Der „Literarische Adventskalender“ (30)

Autor Stefan Böhm und Eurojournalist(e) präsentieren: „Straßburger Glaubensbekenntnis - Kommissar Sturnis dritter Fall“. Heute: Kapitel 30 – „Finale im Münster“

Finale im Münster - da staunen nicht nur die steinernen Affen... Foto: Rolf Kranz / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int

(Red) – Dieses Jahr dauert die Adventszeit bei uns etwas länger… und deshalb läuft jetzt noch unser „Literarischer Adventskalender“ von Stefan Böhm. Die gute Nachricht – das Buch endet erst Anfang Januar; bis dahin kommen Sie weiter täglich in den Genuss eines neuen Kapitels!

Kapitel 30 – Finale im Münster

Das Wetter hatte umgeschlagen, als er das Polizeipräsidium verließ. Ein heftiges Gewitter zog auf, es blitzte und donnerte schon. Ungewöhnlich, für den sonst sonnigen und milden September in Straßburg. In wenigen Minuten würde ein heftiger Regenguss herunterkommen. Er musste sich beeilen.

Sturni hastete über die Place du Corbeau auf die Grande Ill, vorbei am Musée historique de la ville de Strasbourg, wo der berühmte ehemalige Bewohner der Stadt – Johannes Gutenberg – schon heute gewürdigt wurde.

Die Geschichte würde umgeschrieben werden müssen, wenn er gleich das erste „mit beweglichen Lettern“ gedruckte Buch der Menschheitsgeschichte – fabriqué à Strasbourg – in den Händen halten würde. Sofern der Generalvikar es tatsächlich bei sich führte, wovon Sturni aber ausging.

Hinter dem Museum bog er ab in die engen Gässchen der Place de la Grande Boucherie und in die Rue du Maroquin in Richtung Münster. Der anstehende Starkregen hatte die Touristen aus den Gässchen vertrieben, normalerweise kam man hier nur im Schneckentempo voran.

Vor dem Münster angekommen, informierte ihn ein Sicherheitsmann, dass das komplette Gebäude soeben gesperrt worden sei. Eine wichtige Renovierungsarbeit stehe an, für die das komplette Münster habe geräumt werden müssen. Sturni konnte sich schon vorstellen, um was für eine Renovierung es sich handelte.

Er zückte gerade seinen Dienstausweis, als der Platzregen begann. Mit Nachdruck forderte er nun Einlass, war aber innerhalb von Sekunden nass bis auf die Knochen, weil der pflichtbewusste Mann ihm immer noch den Weg versperrte. Verärgert zog er seine Waffe, schob die nun verängstige Sicherheitskraft zur Seite und murmelte dabei etwas von Behinderung der Ermittlungsbehörden.

***

Im Inneren des Münsters herrschte eine völlig andere Atmosphäre. Noch nie hatte er den gigantischen Innenraum menschenleer gesehen. Normalerweise tummelten sich hier immer Hunderte Touristen auf einmal, es gab einen permanenten Geräuschpegel.

Nun hörte man nur das Gewitter wie ein fernes Grollen hinter den dicken Mauern des Münsters und der Regen prasselte gegen die wunderschönen farbigen Glasfenster. Eines dieser Fenster war die Ursache für das mysteriöse Jesus-Leuchten.

Schnell versteckte er sich hinter einem der mächtigen Pfeiler, als er der drei Gestalten gewahr wurde, die sich weiter vorn an der Kanzel zu schaffen machten. Der Generalvikar war also nicht allein, hatte Mitwisser. Langsam pirschte er sich von Pfeiler zu Pfeiler in Richtung der Kanzel vorwärts.

Als er in Hörweite war, machte er halt und versteckte sich hinter dem Stützpfeiler, der direkt vor der Kanzel lag. Nun erkannte er auch noch die beiden anderen Gestalten. Es waren der Küster und Restaurator Watt-will-er.

Der Restaurator hatte die Jesusfigur inzwischen wieder zusammengesetzt. Das ging ja schnell. Er musste Tag und Nacht durchgearbeitet haben. Sie lag vor der Kanzel auf einem kleinen Tischchen auf einem samtenen Kissen. Daneben war auf einem weiteren Samtkissen ein kleines Buch gebettet. Ledereinband, Messingbeschläge, das sagenumwobene erste gedruckte Buch der Welt!

„Wir müssen uns beeilen. Ich kann das Münster nicht ewig geschlossen halten, das würde zu sehr auffallen. Zum Glück ist das Gewitter aufgezogen. Da haben es sich die meisten Touristen in den Weinstuben gemütlich gemacht.“

Natürlich war es der Generalvikar, der hier das Kommando führte. Sturni entschloss sich, vorerst nicht einzuschreiten. Vielleicht würde er noch wichtige Informationen belauschen können.

