Der Ton macht die Welt – Festival MUSICA
Wie in jedem Jahr wird die Saison mit dem Festival MUSICA in Straßburg eingeleitet. Zum 42. Mal gibt die „Neue Musik“ den Ton an. Den Auftakt macht am 20. September der moderne Klassiker „De Staat“ des Holländers Louis Andriessen.

(Michael Magercord) – Im fernen Indonesien besuchte ich einst die Musikhochschule in der javanischen Stadt Solo. Darin wird die traditionelle Gamelan-Musik der lange schwingenden Klangschalen gelehrt. Der Professor für das Fach, das man wohl übertragen in unsere Breiten „Alte Musik“ nennen müsste, gab mir eine Erkenntnis mit auf den Weg hinaus in die Welt außerhalb der geschützten akademischen Räume: „Wir Menschen haben keinen Einfluss auf die Zeit, in die wir geboren werden, und nur sehr begrenzt auf den Raum, in dem wir leben müssen, aber es liegt an uns, welche Töne und Klänge wir darin erzeugen: ob sie wohltuend und harmonisch oder laut und harsch sind“.
Das Festival MUSICA, dass sich seit 42 Jahren der „Neuen Musik“ widmet, geht in diesem Jahr noch einen Schritt weiter und stellt sich gleich zum Auftakt am 20. September der Frage, ob Musik den Staat macht. Denn der holländische Komponist Louis Andriessen widersprach mit seiner Komposition „De Staat“ von 1976 dem antiken griechischen Philosophen Platon, der in seinem idealen Staat der Musik einige Fesseln anlegen wollte, erkannte er doch eine schädliche Wirkung auf die Moral des Gemeinwesens durch falsche Töne, vor allem von Flöten: Schlechte Musik verstärkt niedrige Affekte. Der Komponist vom Staat 2.0 sendet ihm einen Stoßseufzer entgegen: Ach, würde doch Musik bloß die Politik bestimmen können…
Wenn durch Geräusche, Krach und Lärm tatsächlich bestimmt wird, in welcher Welt wir leben, dann stellt sich die Frage, wozu die erst mühsam erzeugten Töne und Klänge dienen sollen? Der tiefe Grund dieser Komposition sei es, so Louis Andriessen, einen Beitrag zur Debatte über das Verhältnis von Musik und Politik zu leisten.
Um dieses Verhältnis zu klären, bemüht sich seit einigen Jahren mehr und mehr das Festival selbst: Mit Musik zur Verbesserung der derzeit zutiefst verunsicherten Welt beitragen. Man hat sich auch in diesem Jahr einiges vorgenommen, allein die Worte, die im Programmheft dazu zu lesen sind, klingen wie Musik in so manchen Ohren: Diversität, Intergenerationalität, Parität und Gleichheit, sprich Kampf gegen Diskriminierung aller Art, das Gender-Gap und die Ungleichheit des Zugangs zu Kultur.
Also denn auf in Kampf um den richtigen Klang. So wird erkundet, was uns die Mauern in Palästina oder an der Front in der Ukraine zuraunen. Oder wie Brasilien klingt, wenn die Kultur der Ureinwohner auf die politischen Auseinandersetzungen der Einwanderergesellschaft trifft. In den USA gilt es die Enthüllungen von Chelsea Manning aus dem Irakkrieg im Gesang zu erfassen, aber auch die bis heute spürbaren Auswirkungen der Sklaverei. Den Abschuss der malaysischen Passagiermaschine über der Ukraine 2014 durch russische Raketen ist ebenso Thema wie die Flucht vor dem Klimawandel: Welche Sirenenklänge sendet das anvisierte Refugium auf dem Nachbarplaneten Mars aus? Aus dem Ungarn des Viktor Orban berichtet uns der Chor der „Singenden Jugend“. Und beim „Aufstehen“ wird mithilfe völlig neuer Instrumente ganz neue Harmonien und Klangfarben eine „Grammatik“ der Kunstpolitik geschrieben.
Bleibt auch vieles noch sehr vage, so ist die Botschaft doch eindeutig: Aus der Sphäre der Politik kann man sich nicht weghören, denn sie sendet ihre schrillen Töne an uns alle. Somit sollen sich die Festivalbesucher, die laut Broschüre immer diverser werden, zumindest was die Altersstufen betrifft, ebenso mit ihren Klängen beschäftigen. Ein Zuhörer soll also mehr als ein bloßer Zuschauer in der Welt sein, sondern beim Zuhören zu einem Genossen seiner Zeit werden.
