Der „Literarische Adventskalender“ (26)

Autor Stefan Böhm und Eurojournalist(e) präsentieren: „Straßburger Glaubensbekenntnis - Kommissar Sturnis dritter Fall“. Heute: Kapitel 26 – „Es war Mord“

Wenn die wüssten, was rings um die Kathedrale herum passiert... Foto: Txllxt TxllxT / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int

Kapitel 26 – Es war Mord

Er stahl sich aus dem Bett, noch bevor Margaux und Olivia aufgewacht waren. Eigentlich hätte er jetzt Schadensbegrenzung betreiben, Margaux beim Auspacken der Kisten, Einräumen in die Regale und den letzten Hochzeitsvorbereitungen helfen sollen.

Doch er zog es vor, sich in aller Herrgottsfrühe zu Gerichtsmediziner Arbogast aus dem Staub zu machen, um sich über die Obduktionsergebnisse von Valerie Geiler zu informieren. Es war Selbstmord, das hatte er ja mit eigenen Augen gesehen. Aber man konnte ja nie wissen … Außerdem bot es ihm eine Ausrede, den Konflikten mit Margaux aus dem Weg zu gehen.

Während er die Rue Goethe in Richtung Innenstadt entlangtrottete, sinnierte er darüber, dass er gerade dabei war, die gleichen Fehler zu begehen wie damals mit Caroline. Weshalb konnte er nicht einfach umdrehen, beim Bäcker Baguettes, Croissants, Pain au Chocolat und beim Blumenladen um die Ecke einen großen Blumenstrauß besorgen, mit Olivia und Margaux ein gemütliches Frühstück einnehmen und danach wäre die Welt wieder in Ordnung? Die Untersuchung des Selbstmordes hatte Zeit, war Routine.

Er passierte die große Goethe-Statue vor der Uni. Eine weitere Berühmtheit, die einige Zeit in Straßburg gelebt hatte, allerdings mehr als dreihundert Jahre nach Johannes Gutenberg. Johannes Gutenberg, Johannes Hültz, Johann Geiler, Johann Wolfgang von Goethe … hießen die früher eigentlich alle Johann? Oder war der Name nur für berühmte Persönlichkeiten reserviert?

Sturni schweifte schon wieder ab. Seine Verdrängungsmechanismen hatten etwas Pathologisches, fingen an, ihm ernsthafte Sorgen zu bereiten. Er sollte doch einmal das im Präsidium angebotene psychologische Coaching für Führungskräfte wahrnehmen. Einsicht war ja bekanntlich der erste Weg zur Besserung …

Sturni war ein Feigling, und sein Beruf war sein Zufluchtsort, sein Elfenbeinturm, in den er sich flüchtete, wenn es in seinem Privatleben schwierig wurde. Wenn es ihm nicht gelang, diesen Fluchtreflex in den Griff zu bekommen und sich den Herausforderungen seines Privatlebens zu stellen, dann würde er auch Margaux über kurz oder lang verlieren … Eher kurz, wenn er sich weiterhin verhielt wie ein sozialer Blindgänger …

***

Arbogast war schon bei der Arbeit, als er bei der Gerichtsmedizin ankam. Er schien auf ihn gewartet zu haben und hatte wahrscheinlich die Nacht durchgearbeitet.

„Commissaire, gut, dass Sie so früh da sind. Ich habe die ganze Nacht über die Leiche untersucht und kann Sie taufrisch über das Ergebnis informieren.“

Taufrisch … im Zusammenhang mit einer Leiche …

Mordermittlern sagte man ja einen makabren Humor nach, aber Gerichtsmediziner waren um keinen Deut besser. Es würde wohl noch einige Zeit dauern, bis er mit seinem neuen Kollegen einen funktionierenden Arbeitsmodus finden würde …

„Bitte setzen Sie sich … und lassen Sie bitte Ihre Füße von meinem Schreibtisch!“

Dieser Spießer!

„Was haben Sie für mich?“

Sturni zog schnell seine Beine zurück, die er tatsächlich gerade auf Arbogasts Schreibtisch hatte ablegen wollen. An die neuen Sitten bei der Gerichtsmedizin musste er sich erst noch gewöhnen.