„Zum Glück hast du dieses gottlose Luder beobachtet, Louis. Sonst hätte sie das am besten gehütete Geheimnis der Welt der Öffentlichkeit preisgegeben. Niemals darf dieses Schriftstück in die falschen Hände geraten, niemals darf publik werden, dass das erste gedruckte Buch nicht die Heilige Schrift, sondern ein Sammelsurium ketzerischer Schriften war, deren Inhalt wir bis heute verdammen. Nicht nur damals, auch heute noch würde es unsere Kirche in ihren Grundmauern erschüttern.“

Der Küster scharwenzelte dienstfertig um seinen Herrn herum. Bei dem Anblick kam Sturni der Glöckner von Notre-Dame in den Sinn, Quasimodo als willfähriger Gehilfe des Erzdiakon Frollo … die beiden waren ein eingespieltes Team, das sah man auf den ersten Blick.

„Auch Ihre Dienste werden im Himmel reich belohnt werden, Claude Wattwiller. Auf Erden werde ich dafür sorgen, dass Sie zum Direktor unseres berühmten Münstermuseums ernannt werden. Dafür werden Sie Ihr Leben lang Stillschweigen bewahren über das, was Sie nun im Dienste unseres Herrn für mich tun werden.“

Wattwiller war offensichtlich ein gläubiger Katholik, ein ehrgeiziger gläubiger Katholik. Ob es der Dienst am Herrn oder die Aussicht auf den renommierten Direktorenposten war, die ihn zur Kollaboration animierte, blieb offen.

Für Sturni war klar, dass er kein Mitwisser der ersten Stunde war. Seine Überraschung, als er den Hohlraum hinter der Figur zum ersten Mal erblickte, war echt gewesen. Der Generalvikar benötigte ihn, um die Jesusfigur wieder lege artis an der Kanzel anzubringen, und mit ihr das Gutenberg-Buch verschwinden zu lassen, auf dass es noch viele weitere Jahrhunderte geheim bleiben möge. Sein „Freund“ Watt-will-er lebte von diesem Tage an gefährlich, wenn Sturni den Generalvikar nicht bald hinter Schloss und Riegel bringen würde. Er wäre nicht der erste Mitwisser und Zeuge, den er eliminiert hätte. Vom Schicksal Valerie Geilers hatte Wattwiller auf jeden Fall keinerlei Kenntnis. Wattwillers Dienste würden nicht belohnt werden, da machte er sich falsche Hoffnungen.

Oriane hatte jede Seite fotografiert, die Dateien waren sicher im Polizeipräsidium hinterlegt. Wenn sein Direktor die Bilder nicht verschwinden ließ – selbst das hätte er ihm zugetraut –, dann war das Anliegen des Generalvikars chancenlos. Oriane hatte ihre Mission erfüllt und musste dafür mit den letzten kostbaren Monaten ihres dem Tode geweihten Lebens bezahlen. Dennoch, er benötigte das Buch, als ultimativen Beweis. Nur damit könnte zweifelsfrei belegt werden, dass Gutenberg schon in Straßburg ein Buch gedruckt hatte. Das war er Oriane schuldig.

Der Tathergang war ihm nach dieser Konversation schon deutlich klarer. Küster Stentz hatte Oriane bei ihrer Tat beobachtet, während er einen seiner nächtlichen Kontrollgänge durch das Münster unternahm. Kannte auch er das Geheimnis? Wahrscheinlich nicht, er war nur Quasimodo, ein dienstfertiger Gehilfe seines Herrn und Meisters. Er meldet den Diebstahl seinem Herrn, dem Generalvikar. Der Vertreter des Bischofs ist alarmiert. Kennt er das geheime Versteck hinter der Jesusfigur? Gut möglich …

Küster und Generalvikar finden irgendwie die Identität der Einbrecherin heraus. Vielleicht ist der Küster ihr gefolgt? Sturni fiel ein, dass Oriane in der Tatnacht nicht mehr bei ihnen übernachtet hatte. Er hatte sich keine großen Gedanken darüber gemacht, ging davon aus, dass sie wahrscheinlich schon in ihrer neuen Wohnung geschlafen hatte. Schließlich war sie eine erwachsene Frau, konnte tun und lassen, was sie wollte.

