Der Tod in Venedig – Lebenszeichen aus der Rheinoper

Das Straßburger Opernhaus führt unbeirrt seine Saison fort: Benjamin Brittens Oper nach der Novelle von Thomas Mann über die platonische Knabenliebe entstand auf der Bühne – zu sehen fürs Publikum ist sie allerdings nur auf dem Bildschirm.

Wo sind die Grenzen zwischen jenen Leidenschaften, die nach oben zum Lichte drängen, und jenen, die in den Tiefen des Inneren verborgenen bleiben? Foto: OnR Strasbourg

(Michael Magercord) – O tempora, o mores – vor 110 Jahren schrieb Thomas Mann seine Novelle über die platonische Zuneigung eines älteren Herrn zu einem jungen Knaben. Sie liest sich als – wie man heute sagen würde – verstecktes Coming Out des Schriftstellers zu seiner homoerotischen Neigung. Als Benjamin Britten die Geschichte als Stoff für seine letzte Oper auswählte, war Homosexualität in vielen westlichen Ländern noch strafbar, und man konnte die Wahl durchaus als Statement in der Toleranzdebatte auffassen. Heute wiederum schwingt darin fast unwillkürlich immer auch eine Anklage über psychischen Kindesmissbrauch mit.

Jede Zeit hat ihre eigene Moral und so kann dieselbe Geschichte über die Jahre hinweg ganz anderen Sichtweisen unterzogen werden. Der Schriftsteller Thomas Mann sah in der Erzählung über den Schriftsteller Gustav von Aschenbach eine Parabel zu Goethes letzter großen Liebe zu der fünfzig Jahre jüngeren Ulrike von Levetzow: Ein schon überreifer Mann gibt sich willenlos seinem „späten Gefühlsrausch“ hin, was aus dem sonst so überlegten Menschen „letztlich einen würdelosen Greis“ macht. Für den Menschen Thomas Mann allerdings wurde die Verschriftlichung seiner von ihm selbst verspürten Gefühle zur Befreiung. Mit dieser Offenheit gegenüber sich selbst änderte sich auch seine Einstellung zu ihm selbst, er lebte nun mit seiner Neigung ohne – so viel wir wissen – sie jemals ausgelebt zu haben, wohl auch, um dem Schicksal seines Protagonisten zu entgehen.

Bald 60 Jahre später nutzte der Komponist zur musikalischen Umsetzung der Novelle Elemente der balinesischen Gamelan-Musik, denn in ihr spiegelten sich für Benjamin Britten beide Gefühlspole wider, zwischen denen sich die Geschichte von Thomas Mann bewegt: sowohl die Bewunderung für das ferne Ideal von Tugend und ebenmäßiger Schönheit wie der rauschhaften Vereinnahmungs- und Todeswillen eines in Liebe Entfachten. Beide Seiten führen in der Person des Schriftstellers einen Wettstreit, in dem schließlich der Rausch obsiegt und damit sein Ende besiegelt wird.

Benjamin Britten, heißt es, sah in dieser Oper sein Testament. Drei Jahre zuvor, im Frühling 1968, steckte er sich ausgerechnet bei einem Aufenthalt in Venedig mit einer infektiösen Herzinnenhautentzündung an. 1972 folgte eine Herzoperation, danach widmete er seine letzte große Kraftanstrengung der Fertigstellung dieser Komposition. Der Uraufführung, in der sein langjähriger Lebensgefährte Peter Pears die Hauptrolle sang, konnte er nur noch als von der Krankheit gezeichneter Mann beiwohnen.

Nun sind wiederum 50 Jahre vergangen und vieles hat sich mit den Zeiten geändert, zumindest, wenn man die äußere Moral betrachtet. Die Gleichbehandlung der sexuellen Orientierungen ist weitgehend erreicht – und doch bleibt es ein Text und eine Oper, in denen an Tabus gerüttelt wird und die die bestehende Moral herausfordern, wenn auch unter einer anderen Sichtweise: Wie weit kann und aber auch darf eine Leidenschaft offen ausgelebt werden? Wo wird immer wieder aufs Neue die Grenze gezogen, ab der die Privatheit der Gefühle einer öffentlichen Bekümmerung anheim gelegt werden sollte oder muss?

Ja, „Der Tod in Venedig“ ist also heute noch so akut wie vor 110 oder 50 Jahren, und zwar schon allein deshalb, weil die Privatsphäre nicht zuletzt im Zuge der Identitätsbewegungen zunehmend wieder im politischen Raum ausgehandelt wird – und kaum ein Raum ist privater und öffentlicher zugleich wie der Bühnenraum, was vielleicht umso deutlicher wird, wenn er für die Öffentlichkeit gar nicht zugänglich ist.

Das ist natürlich besonders schade, weil die Musik von Benjamin Britten in ihrer Zugänglichkeit sich für einen inspirierenden und mitreißenden Abend in der Oper ganz besonders eignet. Aber immerhin lässt sich das Erlebnis nun am Bildschirm nachempfinden, aufgenommen auf der echten Bühne in dem prächtigen Bau der wunderbaren Rheinoper von Straßburg.

Der Tod in Venedig

Oper in 2 Akten von Benjamin Britten (1913 – 1976)
Libretto von Myfanwy Piper nach einer Novelle von Thomas Mann
Uraufführung am 16. Juni 1973

Regie: Jean-Philippe Clarac und Olivier Deloeuil
Dirigent: Jacques Lacombe
Symphonieorchester Mülhausen
Chor der Rheinoper

ab Dienstag, 20. April, für einen Monat auf der Website l’OnR chez vous der Rheinoper.

Darauf finden sich noch weitere Videos oder Audiomitschnitte mit aktuellen Produktionen aus der Oper von Straßburg und der Ballettabteilung von Colmar.

Die Straßburger Philharmonie OPS ist übrigens auch aktiv, das nächste Konzert führt nach Mitteleuropa: das Konzert für Cello in C-Dur von Haydn, die „Vier siebenbürgischen Tänze“ von Veress und Schumanns 2. Symphonie stehen auf dem Programm – zu hören im Radio:

Sonntag, 25. April, um 21 Uhr bei Radio Classique
Mittwoch, 5. Mai, um 20 Uhr bei Accent 4

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