„Es war kein Selbstmord! Valerie Geiler wurde ermordet, erwürgt! Sie wurde erst mit dem Lederriemen an dem Deckenbalken aufgehängt, als sie schon tot war. Die Würgemale an ihrem Hals sprechen eine klare Sprache.“

Arbogast redete nicht um den heißen Brei herum, kam gleich zum Punkt. Zumindest das gefiel ihm an seinem neuen Kollegen. Vielleicht würden sie ja doch noch gut miteinander zurechtkommen.

Sturni war so von den Socken, dass er nun doch seine Füße auf Arbogasts Schreibtisch ablegte. Damit hatte er nicht gerechnet. Zu plausibel war ihm die Erklärung, dass Valerie Geiler nach dem Mord in eine Gewissenkrise geriet und sich aus Verzweiflung darüber selbst richtete.

Wortlos schob Arbogast Sturnis Füße wieder von seinem Tisch und fuhr fort. Der Modus Operandi zwischen ihnen war noch nicht gefunden.

„Es kommt noch besser. Valerie Geiler hatte Sex, als sie ermordet wurde. Sie wurde beim Akt erwürgt.“

Das wurde ja immer besser … galt das Zölibat nicht auch für Nonnen? Sturni kannte sich da nicht so gut aus. Außerdem war Valerie Geiler ja noch Novizin, eine Nonne in Ausbildung. Vielleicht galten da ja noch andere Spielregeln und die angehenden Nonnen durften sich noch richtig ausleben, bevor sie sich dann voll und ganz „ora et labora“ widmeten.

Er erinnerte sich an die hochwertige Spitzenunterwäsche, die ihm bei der Untersuchung des Zimmers gleich aufgefallen war. Schon gestern hatte er sich gefragt, weshalb eine angehende Nonne so erotische Dessous trug. Jetzt kannte er die Antwort …

„Wir haben die DNA-Spuren des mutmaßlichen Täters sichergestellt. Wenn sich die DNA in unserer Datenbank wiederfindet, dann können wir den Täter zweifelsfrei überführen.“

Ein Mann also, keine der anderen Nonnen. Der Täter musste sehr kräftig gewesen sein. Es war bestimmt nicht leicht, einen toten Körper mit einem Lederriemen an einem Balken an der Decke aufzuhängen, auch wenn Valerie Geiler eine sehr grazile Person gewesen war.

Sturni kam ins Grübeln. Die Nonnen lebten hier doch recht abgeschieden. Er selbst durfte ja nur in Begleitung der Priorin den Bereich betreten, in dem sich die Schlafräume der Nonnen befanden. Wie bekam man als Mann Zutritt in diesen Bereich? Gab es überhaupt männliches Personal im Kloster, einen Gärtner vielleicht?

„Wurde Frau Geiler vergewaltigt?“

„Anhand der Obduktion kann ich die Tat natürlich nicht zu hundert Prozent nachvollziehen. Meine Analyse spricht aber gegen eine Vergewaltigung. In dem Fall hätte Valerie Geiler wohl versucht, sich zu wehren, hätte an anderen Stellen Hämatome und Kratzer an ihrem Körper. Aber das war nicht der Fall. Spuren von Gewalteinwirkung finden sich lediglich an ihrem Hals. Wir müssen demnach von einvernehmlichem Geschlechtsverkehr ausgehen. Ich habe schon vergleichbare Fälle untersucht. Dabei handelte es sich um Intimpartner, die das Strangulieren beim Akt stimulierte.“

Trockener hätte Sturni es nicht formulieren können…

„Die Toten wurden quasi versehentlich erwürgt, weil der Partner in seiner Ekstase nicht rechtzeitig aufgehört hatte. In den Neunzigern gab es mal einen berühmten Rockstar, der so zu Tode kam.“

Ein Rockstar, soso … So viel Zeitgeschichte hätte er „Professor“ Arbogast gar nicht zugetraut.

„Ein großer Skandal damals. Um einen solchen Fall könnte es sich auch hier handeln.“

Sturni spielte die Fallkonstellation gedanklich durch. Valerie Geiler ermordet Oriane Jacquesson, entwendet ihr das erste gedruckte Buch der Welt, das die letzten 575 Jahre verschollen, ja gar nicht bekannt war – und verstirbt dann selbst nur zwei Tage später aus Versehen bei exotischen Sexspielchen … Das war doch äußerst unwahrscheinlich. Arbogast sollte weiter Leichen obduzieren und das Ermitteln mal schön ihm, dem Experten, überlassen. Nein, so konnte es nicht gewesen sein. Die Novizin wurde bewusst ermordet. Sie hatte ein intimes Verhältnis mit ihrem Mörder und er hatte sie gestern während des Aktes erwürgt. Deshalb hatte er das Gutenberg-Buch nicht in ihrem Zimmer gefunden. Der Mörder hatte es ihr abgenommen und sie zuvor zum Schweigen gebracht, für immer.