Hatte man die Identität einer Person, war es nur noch ein kleiner Schritt bis zu ihrer Telefonnummer. Trotzdem, wie kamen sie so schnell an Orianes Identität und an ihre Telefonnummer? Allenfalls die Polizei konnte eine unbekannte Person in so kurzer Zeit identifizieren und an ihre Handynummer kommen … Das war schon eigenartig … gab es da etwa eine Verbindung, Kontakte zwischen der Diözese und der Polizeidirektion? Dem würde er nachgehen, wenn alles vorbei war.

Der Generalvikar ruft sie an, konfrontiert sie mit der Kenntnis über ihren Einbruch und den Diebstahl. Vielleicht bietet er an, ihr das Buch abzukaufen, besticht sie. Die beiden vereinbaren den nächtlichen Treffpunkt auf der Île Coléo. Oriane hätte sich niemals darauf einlassen dürfen. Der Ort war gut ausgewählt für einen nächtlichen Mord, so abgelegen, wie er war. Nur mit Gott, Clochard Dieu, hatte niemand gerechnet …

Natürlich macht sich ein Generalvikar nicht selbst die Hände schmutzig. Er entsendet seine Geliebte, Valerie Geiler, an den Tatort. Diese vollstreckt seinen Auftrag und ersticht Oriane mit dem Kreuz aus dem frühen Mittelalter. Von wem hatte sie die wertvolle Waffe?

Ein perfekter Mord, allerdings nur auf den ersten Blick …

Alles am Tathergang war voller Symbolik. Oriane Jacquesson entdeckt das erste gedruckte Buch der Welt und wird dafür vor der gottverlassenen Gedenkstäte für Johannes Gutenberg – der das Buch gedruckt hat – hingerichtet. Erstochen, mit einem Kreuz aus dem frühen Mittelalter, das vielleicht auf den ersten Bischof von Straßburg zurückzuführen ist, an dem Ort, wo früher ein Kloster mit seinem Namen gestanden hat, Sankt Arbogast.

Und der Generalvikar glaubte allen Ernstes, dass er damit durchkommen würde? War er denn von allen guten Geistern verlassen? Nein, war er nicht. Er fühlte sich nur allmächtig, unangreifbar, über dem Gesetz stehend, gottgleich eben … Sturni dachte an die Worte der schönen Manon Bellerose, an ihre Haut, ihren Duft, als er aus seinen Gedanken gerissen wurde.

„Louis, er reiche mir das schandhafte Buch.“

Die Stimme des Generalvikars holte Sturni zurück ins Hier und Jetzt. Nun wurde es ernst. Er musste einschreiten, bevor der Generalvikar das Buch in seinem Versteck verstaute und Restaurator Wattwiller den Hohlraum wieder mit der restaurierten Jesusfigur verschloss. Der servile Küster hob das Buch vorsichtig vom Samtkissen und reichte es dem Generalvikar. Beide hatten sich zuvor feine Handschuhe angezogen, wohl um Fingerabdrücke auf dem Buch zu vermeiden. Es war höchste Zeit, einzuschreiten.

„Nehmen Sie Ihre Hände hoch! Das Buch legen Sie schön langsam zurück auf das Samtkissen. Danach lehnen Sie Ihre Hände an die Gitterstäbe vor der Kanzel und nehmen die Beine auseinander.“

Er hatte kaum ausgesprochen, da traf ihn ein harter Gegenstand am Kopf. Für einen kurzen Moment ging er zu Boden. Blut klebte an seiner Hand, als er sich an die Stirn fasste. Wenn es wenigstens das Buch gewesen wäre, mit dem man ihn beworfen hatte …

Er tastete im Halbdunkel nach seiner Waffe, die ihm beim Sturz aus der Hand gefallen war, fand sie und richtete sich schnell wieder auf, schwankte. Sturni fluchte. Dann fiel ihm ein, dass er sich ja in einem Gotteshaus aufhielt …

Die streng katholische Erziehung in Ribeauvillé hatte sich tief in seinem Unterbewusstsein festgesetzt. Als Kind war er sogar Ministrant gewesen. War er noch Herr seiner Sinne? Alles drehte sich. Weshalb hatte er nicht einen seiner Inspektoren mitgenommen? Er hatte das Gefahrenpotenzial unterschätzt, mal wieder.

Der Generalvikar und sein Küster waren getürmt. Er sah gerade noch, wie sie am südlichen Querschiff, vorbei an der weltberühmten astronomischen Uhr, dem Seitenausgang entgegenrannten. Claude Wattwiller stand neben der Kanzel, erstarrt zu einer Salzsäule. Der ehrgeizige Katholik hatte auf das falsche Pferd gesetzt. Das Buch konnte er nirgendwo entdecken. Sie hatten es mitgenommen.

