberg.“

„Spricht das nicht dafür, dass es sich um eine Fälschung handelt?“

„Könnte natürlich sein. Wie gesagt, wir benötigen unbedingt das Buch, um dessen Echtheit überprüfen zu können. Das ist unglaublich wichtig!“

***

   „Um was geht es denn in dem Buch? Handelt es sich auch um eine Bibel?

Sturni winkte der Kellnerin zu und bestellte noch zwei express und zwei Marc de Gewürz. Bei dem Vortrag, der ihm nun bevorstand, benötigte er Koffein und etwas Hochprozentiges.

Olivia war gespannt wie ein Flitzebogen, als habe sie nur auf dieses Stichwort gewartet.

„Allein die Tatsache, dass wir es vielleicht mit dem ersten gedruckten Buch von Johannes Gutenberg zu tun haben, ist schon eine Weltsensation. Der Inhalt des Buches setzt dem Ganzen aber noch die Krone auf!“

Nun kam, was kommen musste. Sturni lehnte sich zurück und blickte auf das Wehr vor dem Restaurant, in dem gerade eines der Touristenboote in die Höhe gehievt wurde.

„Ich höre!“

„Zunächst einmal ist bemerkenswert, dass es in deutscher Sprache abgefasst ist, also nicht auf Latein, wie die berühmten Bibeln von Gutenberg.“

Olivia Stevenson überraschte ihn immer wieder. Sie war wahrscheinlich die einzige Amerikanerin, die altdeutsche Texte aus dem ausgehenden Mittelalter entziffern konnte.

„Der eigentliche Hammer ist aber Folgendes: Abgedruckt sind Schriften verschiedener Vordenker der Reformation, die sich ja bekanntlich erst mit Martin Luther durchgesetzt hat.“

Bekanntlich …

„Luther hat seine Thesen im Jahr 1517 an die Schlosskirche von Wittenberg genagelt, also zwischen sechzig und siebzig Jahre nach Herstellung der berühmten Gutenberg-Bibeln.“

Sturni kippte den Marc de Gewürz hinunter und bestellte sich gleich noch einen. Olivias Vortrag schien akademischer zu werden als befürchtet, da benötigte er noch eine kleine Stärkung.

„Es gab aber schon im 14. und Anfang des 15. Jahrhunderts Geistliche und Philosophen, die scharfe Kritik an der Entwicklung der Kirche übten. Meister Eckart zum Beispiel, ein Thüringer Theologe und Philosoph, der sich schon in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in einem Inquisitionsprozess verantworten musste und dessen Thesen teilweise als Irrlehren eingestuft wurden. John Wyclif, englischer Philosoph und Geistlicher, der den politischen Machtanspruch des Papstes kritisch hinterfragte. Noch dreißig Jahre nach seinem Tod wurde er auf dem Konzil von Konstanz im Jahr 1415 als Ketzer verurteilt. Seine Gebeine wurden daraufhin ausgegraben und verbrannt. So verrückt und abergläubisch war diese Zeit. Und dabei hatte er noch Glück. Seinen geistigen Nachfolgern erging es deutlich schlechter, denn sie waren damals noch am Leben. Jan Hus, ein in Prag wirkender Gelehrter, der schon zu Beginn des 15. Jahrhunderts den damals üblichen Ablasshandel, gefälschte Reliquien, Bilderverehrung und erfundene Wunder kritisierte. Er wurde im Rahmen des Konzils von Konstanz im Jahr 1415 als Ketzer verurteilt und verbrannt.“

Das war ja alles furchtbar spannend, doch Sturni bekam so langsam Probleme, seiner gebildeten Freundin zu folgen. Mit der Kirchengeschichte des ausgehenden Mittelalters war er einfach nicht besonders gut vertraut. Um ehrlich zu sein, interessierte sie ihn auch nicht besonders.

„Das gleiche Schicksal ereilte Hieronymus von Prag. Auch er wurde 1416 vom Konstanzer Konzil zum Tode verurteilt und verbrannt. Auch er prangerte die Missstände in der damaligen Kirche an und bezahlte dafür mit dem Leben. Die katholische Kirche ging mit harter Hand gegen diese frühen Reformatoren vor, ihre Schriften wurden verboten. So gelang es ihr, noch weitere hundert Jahre den Deckel drauf zu halten, bis Martin Luther endgültig den Bruch mit der päpstlichen Kirche vollzog und die Reformation ihren Lauf nahm.“

Sturni verdrehte die Augen. Er benötigte dringend eine Pause, doch Olivia dachte gar nicht daran, ihm eine Auszeit zu gönnen.