Sturni und die Priorin hatten ihn wahrscheinlich nur um wenige Minuten verpasst. Valerie Geiler war kurz vor ihrem Eintreffen verstorben. Einige Minuten früher und die Novizin wäre zu retten gewesen, der Mörder wäre gefasst, und er hätte das sagenumwobene Buch sicherstellen können. Nun wurde alles viel komplizierter.

Hunderte Fragen kamen ihm in den Sinn. Valerie Geiler kannte ihren Mörder, vertraute ihm, ja sie hatte sogar ein Verhältnis mit ihm, vielleicht schon über einen längeren Zeitraum. In so einem kleinen und abgeschlossenen Lebensraum wie diesem Kloster konnte das unmöglich geschehen sein, ohne dass eine der anderen Nonnen etwas davon mitbekommen hatte. Das hielt er für ausgeschlossen. Bestimmt hatte sie auch eine Vertraute, die Bescheid wusste. Hatte die Priorin des Klosters ihm etwas verschwiegen? Wusste sie von der Affäre?

Er hatte das dumpfe Gefühl, dass ihm irgendetwas bei dieser Geschichte verheimlicht wurde. Und der Schlüssel zur Lösung lag bei den Nonnen des Klosters.

„Wir prüfen unsere Dateien auf die DNA-Spuren. Ich befürchte aber, dass wir so nicht weiterkommen werden. Das war kein gesuchter Serientäter. Haben wir sonst noch etwas?“

„Die Analyse ihres Blutes hat ergeben, dass Valerie Geiler starke Psychopharmaka zu sich genommen hatte, ein Medikament, das gegen Angstzustände hilft. Das Medikament stellte sie ruhig, beeinflusste jedoch nicht ihre Wahrnehmung oder Reaktionsfähigkeit. Gegen eine Vergewaltigung hätte sie sich also trotzdem zur Wehr setzen können.“

Das überraschte Sturni nicht. Es bestätigte nur seinen Verdacht, dass sie nach der Tat in eine tiefe emotionale Krise gestürzt war. Das Gebot „du sollst nicht töten“ verfolgte sie in ihren Alpträumen.

Wie auch immer es genau zugegangen sein mochte, für Sturni war klar, dass Valerie Geiler nicht aus eigenem Antrieb, sondern im Auftrag gehandelt hatte. Die erfolgreiche Umsetzung bezahlte sie dann selbst mit dem Leben. Angestiftet wurde sie von ihrem Geliebten, ihrem Mörder und nun Besitzer des ersten gedruckten Buchs von Johannes Gutenberg. Ein Mann, der über Leichen ging, um an das Buch zu gelangen, schoss es Sturni durch den Kopf.

Woher wussten der Auftraggeber und Valerie Geiler eigentlich von dem Buch? Es war doch über Jahrhunderte ein Geheimnis, die verborgene Kammer hinter der Jesusfigur selbst ausgewiesenen Experten wie seinem neuen Freund Claude Watt-will-er kein Begriff. Das hatte er ihm ausdrücklich bestätigt. Wenn er nicht gelogen hatte … Claude Wattwiller … Er notierte den Namen in seinem Notizblock und versah ihn mit einem Fragezeichen.

Wurde Oriane bei ihrem Einbruch im Münster beobachtet? Wahrscheinlich. Kannte der Täter das Geheimnis ohnehin und brachte Oriane zur Strecke, weil sie es gelüftet hatte? Zumindest denkbar … Wer also könnte gewusst haben, dass sich in der Kanzel des Münsters ein seit fünfhundert Jahren verborgenes Buch befand? Der Mörder …

***

   „Schwester Leonore am Apparat!“

„Wussten Sie, dass Valerie Geiler ein intimes Verhältnis unterhielt, mit einem Mann?“

Sturni wollte die Priorin direkt mit den Fakten konfrontieren, zumindest einem Teil davon. Dass Valerie ermordet wurde, wollte er vorerst für sich behalten.