Er rannte den beiden Flüchtigen hinterher, vorbei an Claude Wattwiller, dem er einen heftigen Schlag mit dem Knauf seiner Pistole verpasste. Eigentlich unnötig … aber er hatte ihn von Anfang an nicht leiden können.

Als er das Münster zum gleichen Seitenausgang verließ, nahm er rechter Hand zwei Gestalten wahr, die eine Tür aufstießen und wieder ins Münster hineingingen. Das war der Eingang, der zu den Treppenstufen hinauf auf die Münsterplatte und den Turm des Münsters führte. Sie flüchteten also auf das Dach des Münsters. Sturni stürmte ihnen hinterher. Dort würde er sie schnappen. Über die enge Wendeltreppe kam man nur auf die Münsterplatte. Auf der anderen Seite des Münsters führte eine weitere Wendeltreppe wieder nach unten. Sie waren gefangen, wenn er ihnen folgte und die andere Seite des Münsters von unten sperren ließ.

„Isinger, zum Münster, schnell. Bring alles mit, was wir haben! Umstellt das Münster und riegelt es ab! Keiner darf mehr raus oder rein!“

Sturni hatte schon wieder aufgelegt. Er durfte nicht den Anschluss zu ihnen verlieren, stieß die Tür auf und hastete ihnen die enge Wendeltreppe hinauf hinterher. Es stürmte und regnete in Strömen. Er keuchte und fluchte. Die beiden Herren, obwohl deutlich älter als er, waren ziemlich fit. Er sollte endlich mit dem Rauchen aufhören, schließlich konnte er jeden Moment zum zweiten Mal Vater werden …

Die Wendeltreppe war teilweise komplett ummauert, teilweise gab es große Öffnungen, durch die der Regen hereinpeitschte. Gesichert waren diese offenen Stellen lediglich durch Stahlstäbe. Sturni unterdrückte seine Höhenangst und hastete weiter. Durch die eindringende Nässe waren die Stufen glatt und glitschig wie die Eisbahn, auf der er in der Vorweihnachtszeit mit Christian gefahren war.

Er rutschte aus, schlug der Länge nach hin, knallte mit dem Kinn gegen eine Kante der Treppenstufen. Erneut Blut, eine weitere große Platzwunde, diesmal am Kinn. Weiter, immer weiter, sie durften ihm nicht entkommen. Die letzten Stufen erklomm er auf allen vieren, wie besessen davon, den Generalvikar endlich zur Strecke zu bringen und ihm das kostbare Buch zu entreißen. Er hatte keinen Blick mehr für die Schönheit des Münsters, die in Sandstein gehauenen Fratzen aus dem Mittelalter. Zeitzeugen einer längst vergangenen Epoche, die ihn von oben herab anstarrten. Was hatten diese Fabelwesen mit der christlichen Religion zu tun?

Endlich war er auf der Ebene der Münsterplatte angekommen, passierte die beiden riesigen Laufräder, die noch aus dem 15. Jahrhundert stammten und mit denen früher die Lasten nach oben befördert worden waren. Eine technische Meisterleistung für die damalige Zeit. Vielleicht war Gutenberg ja selbst einmal hier oben gewesen, schoss es ihm durch den Kopf.

Als er auf die Freifläche der Münsterplatte hinaustrat, hatte er sie endlich eingeholt. Die beiden standen mitten auf der sturmgepeitschten, dem Unwetter ausgesetzten Plattform. Offensichtlich wollten sie nicht vor ihm flüchten. Sie hatten hier oben auf ihn gewartet. Es wäre auch sinnlos gewesen. Durch das Sturmgetöse hörte er die Sirenen der Polizeifahrzeuge, die auf dem Münsterplatz vorfuhren. Auf Inspektor Isinger war wie immer Verlass. In wenigen Sekunden wäre der Zu- und der Abgang zur Münsterplatte abgeriegelt. Er hätte ihn anweisen sollen, einige Uniformierte zu ihm hochzuschicken, jetzt war es zu spät. Es gab kein Entkommen mehr, der Showdown zwischen ihnen würde hier und jetzt stattfinden.

Sturni fasste an sein Pistolenhalfter und wollte seine Waffe ziehen, griff jedoch ins Leere. So ein Mist! Er musste die Waffe bei seinem Sturz auf den steilen Treppenstufen verloren haben. Nun stand es zwei zu eins, und er war unbewaffnet …

***

   „Kannten Sie das geheime Buch und das Versteck in der Kanzel schon, oder hat Sie erst Oriane Jacquesson darauf gebracht?“

Sturni versuchte die beiden in ein Gespräch zu verwickeln. Entkommen konnten sie ihm nicht mehr. Es schien ihnen bewusst zu sein. Was hatten sie vor? Er würde auf eine geeignete Gelegenheit warten, sie zu überwältigen und dem Generalvikar das Buch abzunehmen.

