Der Sturm auf das Kapitol – wirklich eine Überraschung?

Wie ist der Washingtoner Anschlag auf die Demokratie wirklich zu bewerten – und wo kann das hinführen, fragt sich Karl-Friedrich Bopp.

Der Sturm auf das Kapitol war letztlich der Höhepunkt einer langen Entwicklung, initiiert von Donald Trump. Foto: ScS EJ

(KL) – Der 6. Januar 2021 hat die politischen USA für immer verändert. Ein Republikanischer Mob zog, aufgeheizt vom noch amtierenden Präsidenten Trump, in Richtung Kapitol. Dort drang die Menge gewaltsam ein, genau zu dem Zeitpunkt, an dem der Sieg Joe Bidens als 46. Präsident der Vereinigten Staaten offiziell vom Senat zertifiziert werden soll. Der Mob schafft es, dass dieser demokratische Prozess unterbrochen werden muss.

Wie konnte es dazu kommen? Seien wir ehrlich. Es hätte schon viel früher kommen können. Seit Monaten sieht Trump die drohende Niederlage als Albtraum vor sich. Deshalb spricht er seit Monaten von Wahlbetrug und Fälschung. Laut Umfragen glauben ihm 60% seiner Anhänger. Das bedeutet, dass mehr als 40 Millionen US-Amerikaner überzeugt sind, dass Joe Biden durch eine gefälschte Wahl zum Präsidenten erkoren wurde.

Da brauchen nur 1 % von seinen Fans in Richtung Washington marschieren und ein Blutbad ist vorprogrammiert. Wo ist nur die amerikanische Tugend geblieben, die nicht von Macht spricht, sondern von Verantwortung? Wo ist die amerikanische Haltung, die Machtwechsel als Teil der Demokratie versteht?

Sich jetzt entsetzt zu geben, wäre heuchlerisch. Schon Ende April des vergangenen Jahres hatten sich Bewaffnete Zutritt zum Parlament des Bundesstaats Michigan verschafft. In tumultartigen Szenen wetterten sie gegen den Covid-19-Lockdown. Damals wurde das Muster solcher Erstürmungen bereits vorgeführt. Und schon damals twitterte der Covid-ungläubige Trump „Befreit Michigan“ – eine klare Ermutigung an den Mob.

Weiteres Indiz. Seit Jahren gewinnt die Tea Party-Bewegung an Bedeutung. Eine Bewegung, die innerhalb der republikanischen Partei jeden Kompromiss als Schwäche ausschließt. Schon unter dem demokratischen Präsidenten Obama war eigentlich das Regieren kaum noch möglich. Konsequent wurde jedes Gesetzesvorhaben vom republikanisch dominierten Senat abgeschmettert. Mit ein paar Dekreten konnte er noch ein paar positive Zeichen setzen. Nur, kaum war Trump an der Macht, waren diese Dekrete auch schon alle Geschichte.

An den 6. Januar 2021 wird man sich noch lange erinnern. Unklar bleibt im Augenblick, wofür das Datum eines Tages in die Geschichte eingehen wird. Im positiven Fall wird es für einen Weckruf stehen. Für einen Weckruf, dass Hasstiraden kein Ersatz für vernünftige Politik sind. Für einen Weckruf, dass ein politischer Gegner kein Feind ist, den es zu vernichten gilt. Im negativen Fall wird es allerdings ein weiterer Meilenstein eines gefährlichen Trends. Zum Beispiel andere Meinungen immer als Lügen zu bezeichnen. Oder Nachrichten, die einem nicht gefallen, als „Fake News“ zu brandmarken. Mit anderen Worten, zu keinem Zeitpunkt mehr an der Meinung des Andersdenkenden interessiert zu sein, schon gar nicht am Gemeinwohl, sondern nur am eigenen Wohl und dem des eigenen Clans.

Zu hoffen ist, dass der neue Präsident Joe Biden das richtige Maß findet zwischen der juristischen Verfolgung der Randalierer – immerhin gab es fünf Tote und mehrere Verletzte – und dem politischen Willen, einen Neuanfang zu wagen. In der schockierenden Nacht hat er die richtigen Worte gefunden. Er sprach von „Betroffenheit“ und versuchte, den Gewaltauseinandersetzungen mit Gefasstheit zu begegnen. Leicht wird seine Aufgabe als zukünftiger Präsident nicht. Die Wunden, die Trump schlug, werden nur langsam heilen – wenn überhaupt.

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.

*



Copyright © Eurojournaliste