„Eine Sache ist besonders auffällig bei der Zusammenstellung der Texte. In den Schriften gibt es einen einzigen Autor, dessen Texte nicht zumindest im Nachhinein verdammt wurden. Abgedruckt sind nämlich auch einige frühen Texte von Nikolaus von Kues, einem Zeitgenossen Gutenbergs, der es bis zum Kardinal, Legat und sogar zum Generalvikar des Papstes brachte, dem Vertreter des Papstes in seiner Eigenschaft als Bischof von Rom. Die Forschung ist sich bis heute nicht sicher, ob sich Gutenberg und Kues persönlich gekannt haben. Das Sammelsurium an Texten stellt in seiner Gesamtheit ein theologisches Gedankengebäude dar, das, vergleichbar mit den Texten Luthers, die Grundlage für eine reformierte, aufgeklärte und modernere Kirche bereits im 15. Jahrhundert hätte darstellen können. Doch dazu kam es nie. Das Buch ist erst mehr als 500 Jahre später aufgetaucht. Hat Gutenberg die Texte selbst zusammengestellt? Bisher war nicht bekannt, dass er sich intensiv mit Theologie befasste. Man ging davon aus, dass er eben ein gläubiger Christ war, wie die meisten Bürger im ausgehenden Mittelalter in Mitteleuropa. Erstellte er das Buch im Auftrag eines Theologen, eines Reformers? Oder vielleicht im Auftrag eines weltlichen Herrschers, der mit den Schriften den Papst herausfordern wollte? Verschwand er vielleicht wegen dieses Buches im Jahr 1444 so plötzlich von der Bildfläche und tauchte erst vier Jahre später wieder in Mainz auf? Fragen über Fragen, auf die ich unbedingt eine Antwort finden muss.“

Der zweite Schnaps Tat seine Wirkung und Sturni war nun wieder gewillt, Olivias Gedankengängen zu folgen. Ob er dazu auch noch fähig war, stand auf einem anderen Blatt.

„Und all das hat Gutenberg – wenn das Buch tatsächlich von ihm stammen sollte – in einem gedruckten Werk zusammengefasst?“

„Genauso ist es. Bei dem Werk handelt es sich quasi um eine gesammelte Kirchenkritik der damaligen Zeit, um eine theologische Abhandlung, die die Kirche in ihrer damaligen Form schon fast hundert Jahre früher in Aufruhr hätte versetzen können, wenn sie in großem Umfang verbreitet worden wäre und die darin enthaltenen Thesen unters Volk gelangt wären.“

„Sind sie aber nicht. Das Buch wurde versteckt, jahrhundertelang, um dann von Oriane Jacquesson geklaut zu werden.“

Olivia blickte Sturni anerkennend an. Einen solchen Geistesblitz hätte sie nach zwei bière pression und zwei Marc de Gewürz nicht mehr von ihm erwartet.

„Dieser Fund wirft so viele Fragen auf. Warum hat Gutenberg ein solches Buch gedruckt? Die Schriften von Meister Eckhardt, John Wyclif, Jan Hus und Hieronymus von Prag waren ihm wahrscheinlich vertraut. Gutenberg hatte sich vermutlich im Jahr 1418 an der Universität in Erfurt eingeschrieben, also kurz nachdem Jan Hus und Hieronymus von Prag in Konstanz verbrannt worden waren. Die Hinrichtungen blieben nicht folgenlos, lösten schon damals den ersten Prager Fenstersturz und die Hussitenkriege aus. Eine bewegte Zeit, die nicht spurlos am studierenden Gutenberg in Erfurt vorbeigegangen sein wird. Viele der dortigen Gelehrten kamen damals von der berühmten Prager Universität, so zum Beispiel der Rektor der Universität von Erfurt. Es gab zu der Zeit nur eine Handvoll Universitäten in Mitteleuropa.“

Woher wusste Olivia das alles? Sie war Amerikanerin und die hatten doch bekanntlich von Geschichte keine Ahnung, schon gar nicht von der zentraleuropäischen des 15. Jahrhunderts …

„Allerdings standen diese deutschsprachigen Gelehrten, die die Prager Universität nach einem Gelehrtenstreit verlassen hatten, in Opposition zu Hus und Hieronymus. Demgemäß wäre zu vermuten, dass auch Gutenberg diesem Gedankengut kritisch gegenüberstand. Wenn es ihn überhaupt interessierte. Nach allem, was wir über ihn wissen, war er ein genialer Erfinder und guter Geschäftsmann. Im Übrigen aber auch ein großer Lebemann, der Wein, Weib und Gesang zu schätzen wusste. Weshalb sollte ein spätmittelalterlicher, wohlhabender Beau sein Leben aufs Spiel setzen, um ein revolutionäres Werk mittels seiner neuen Technik zu vervielfältigen?“

„Das ist mir jetzt doch alles etwas zu spekulativ. Vielleicht sollten wir uns erst einmal darauf konzentrieren, das Buch zu finden, wenn es denn überhaupt existiert.“

„Das ist dein Job!“

Sturni hatte genug. Ihm schwirrte der Kopf. Doch Olivia war noch lange nicht am Ende.