Jean-Michel Bott lachte, schallend. Ein zynisches, überlegenes Lachen, das selbst die Sturmböen übertönte.

„Einer meiner Vorgänger hat im Jahr 1485, beim Bau der Kanzel, dafür gesorgt, dass der Hohlraum eingebaut wird. Seitdem ruht das Buch dort, sicher und ohne Schaden anzurichten. Sämtlichen Wirren der Geschichte hat das Versteck getrotzt. War es in Gefahr, so haben wir das Buch in Sicherheit gebracht und danach wieder dort versteckt. Das galt auch für die Zeit, in der die Protestanten in Straßburg und im Münster das Sagen hatten, immerhin 150 Jahre lang. Immer haben wir Mittel und Wege gefunden, unser Geheimnis zu bewahren. Selbst während der französischen Revolution, als unserer Kathedrale übel mitgespielt wurde, haben wir es in Sicherheit gebracht.“

Hochwürden hatte sich dazu entschlossen, reinen Tisch zu machen. Ihm sollte es recht sein.

„So sollte es weitergehen, bis ans Ende der Tage, bis zum jüngsten Gericht. Wäre uns nicht diese gottlose Sünderin in die Quere gekommen. Ich bin der Hüter eines Geheimnisses in einer mehr als fünfhundertjährigen Dynastie, und ich werde nicht derjenige sein, der es preisgibt.“

Der Generalvikar redete freiwillig, als wolle er sein Gewissen erleichtern. Sturni beschloss, ihn reden zu lassen und in einem geeigneten Moment, wenn sie beide abgelenkt waren, auf sie loszustürmen, sie außer Gefecht zu setzen und dem Generalvikar das Buch abzunehmen. Dennoch war er auf der Hut. Jean-Michel Bott hatte offensichtlich nicht vor, klein beizugeben. Das hatte er gerade angekündigt.

„Was hat es mit diesem Buch auf sich?“

Einen großen Teil der Geschichte kannte er ja schon, von Olivia. Vielleicht würde der Generalvikar ihm auch noch den Rest erzählen, die Gelegenheit war günstig wie nie.

„Die Gutenberg-Bibel war nicht das erste gedruckte Buch von Johannes Gutenberg, sondern diese Schriften des Teufels, die er schon in seiner Straßburger Zeit gedruckt hatte.“

Olivias Annahme wurde damit bestätigt. Die anderen, schon vor der Bibel in Mainz gedruckten Bücher von Gutenberg, hatte der Generalvikar geflissentlich unter den Tisch fallen lassen.

„Gutenberg war nicht nur ein genialer Erfinder und Geschäftsmann. Er war ein politisch denkender Kopf, mit festen religiösen Überzeugungen, die nicht die unseren waren. Das Konzil von Basel tagte damals noch, nur wenige Tagesmärsche von Straßburg entfernt.“

Woher wusste der Generalvikar das alles? Laut Olivia war gar nicht bekannt, wie Gutenberg zu den Themen Politik und Religion stand. Die Quellenlage aus dieser Zeit war relativ dünn. Verfügte die Kirche über noch mehr geheime Informationen zu Gutenberg, weitere Dokumente, die sie unter Verschluss gehalten hatte, jahrhundertelang?

„Gutenberg verfolgte die Geschehnisse dort aufmerksam. Doch schon fünf Jahre vor Ende des Konzils zeichnete sich ab, dass die Restauration einer papalen Kirche letztendlich obsiegen würde. Gutenberg entschloss sich dazu, einzugreifen, mit seiner neuen Erfindung, dem Buchdruck. Dieses Buch wollte er massenhaft vervielfältigen und so den Gang der Geschichte beeinflussen.“

Sturni ging langsam, kaum merklich auf die beiden zu. Wenn beide abgelenkt waren, wollte er sich auf sie stürzen und dem Generalvikar das Buch entreißen.

„Weshalb hat er sein Vorhaben nicht in die Tat umgesetzt? Was hielt ihn davon ab?“

Ein weiteres, schallendes Lachen des Generalvikars.