Als alternder Zeitgenosse erlaube ich mir an dieser Stelle ein Wortspiel: Genosse unserer Zeit, ja, aber heißt das, dass wir damit auch unsere Zeit genießen? Zumal, wenn keines ihrer Werke ohne Botschaft bleibt?
Der Raum für Poesie, diese sanfte Überwältigung der Seele, die ein Werk auszulösen vermag, das nicht plakativ daherkommt, wird immer enger. Kunst ist die Verkörperung des Übersinnlichen in unserer Gesellschaft, ganz unabhängig davon, welchen praktischen Wert wir den Übersinnen zumessen. Bei allem Mittun an dem, was man landläufig Normalität nennt – oder auch Politik -, hilft sie, den Sinn für das Übersinnliche zu bewahren. „Im Übersinnlichen liegt der Vereinigungspunkt aller unserer Vermögen“, sagte einst der Vernunftmensch Immanuel Kant. Ob die Rückkehr der Tagespolitik in die Kunst und den Kunstbetrieb unsere suchenden Seelen wirklich streichelt, wenn die Linien des Übersinnlichen ihren Vereinigungspunkt im Politischen finden?
Es gibt beim Festival Musica natürlich Konzerte, die es einzig und allein auf unser Klangempfinden absehen werden. Gestandene Komponisten von Schönberg bis Stockhausen werden erklingen, aber auch ganz aktuelle Versuche, Klanglichkeit neu auszuloten.
Gespannt dürfen wir jedenfalls sein, wie es sich im Konzertsaal, der der Ort ist, an dem sich der Vereinigungspunkt während der Aktivierung des Übersinnlichen befindet, anhören wird. Und mal abwarten, was die Aufführungen mit dem Staat, der Zeit und der Welt anstellen werden. Da es dabei ja auch immer um deren Einfluss auf unsere Köpfe geht, werden wir sehen, was es darin schließlich anrichtet.
Wie gut, dass uns Musica auch damit nicht allein lässt. In einem Konzert wird nämlich genau diesem Phänomen wissenschaftlich auf den Grund gegangen: Komponist Benjamin Dupé und Cellist und Neurowissenschaftler Daniele Schön wandelt das Auditorium in ein Laboratorium. „Die Vorhersage der Oszillation“: Welche Töne erzeugen die Bilder in unserm Kopf? Wie wirken sich Klänge wiederum auf die Gehirnströme aus? Und schließlich wird’s ernst: Wo findet sich der RESET-Knopf im Kopf, der von vorab eingestellten Wahrnehmungen befreit? Denn erst dann nämlich soll man im wahrsten aller Übersinne kreativ sein können, auf dass sich schließlich eine bessere Welt wenigstens schon einmal im Konzertsaal vorhören ließe.
Vielleicht würde es der Welt aber auch schon genügen, einfach wesentlich weniger Krach auf ihr zu veranstalten und nicht soviel Lärm um Nichts zu machen. Da das aber doch unmöglich erscheint, gibt es Musik – und wenn sie vielleicht doch noch keinen Staat macht, so kann sie immerhin als tönender Seismograph ihrer Zeit dienen. Wer also wissen, wie es um uns bestellt, der höre…
Festival MUSICA
Konzerte, Veranstaltungen und Events der zeitgenössischen Musik
vom 20. September bis 6. Oktober an unterschiedlichen Spielstätten in Straßburg und Metz
Eröffnungskonzert:
„De Staat“: Modernes Musical mit Chor und visueller Installation von Louis Andriessen aus dem Jahr 1976
„On the slow weather of dreams“ – Gesangsnocturno von Oscar Bettison von 2024
Asko-Schönberg und Ensemble Klang
FR 20. September, 20 Uhr
Theater Maillon, Straßburg-Wacken
Das komplette Programm von MUSICA 2024 findet sich unter diesem LINK !
Zudem begleiten in Straßburg drei Ausstellungen das Musikprogramm:
- Collagen und vieles mehr von Francois Sarhan, im alten Postamt schräg links gegenüber der Hauptfassade des Münsters, DI-SA 13-18 Uhr
- „We insist!“, Installationen von Studenten der Kunsthochschule HEAR, Chaufferie, FR-SO 14-18 Uhr, Vernissage DO 19. September, 18.30 Uhr
- „Mode d’emploi“, Protocol Arts von 1960 bis heute, Museum für Moderne Kunst MAMCS, Vernissage DO 26. September 18.30 Uhr
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