„Das ist ausgeschlossen! Besuche von Männern sind in unseren Gemächern strengstens untersagt!“

Er hatte ihr nicht gesagt, dass sie das Verhältnis in den Räumlichkeiten des Klosters unterhielt. Schließlich kamen auch die Nonnen ab und an mal raus aus ihrem streng reglementierten Alltag. Die Priorin ging sofort in eine Abwehrhaltung. Sturni glaubte ihr kein Wort. Gerne hätte er ihr jetzt in die Augen gesehen.

„Sie leugnen also, dass Sie von einem Verhältnis ihrer Novizin mit einem Mann Kenntnis hatten?“

„Ich sage dazu kein Wort mehr, schon gar nicht am Telefon!“

„Gut, es geht auch anders. Sie werden sich heute mit all Ihren Nonnen um 15 Uhr bei mir im Polizeipräsidium einfinden, zur Zeugenvernehmung, nicht zum Verhör, vorerst zumindest. Valerie Geiler wurde ermordet!“

Nun hatte er es doch gesagt …

„Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie wahrheitsgemäß und vollständig auszusagen haben. Wenn Sie mir bei der Vernehmung etwas verheimlichen oder unsere Ermittlungen behindern, können Sie selbst später wegen einer falschen Zeugenaussage oder wegen Strafvereitelung belangt werden.“

Sturni legte auf. Er hatte auf die Strategie „maximale Attacke“ gesetzt. Hoffentlich war es die Richtige …

Wenn nicht die Priorin, so würde eine der anderen Nonnen bei einer intensiven Befragung einknicken und den Namen von Valeries Geliebten nennen, da war er sich ganz sicher. Hatten sie den Namen des Geliebten, dann kannten sie auch den Mörder.

***

Sturni hatte noch ein wenig Zeit, bevor sich eine Horde Nonnen im Polizeipräsidium einfinden würde. Nachdem er von der Gerichtsmedizin zurück ins Präsidium spaziert war, schlenderte er scheinbar ziellos durch die Flure des Gebäudes … bis er vor ihrem Büro stand.

Manon Bellerose, zentraler psychologischer Dienst des Polizeipräsidiums, stand auf dem Plastikschild vor ihrer Tür. Sturni erwachte aus seinem Filmriss. Was hatte er hier zu suchen? Nichts, natürlich … immerhin, ein schöner Name, im Vergleich zu Josmeyer, Arbogast oder gar Watt-will-er.

Er erinnerte sich an ihre Rundmail, in der sie sich den Mitarbeitern des Präsidiums vorgestellt hatte. Einen neuen Service stelle die auf Initiative von Direktor Bouget eingerichtete psychologische Beratungsmöglichkeit bei ihr dar, für traumatisierte und überlastete Polizeibeamte oder auch einfach, wenn man einmal eine psychologische Beratung bei privaten Problemen benötige. Durch das Angebot solle die „psychische Gesundheit“ der Mitarbeiter gestärkt und den zunehmenden Dienstausfällen aufgrund psychischer Probleme der Beamtinnen und Beamten entgegengewirkt werden. Das betraf ihn alles nicht … Sturni konnte sich nicht daran erinnern, in den letzten zehn Jahren auch nur einen einzigen Tag im Dienst gefehlt zu haben. Und wenn, dann war es wegen eines grippalen Infekts, bestimmt nicht wegen eines psychischen Traumas oder sonstiger psychischer Probleme. Er doch nicht …

Er wandte sich gerade ab und wollte gehen, als die Tür von innen geöffnet wurde.

„Commissaire Sturni. Wie schön, Sie kennenzulernen. Ich hatte gehofft, dass Sie sich bei mir melden würden.“

Melden, wieso melden? Davon konnte keine Rede sein …

„Sie sind vielleicht überrascht, dass ich Sie kenne, aber ich habe Sie schon mehrfach im Fernsehen und in der Zeitung gesehen. Sie sind eine Berühmtheit im Polizeipräsidium.“

Sturni wurde rot, schüttelte ihr verlegen die Hand. Sie ließ sie nicht mehr los und zog ihn fast schon in ihr Büro.

„Da liegt ein Missverständnis vor. Ich wollte eigentlich zum Kollegen Küchler wegen eines Falls, bei dem es Überschneidungen unserer Zuständigkeiten gibt“, log Sturni.

Die Psychologin überhörte seine Ausflüchte geflissentlich.