„Mein Vorgänger entdeckte das Komplott. Gutenberg wurde angeschwärzt, von seinem besten Freund. Natürlich hätte man ihm den Prozess machen können. Er wäre bestimmt auf dem Scheiterhaufen gelandet. Doch der damalige Generalvikar war ein weiser Mann und entschied sich anders.“

Alte, weiße Männer gab es schon damals, schoss es Sturni durch den Kopf. Heute waren sie ja eine aussterbende Spezies. Selbst der allmächtige Präfekt würde demnächst ersetzt werden, durch eine Frau, eine Korsin zumal, im Elsass … Das passte ja mal wieder wie die Faust aufs Auge. Es lebe der von Paris aus gesteuerte Zentralstaat!

Was dachte er da überhaupt, in dieser Situation? Hatte er ein Schädeltrauma erlitten, eben im Münster? Wenn diese Geschichte ausgestanden war, dann würde er das Psycho-Coaching in Anspruch nehmen. Schaden konnte es jedenfalls nichts, Manon Bellerose wäre begeistert. Und er war begeistert von ihr …

„Er erkannte sofort das Potenzial von Gutenbergs Erfindung, die es für und nicht gegen die herrschende Kirche zu nutzen galt. Er hat Gutenberg gekauft. Die erste schon gedruckte Auflage der Bücher kaufte er ihm komplett ab und vernichtete sie, bis auf dieses Exemplar.“

Der Generalvikar zog das Buch unter seinem Gewand hervor. Der Regen würde das Papier in kürzester Zeit aufweichen. Sturni musste handeln, schnell.

„Er bot Gutenberg einen Deal an. Der Erfinder hatte die Wahl zwischen einem Inquisitionsprozess unter Folter, der garantiert auf dem Scheiterhaufen enden würde, und einem schönen Sümmchen, verbunden mit dem Gelübde, seine Drucktechnik nie wieder gegen, sondern nur noch für die päpstliche Kirche einzusetzen. Und nun raten Sie mal, wofür Johannes Gutenberg sich entschieden hat?“

Musste das jetzt sein? Bei dem Regen…? Sturni hasste solche Spielchen.

„Er ließ sich kaufen, wie so viele vor und nach ihm. Die römisch-katholische Kirche des Mittelalters hat ihre Konflikte schon immer zuerst mit dem Geldbeutel, und nur im Notfall mit dem Schwert gelöst.“

Immer näher rückte Sturni an den Generalvikar heran. Nur noch wenige kleine Schritte, und er würde sich auf ihn stürzen können.

„Nach dem Deal verließ Gutenberg Straßburg und tauchte für mehrere Jahre unter, während er weiter an der Verfeinerung seiner Drucktechnik arbeitete. Erst 1448 erschien er wieder in Mainz, gründete eine neue Werkstatt, druckte Ablassbriefe und schuf sein Meisterwerk, die Gutenberg-Bibeln. Das letzte verbliebene Buch seiner Straßburger Verirrungen wurde seitdem von Generalvikar zu Generalvikar weitergereicht. Als etwa vierzig Jahre später die Kanzel zu Ehren des Predigers Johann Geiler errichtet wurde, ließ der damalige Generalvikar das geniale Versteck einbauen, auf dass Gutenbergs ketzerisches Werk auf immer verborgen bleibe hinter dem Antlitz unseres Herrn Jesus. Gutenbergs Drucktechnik hatte zu diesem Zeitpunkt schon ihren Siegeszug angetreten und sich über halb Europa verbreitet.“

Der Generalvikar hatte sich in Rage geredet. Wild fuchtelte er nun mit dem Buch in der Luft herum. Sturni hatte alles erfahren, was er wissen musste. Nun galt es nur noch, das Buch sicherzustellen und die beiden dingfest zu machen.

Plötzlich schlug ein Blitz in die Kirchturmspitze ein. Alles wurde von einem gleißenden Licht erhellt. Seine Kontrahenten waren für einen Moment geblendet. Das war seine Chance. Er warf sich auf den Generalvikar und versuchte, ihm das Buch zu entreißen. Im letzten Moment, bevor er zu Boden ging, warf dieser das Buch zum Küster, Sturni verfehlte es um wenige Zentimeter. Instinktiv fing der Küster das Buch auf, als habe er nur auf diesen Moment gewartet, als sei die gesamte Choreografie vorab zwischen den beiden abgesprochen und tausendfach geübt worden.

„Louis, melius est prevenire quam preveniri. Qui audet adipiscitur! Memento mori, requiescat in pace!“

Auf dieses Zeichen zog der Küster eine Flasche unter seinem Gewand hervor und übergoss sich mit einer klaren Flüssigkeit. Sturni hatte den Generalvikar inzwischen zu Boden geworfen, legte ihm Handschellen an und beobachtete den Küster nur aus den Augenwinkeln.