„Dir muss klar sein, dass die Reformation mit Martin Luther im 16. Jahrhundert ohne die Erfindung Gutenbergs wohl nie stattgefunden hätte. Die Gedanken Luthers hätten sich niemals so schnell verbreiten können, wenn es die Technik des von Gutenberg entwickelten Buchdrucks nicht gegeben hätte. Es hätte ewig gedauert, seine revolutionären Thesen zigmal von Hand abzuschreiben und unter die Leute zu bringen. Gutenbergs Erfindung löste eine Revolution des Wissens aus, die die Welt in ein neues Zeitalter führte. Er beerdigte mit seiner Erfindung das Mittelalter und legte den Grundstein für die Renaissance und das Zeitalter der Aufklärung. Die Tragweite seiner Erfindung lässt sich gar nicht hoch genug einschätzen. Sie ist allenfalls vergleichbar mit der durch das Internet entstandenen Wissensexplosion der letzten Jahrzehnte.“

Obwohl kompliziert, war Olivias Geschichte doch so spannend, dass sein leichter Rausch für einen Moment wie weggeblasen war. War sein Fall vielleicht doch noch nicht zu Ende?

„Die massenhafte Verbreitung dieses Buchs mit den für die damalige Zeit revolutionären Schriften hätte zu einem völlig anderen Verlauf der Geschichte führen können. Man bedenke, dass während das Buch gedruckt wurde, in Basel, also nur einen Katzensprung von Straßburg entfernt, immer noch das Basler Konzil fortdauerte und dort grundlegende Fragestellungen der damaligen Kirche erörtert wurden. Nicht nur die Geschichte der Kirche, auch die Geschichte der deutschen Sprache wäre anders verlaufen. Als Grundlage des Hochdeutsch gilt die luthersche Übersetzung der Bibel. Gutenbergs Buch ist in einer vergleichbar klaren und einfachen Sprache abgefasst, eine einheitliche deutsche Hochsprache hätte sich auf dieser Grundlage also fast hundert Jahre früher verbreiten können.“

Konstanzer Konzil … Basler Konzil … deutsche Hochsprache … putain de merde …

Sturni nahm all seinen Grips zusammen, um Olivia weiter folgen zu können. Warum hatte er damals im Geschichtsunterricht nicht besser aufgepasst.

„Mit seiner Erfindung und dem Druck dieses Buchs hielt Gutenberg einen Brandsatz in der Hand, der die damalige Kirche zum Einsturz hätte bringen können. Die Bombe war gebaut und er hatte das Streichholz schon am Zünder. Doch Gutenberg ließ sie nicht hochgehen. Weshalb? Weshalb taucht mehr als fünfhundert Jahre nach seinem Tod dieses Buch auf, das wahrscheinlich fast ebenso lange in der Kanzel des Straßburger Münsters versteckt wurde, die ja nur wenige Jahrzehnte später gebaut wurde. Wer hat es dort versteckt?“

Sturni fiel nichts mehr ein. Er versuchte die Tragweite von Olivias Ausführungen zu erfassen, doch sie überstiegen seinen alkoholgeschwängerten Horizont.

„Bekam Gutenberg es im letzten Moment mit der Angst zu tun? Die massenhafte Verbreitung dieser Schriften hätte ihn den Kopf kosten können. Die Kirche hätte ihn sicherlich als Ketzer verbrannt, wenn sie ihn zu fassen bekommen hätte. Gutenberg selbst war kein Theologe. Allein hätte er es nie geschafft. Mit wem oder für wen arbeitete er? Nur eine starke und charismatische Figur, wie Luther viele Jahrzehnte später, hätte den von Gutenberg gedruckten Thesen zum Durchbruch verhelfen können. Hat er sich auf einen Deal eingelassen, auf eine Vervielfältigung verzichtet und stattdessen die weltberühmten Bibeln und Ablassbriefe gedruckt? Hat die Kirche ihm die erste Auflage seines ketzerischen Werkes abgekauft, sie vernichtet und nur ein Exemplar davon behalten? Ich bin ja so aufgeregt. Wir müssen dieses Rätsel unbedingt lösen!“

Er hätte doch auf den zweiten Schnaps verzichten sollen …

„Also finden wir dieses Buch, dann wissen wir vielleicht mehr. Hilfst du mir dabei?“

„Deshalb bin ich hier!“

Sturni erhob sich und stellte dabei fest, dass er vielleicht besser nicht mehr mit dem Auto fahren sollte, sonst hätte er endgültig die „flic“ am Hals. Er war Führungskraft, musste Vorbild sein. Inspektor Straumann würde es als Freibrief verstehen, wenn sein eigener Chef alkoholisiert hinterm Steuer erwischt würde. Also holten sie Olivias Koffer aus seinem Wagen und begaben sich zu Fuß in Richtung seiner Wohnung am Quai des Pêcheurs.