„Seien Sie unbesorgt. Ich kann Ihnen zusichern, dass alles, was in diesem Raum besprochen wird, streng vertraulich behandelt wird. Nichts davon wird sich später in Ihrer Personalakte wiederfinden und Ihrer Karriere wird es keinen Abbruch tun, wenn Sie meine Dienste in Anspruch nehmen.“

Karriere, welche Karriere? Sturni wartete schon seit Jahren auf eine Beförderung in die nächsthöhere Gehaltsgruppe. Dienste in Anspruch nehmen? Wie sich das anhörte … Frau Bellerose machte ihn nervös. Zum einen, weil er nun doch auf ihrem Beichtstuhl gelandet war. Zum anderen, weil ihm tatsächlich eine wunderschöne Rose gegenübersaß, mit ihrem eng anliegenden roten Kleid und ihrem dunklen, südfranzösischen Teint, der ihn ein wenig an Caroline erinnerte, die aus dem Südwesten Frankreichs stammte. Manon Bellerose war auf jeden Fall keine Elsässerin. Selbst ihr Duft erinnerte an eine Rose, der ihrem Büro ein besonderes Flair verlieh. Das Rosenparfüm von Occitane, Sturni kannte es noch von Caroline. Überhaupt, ihr Büro, so aufgeräumt, stilvoll, so anders, verglichen mit den Büros seiner Kollegen. Von seinem eigenen, in dem schon seit Jahren mal wieder entrümpelt werden müsste, ganz zu schweigen. Alles war so hell, mit schönen Farbtupfern an den Wänden, in gedeckten, typisch provençalischen Farbtönen.

„Sie stammen aus der Provençe?“

„Bandol, ausländische Touristen und Elsässer würden es wohl noch dazu zählen. Wie haben Sie das erraten? Aber deswegen sind Sie doch hoffentlich nicht hier, um abzuklären, ob es sich bei Ihrer neuen Kollegin wenigstens um eine waschechte Elsässerin handelt? Man sagt Ihnen da ja einige Vorurteile nach. Nein, da muss ich Sie leider enttäuschen.“

Sie hatte ein gewinnendes Lächeln, wirkte offen und einnehmend. Mehr als das, anziehend. Sturni beschloss, ihr eine Chance zu geben, wo er nun schon mal hier war. In einer Ecke ihres Büros befand sich eine große Couch, neben der ein Stuhl stand. Wie bei Siegmund Freud, schoss es Sturni durch den Kopf. Wo war er hier nur gelandet? Und für so etwas hatten sie wieder mal Geld im Präsidium, während ihm ein weiterer dringend benötigter Mitarbeiter versagt wurde.

„Ich würde Sie tatsächlich gerne konsultieren, wegen einem meiner Fälle, zwei Morden an zwei jungen Frauen.“

Manon Bellerose wirkte für einen Augenblick enttäuscht, lächelte ihn dann aber gleich wieder offen und gewinnend an. Sie schien ihn wirklich als neuen Kunden akquirieren zu wollen.

„Ich bin kein Profiler, sondern die neue Betriebspsychologin. Meine Aufgabe ist es, mich um die psychischen Problemlagen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Präsidiums zu kümmern und nicht irgendwelche Täterprofile zu erstellen. Dafür bin ich auch gar nicht ausgebildet. Aber natürlich werde ich versuchen, Ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, wenn Sie mir Ihren aktuellen Fall schildern möchten. Das mache ich doch gerne für Sie.“

Immerhin hatte er mit der Begründung eine plausible Ausrede gefunden, weshalb er sich vor ihrer Bürotür herumgedrückt hatte.

„Ich ermittle wie gesagt gerade in einem Fall, bei dem zwei junge Frauen ermordet wurden.“

„Ein Serienmord, wie aufregend!“

Die Frau, obwohl Betriebspsychologin, hatte in ihrer Freizeit wohl zu viele amerikanische Profiler-Filme gesehen…

„Da muss ich Sie leider enttäuschen. Die zweite ermordete Frau hat die erste ermordet, so viel steht bereits fest. Ich bin auf der Suche nach dem Mörder der zweiten Frau, einem Mann.“

„Ah, d’accord. Schildern Sie mir den Fall. Ich werde versuchen, Ihnen eine Einschätzung zu geben.“

Sie war ganz bei ihm, machte ihn verlegen, so durchdringend sah sie ihm in die Augen.