Einen Moment zu spät wurde ihm klar, was der Küster vorhatte. Vielleicht hätte er in der Schule doch Latein belegen sollen … Die beiden hatten vorab einen Plan B entwickelt, falls sie beim Verschwindenlassen des Buches ertappt werden sollten.

Es ging alles sekundenschnell. Kaum war die Flasche über dem Kopf des Küsters gelehrt, zog dieser ein Feuerzeug und entzündete es. Die Kirchturmspitze hatte vom Blitzeinschlag Feuer gefangen und auch der Küster verwandelte sich binnen eines Augenblicks in eine lebende brennende Fackel. Waren denn hier alle verrückt geworden?

Sturni drückte den in Handschellen gelegten Generalvikar mit dem Gesicht auf den patschnassen Steinboden der Münsterplatte und stürmte auf den Küster zu. Dieser rannte, lichterloh brennend und schreiend vor Schmerz, in Richtung des Westportals, auf den Abgrund zu. Er will sich von der Münsterplatte stürzen, schoss es Sturni durch den Kopf. Der Küster selbst war nicht mehr zu retten, doch zumindest das Buch wollte er ihm abnehmen. Den Triumph wollte er dem Generalvikar nicht gönnen, das letzte verbliebene Buch auch noch den Flammen preiszugeben. Das war er Oriane schuldig.

Zum Glück gab es am Rand der Münsterplatte neben einem hüfthohen Geländer aus Sandstein noch eine zusätzliche Sicherung mit Stahlseilen, wahrscheinlich um Selbstmörder abzuhalten, sich in die Tiefe zu stürzen. In Windeseile erklomm der Küster die Stahlseile mit nur einer Hand, in der anderen das Buch. Die ersten Flammen hatten es bereits erfasst. Das Adrenalin in seinem Körper verlieh ihm übermenschliche Kräfte.

In letzter Sekunde schlug Sturni ihm das Buch aus der Hand, bevor der Küster sich über das letzte Seil schwang und in den Abgrund stürzte. Wie von Ferne hörte er einen markerschütternden Schrei, dann den dumpfen Aufprall auf dem Münsterplatz. Sturni warf sich auf das Buch, das zum Glück auf der Seite der Münsterplatte gelandet war. Die Flammen erstickte er mit seinem Körper.

Danach richtete er sich auf und verbarg das wertvolle Buch in seiner Jackentasche. Dann blickte er durch die Stahlseile in den Abgrund, auf den Münsterplatz hinab. Der Küster war zwischen zwei Polizeifahrzeugen aufgeprallt. Die Beamten warfen gerade eine Decke über die immer noch brennende Leiche, um die Flammen zu ersticken. Zum Glück war keiner seiner Kollegen zu Schaden gekommen.

***

Just in diesem Moment klingelte sein Telefon.

„Antoine, ich bin es, Olivia. Wo steckst du?“

„Das ist eine lange Geschichte …“

Sturni wischte sich das Blut, das von seiner Augenbraue auf sein Augenlid tropfte, beiseite und schniefte.

„Wir sind gerade im Krankenhaus angekommen. Das Baby, es kommt! Beeil dich!“

Das Baby! Das hatte er ja ganz vergessen …

Er sprintete los. Im Vorbeigehen verpasste er dem Generalvikar, der mit Handschellen hinter dem Rücken gefesselt und gekrümmt am Boden lag, noch einen heftigen Tritt in den Genitalbereich.

„Das ist für Oriane Jacquesson, für Valerie Geiler, für Leonore Meyer, und wen auch immer Sie sonst noch alles auf dem Gewissen haben!“

Scheiß auf die politische Korrektheit, dachte er sich, als er die Treppenstufen – diesmal auf der Seite des Münsterturms – hinunterstürmte. Im Polizeibericht würde man das eine oder andere Detail beschönigen müssen … Seine Höhenangst war wie weggeblasen, er wollte unbedingt rechtzeitig im Krankenhaus sein, bevor sein Sohn zur Welt kam.

Etwa auf halber Höhe kam ihm Bernard Isinger entgegen.

„Auf der Münsterplatte liegt der Generalvikar der Diözese Straßburg. Er hat Valerie Geiler ermordet und sie zuvor zum Mord an Oriane Jacquesson angestiftet. Festnehmen und DNA-Abgleich mit der DNA des Mörders von Valerie Geiler. Kein Wort davon zu Direktor Bouget!“

Der DNA-Abgleich würde den Beweis erbringen, den Generalvikar überführen und ihn selbst entlasten. Bouget würde seine Suspendierung umgehend zurücknehmen müssen.