***

Zu Hause angekommen, erwartete ihn eine Überraschung. Die Tür stand auf, der Schlüssel steckte – und die Wohnung war leer.

„Zut – so ein Mist! Der Umzug! Den hatte ich ja ganz vergessen …“

Sturni bekam einen hochroten Kopf. Zuerst verschwitzte er das rendez-vous mit den Schwiegereltern und nun hatte er auch noch ihren Umzugstag vergessen und Margaux ganz allein mit ihrem gesamten Mobiliar ihrem Schicksal überlassen. Das würde sie ihm nie verzeihen. Er hoffte inständig, dass das von ihnen beauftragte Umzugsunternehmen seinen Job ordentlich gemacht hatte …

Mit Olivia im Schlepptau stürmte er am Place de l’Université vorbei die Rue Goethe hinunter. Ihre neue Wohnung lag in der Rue Saint-Maurice, direkt hinter der gleichnamigen Kirche. Mit letzter Kraft hetzte Sturni, Olivias Gepäck in den Händen, hinauf ins vierte Stockwerk. Olivia folgte ihm – ohne Gepäck – dicht auf den Fersen.

Die Tür ihrer neuen Wohnung stand sperrangelweit offen, Margaux war dabei, die Küchenregale zu bestücken.

„Olivia, wie schön dich zu sehen. Ich wusste gar nicht, dass du in Straßburg bist. Bleibst du zum Essen? Wir oder besser – ich – bin gerade erst umgezogen, aber eine Kleinigkeit kann ich dir bestimmt anbieten.“

Oh, oh, das verhieß nichts Gutes. Margaux war ausgenommen freundlich Olivia gegenüber. Ihren künftigen Gatten, sofern die Hochzeit nicht schon abgeblasen war, würdigte sie keines Blickes.

„Also, ich dachte, es ist vielleicht eine schöne Überraschung für dich … Olivia hat sich zu einem spontanen Besuch entschlossen und würde sich freuen, wenn sie für ein paar Tage bei uns übernachten dürfte?“

Eine schöne Überraschung … Sturni hatte sich dazu entschlossen, ihr gleich reinen Wein einzuschenken. Zu verlieren hatte er ohnehin nichts mehr.

„Aber natürlich, sehr gerne! Setz dich doch erst einmal und trink einen Schluck.“

Zumindest das Problem war gelöst. Das änderte aber nichts daran, dass Margaux ihn auch weiterhin und den ganzen Abend über ignorierte. Als sie spät am Abend in ihr Bett fielen, drehte sie sich nur weg und schlief sofort ein.

Sturni wälzte sich im grand lit, fand keinen Schlaf. In wenigen Tagen stand die Geburt ihres gemeinsamen Kindes an, kurz darauf war die Hochzeit terminiert, und seine Frau wechselte kein Wort mehr mit ihm …

Außerdem musste er vorher noch ein epochales Buch finden, das die Säulen der Erde im Mittelalter zum Einsturz hätte bringen können – und in der Neuzeit wahrscheinlich ursächlich für einen Mord und einen Selbstmord war.

Fortsetzung folgt…

Stefan Böhm

Straßburger Glaubensbekenntnis
Kommissar Sturnis dritter Fall

Originalausgabe
1. Auflage
© 2020 Stefan Böhm
Taschenbuch-ISBN: 978-3-969-66410-0
Umschlagsgestaltung und Satz:
Sarah Schemske (www.buecherschmiede.net)
Lektorat: Martin Villinger
Korrektorat: Bücherschmiede (www.buecherschmiede.net)
Bestellung und Vertrieb: Nova MD GmbH, Vachendorf
Druck und Bindung:
Sowa Sp. z o.o.
ul. Raszyńska 13
05-500 Piaseczno
Polen

Alle Rechte vorbehalten. Alle Figuren und deren Biografien sind erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

Straßburger Glaubensbekenntnis“ erscheint demnächst als Taschenbuch und ist bereits jetzt als E-Book erhältlich!

Seit dem 21. Dezember – die „Straßburger Geheimnisse“ auch als Taschenbuch! Bestellen kann man’s hier!

Straßburger Geheimnisse – Kommissar Sturnis erster Fall“ finden Sie beispielsweise hier!

Pariser Enthüllungen – Kommissar Sturnis zweiter Fall“ finden Sie, wie immer Amazon-frei, hier!

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.

*



Copyright © Eurojournaliste