„Ich vermute, dass der Täter die Frau darauf angesetzt hat, die erste ermordete Frau umzubringen und ihr ein wertvolles Buch zu entwenden. Danach hat er die Mörderin umgebracht und ihr das Buch abgenommen. Er hatte ein Verhältnis mit der Mörderin, hat sie beim Akt erwürgt.“

Manon Bellerose wirkte kurz irritiert. Sie war eben eine Betriebspsychologin, musste sich mit den privaten Problemen der Mitarbeiter rumschlagen, Eheprobleme und solche Sachen… die er selbst ja zum Glück nicht hatte.

Da war so eine Geschichte natürlich ein harter Brocken für sie, schwer zu verdauen. Sturni hatte da schon ganz andere Geschichten erlebt. Manon Bellerose gab ihm zu verstehen, dass sie ihm weiterhin aufmerksam zuhörte.

„Was mich wirklich überrascht, ist, dass der Täter eine Autobahn an Spuren hinterlassen hat. Ist der Mann verrückt? Wir haben seine DNA, sein Sperma. Er hat die Tat in einem Nonnenkloster begangen, in den privaten Räumlichkeiten der Nonne, zu dem Männer normalerweise keinen Zugang haben. Ihm muss doch klar gewesen sein, dass wir ihn so schnappen werden, früher oder später. Es ist nur eine Frage der Zeit. Was treibt so einen Menschen an?“

„Wie gesagt, bin ich keine ausgebildete Profilerin, das ist nicht mein Spezialgebiet. Ich kann also lediglich versuchen, Ihnen mit meiner allgemeinen Menschenkenntnis und den Erfahrungen aus meiner beruflichen Tätigkeit weiterzuhelfen.“

Immerhin versuchte sie nicht, ihn zu analysieren und war wohl auch abgekommen von der Idee, dass er wegen beruflicher oder privater Probleme zu ihr gekommen sei. Er würde ein wenig nett mit ihr über seinen Fall plaudern, sich dann verabschieden, und die Sache mit der Betriebspsychologin hätte sich erledigt.

„Für das Verhalten gibt es natürlich verschiedene Auslegungsmöglichkeiten. Ich vermute, Mörder hinterlassen besonders viele Spuren, wenn sie in einer psychischen Extremsituation handeln, sich in Panik befinden. Dann handeln sie nicht rational, begehen Fehler, hinterlassen Spuren, wie Ihr Täter.“

Die wunderschöne Madame Bellerose war zwar keine Profilerin, doch konnte sie logisch denken, zog nachvollziehbare Schlussfolgerungen. Vielleicht sollte man sie an seine Abteilung ausleihen, anstatt sie mit unnötigem Psychokram zu befassen.

„Mein Eindruck ist, dass der Täter mit einem hohen Maß an Berechnung handelte. Er hatte Macht über die Mörderin, die dann selbst zum Opfer wurde, nachdem sie getan hatte, was er von ihr verlangte. Er hat sie missbraucht, physisch und psychisch, und nachdem sie seinen Auftrag erledigt hatte, hat er sie selbst aus dem Weg geräumt, damit sie ihn nicht mehr überführen konnte. Wenn er aber wirklich so kalt und berechnend ist, wie ich annehme, weshalb bringt er sie dann gerade in dieser Situation um? Das ist doch Wahnsinn!“

Die provençalische Rose blickte ihn lange an, studierte ihn, schien ihn nun doch zu analysieren. Sie verunsicherte ihn mit ihrer inneren Ruhe, ihrem Selbstbewusstsein, das nicht zur Schau getragen werden musste, und – er gestand es sich ein – mit ihrem umwerfenden Aussehen, ihren wie gemalten, feingliedrigen Gesichtszügen, ihrer dunklen, unter südfranzösischer Sonne gebräunten makellosen Haut.

„Es könnte noch eine andere Erklärung geben, wenn es stimmt, dass der Täter nicht in einer psychischen Extremsituation, sondern aus Berechnung handelte. Er fühlte sich allmächtig, unangreifbar, absolut sicher. Erhaben über alles, sodass er gar nicht auf die Idee kam, dass man ihn zur Rechenschaft ziehen wird für seine Tat. Der Täter fühlt sich über dem Gesetz stehend, gottgleich.“

Gottgleich? Hatte die Schönheit aus dem Midi gerade den Begriff „gottgleich“ verwendet? Sturni wurde plötzlich schwindelig, er krallte sich an der Stuhllehne fest.