Schon war er auf den engen Treppenstufen an Isinger vorbeigehastet. Bernard würde sich um alles kümmern, auf ihn war Verlass.

Viel weiter unten traf er auf François Straumann, seinen zweiten Inspektor … und kam nicht an ihm vorbei …

Wie immer war der beleibte Straumann eher Hindernis als echte Hilfe. Sie mussten sich gemeinsam zu einem der Austritte begeben, die in regelmäßigen Abständen in die Wendeltreppe eingebaut waren. Nur dort war es ihm möglich, sich an seinem schwer übergewichtigen Inspektor vorbei zu zwängen. Straumann schwitzte stark und war am Ende seiner Kräfte, dabei war allenfalls ein Drittel des Aufstiegs zum Münster geschafft. Immerhin zeigte er – anders als sonst – diesmal vollen Körpereinsatz.

***

Als Sturni die Eingangshalle des Krankenhauses betrat, stürzten sich mehrere Rettungssanitäter auf ihn, die sich dort gerade zufällig aufhielten. Sie hielten ihn wohl für einen akuten Notfall, den es zu versorgen galt, blutüberströmt, durchnässt und verschwitzt, wie er war.

Umso überraschter waren sie, als er seinen Dienstausweis zückte, etwas von einem Notfall faselte und nach der Entbindungsstation fragte.

Als er im Kreißsaal ankam, hörte er schon die Schreie seines zweiten Stammhalters. Zumindest so viel hatte er während der Schwangerschaft mitbekommen, es würde ein Junge werden. Er hatte die Geburt verpasst, um wenige Minuten. Ob Margaux ihm das jemals verzeihen würde?

Vorsichtig näherte er sich dem Bett, in dem seine – hoffentlich noch – künftige Gattin lag und den munter schreienden Sohnemann an ihre Brust drückte. Neben ihr kniete Olivia mit seinem ersten Sohn Christian und beide strahlten selig.

„Schön, dass du auch noch kommst. Möchtest du den kleinen Jean mal auf den Arm nehmen?“

Hatten sie eigentlich schon über den Namen gesprochen? Jean? Johann? Im Ernst? Er konnte sich nicht daran erinnern …

Sturni beschloss, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt sei, deswegen ein Fass aufzumachen. Bei der Geburt war offensichtlich alles gut gegangen – auch wenn er nicht selbst zugegen war –, Mutter und Kind waren wohlauf, und das war es, was letztendlich zählte. Seinetwegen auch Jean, Jean Sturni … Er würde damit leben können.

Immerhin war Margaux bei der Geburt nicht ganz allein gewesen, Olivia und Christian hatten ihr beigestanden. Olivia hatte sie in seinem Renault – er war also doch noch zu etwas zu gebrauchen – rechtzeitig vor der Geburt ins Krankenhaus gebracht.

Seinen Sohn auf dem einen Arm kramte er mit der anderen Hand in seiner Jackentasche und zog das etwas in Mitleidenschaft geratene Gutenberg-Buch heraus.

„Für dich habe ich auch noch eine kleine Überraschung. Du bekommst die exklusive Erstausgabe des ersten gedruckten Buchs der Welt für einen fulminanten Fachaufsatz, der dich zum neuen Superstar unter den Kunsthistorikern katapultieren wird.“

Olivia fiel die Kinnlade herunter, als er ihr das leicht angekohlte, sonst aber noch intakte Buch entgegenstreckte.

Mit Fingerspitzen nahm sie den kostbaren Schatz vorsichtig entgegen.

Tout est bien qui finit bien – Ende gut, alles gut, dachte sich Sturni, drückte Margaux und Christian fest an sich und küsste den immer noch schreienden Jean Sturni liebevoll auf den Kopf.

Fortsetzung folgt…

Stefan Böhm

Straßburger Glaubensbekenntnis
Kommissar Sturnis dritter Fall

Originalausgabe
1. Auflage
© 2020 Stefan Böhm
Taschenbuch-ISBN: 978-3-969-66410-0
Umschlagsgestaltung und Satz:
Sarah Schemske (www.buecherschmiede.net)
Lektorat: Martin Villinger
Korrektorat: Bücherschmiede (www.buecherschmiede.net)
Bestellung und Vertrieb: Nova MD GmbH, Vachendorf
Druck und Bindung:
Sowa Sp. z o.o.
ul. Raszyńska 13
05-500 Piaseczno
Polen

Alle Rechte vorbehalten. Alle Figuren und deren Biografien sind erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

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