„Commissaire Sturni? Geht es Ihnen nicht gut? Trinken Sie doch erst einmal einen Schluck Wasser, dann fühlen Sie sich bestimmt gleich besser. Wie gesagt, ich kenne mich nicht besonders gut aus mit Ihrem Metier, der Klientel, mit der Sie es tagtäglich zu tun haben. Meine Kunden sind eher überforderte Polizeibeamte.“

Sturni trank einen Schluck, hatte sich wieder im Griff. Gottgleich … das war es. Der Täter fühlte sich im Recht, über den Dingen stehend, im Auftrag für eine höhere Sache agierend. „Überforderte Polizeibeamte…“ hörte er als Hintergrundrauschen. Hatte wieder nichts mit ihm zu tun … er musste los, den Täter schnappen.

„Ich danke Ihnen für das Gespräch, Madame Bellerose. Sie haben mir wirklich sehr weitergeholfen. Ich muss jetzt leider gehen, habe gleich eine wichtige Besprechung.“

Ruckartig stand er von seinem Sitz auf. Manon Bellerose schien enttäuscht, erhob sich ebenfalls aus ihrem bequemen Ledersessel.

„Wie schade, und ich hatte gehofft, wir würden auch noch über Sie sprechen. Es war sogar eine Anregung von Direktor Bouget, dass ich mich einmal mit Ihnen in Verbindung setze. Sie sind mir zuvorgekommen. Natürlich kann ich Sie nicht zwingen, sich beraten zu lassen. Ich kann es Ihnen nur anbieten.“

Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Bouget! War ja klar, dass er wieder etwas gegen ihn im Schilde führte, mit seiner neuen südfranzösischen Allzweckwaffe.
Manon Bellerose begleitete ihn noch zur Tür, verabschiedete ihn, diesmal mit bises. Das ging ja schnell. Sie drückte ihm noch ihre Visitenkarte in die Hand, strich dabei wie zufällig sanft über seine Handinnenfläche.

„Ich bin immer für Sie da, Commissaire Sturni. Sie wissen nun ja, wie Sie mich erreichen können.“

Auf dem Weg zurück zu seinem Büro und den anstehenden Gesprächen mit den Nonnen überkam ihn erneut Schwindel und eine Kopfwehattacke. Nein, er fühlte sich wirklich nicht besonders gut im Moment. War er tatsächlich überarbeitet? Hatte er mit dem zweiten Kind und der neuen Ehe einen Fehler begangen? Sah Manon Bellerose ihm all das an der Nasenspitze an, oder weshalb war sie so erpicht darauf, dass er sich von ihr beraten ließ? Er begab sich auf die Toilette, wusch sich Gesicht und Nacken mit kaltem Wasser, ließ das kühlende Nass lange über seine Handgelenke fließen. Dann stellte er das Wasser ab, straffte seinen Körper, blickte in den Spiegel und war bereit, den Nonnen ihre Geheimnisse zu entlocken.

Fortsetzung folgt…

Stefan Böhm

Straßburger Glaubensbekenntnis
Kommissar Sturnis dritter Fall

Originalausgabe
1. Auflage
© 2020 Stefan Böhm
Taschenbuch-ISBN: 978-3-969-66410-0
Umschlagsgestaltung und Satz:
Sarah Schemske (www.buecherschmiede.net)
Lektorat: Martin Villinger
Korrektorat: Bücherschmiede (www.buecherschmiede.net)
Bestellung und Vertrieb: Nova MD GmbH, Vachendorf
Druck und Bindung:
Sowa Sp. z o.o.
ul. Raszyńska 13
05-500 Piaseczno
Polen

Alle Rechte vorbehalten. Alle Figuren und deren Biografien sind erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

Straßburger Glaubensbekenntnis“ erscheint demnächst als Taschenbuch und ist bereits jetzt als E-Book erhältlich!

Und seit dem 21. Dezember ist es soweit – die „Straßburger Geheimnisse“ gibt’s nun auch als Taschenbuch! Bestellen kann man’s hier!

Straßburger Geheimnisse – Kommissar Sturnis erster Fall“ finden Sie beispielsweise hier!

Pariser Enthüllungen – Kommissar Sturnis zweiter Fall“ finden Sie, wie immer Amazon-frei, hier!

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.

*



Copyright © Eurojournaliste