Der Wunsch nach Normalität

Die Welt läuft aus dem Ruder und die Menschen wünschen sich eine Normalität, die ihnen politisch nur noch eine Partei bietet. Mit ihrer Durchschnittlichkeit sprechen die Grünen immer mehr Wähler an.

Die Grünen haben Rückenwind, da sie plötzlich die Alternative zur Alternative geworden sind. Foto: Molgreen / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – Eine Woche vor der Hessenwahl bestätigen die aktuellen Umfragen den Trend, den man nicht nur in Deutschland, sondern fast überall in Europa beobachtet. Die früheren „Volksparteien“ rutschen immer weiter ins bald Bodenlose und die Wählerinnen und Wähler suchen eine neue politische Heimat. Doch als „Heimat“, und da unterscheidet sich Deutschland vom Europatrend, betrachten die Wähler inzwischen immer mehr die Grünen. Analyse eines unerwarteten Erfolgs.

Zunächst die Zahlen. Auf die Frage „Wenn nächsten Sonntag Bundestagswahlen wären, wem würden Sie Ihre Stimme geben?“ antworten die repräsentativ Befragten wie folgt: CDU/CSU 27%, Grüne 21%, AfD 15%, SPD 14%, Die Linke 9% und FDP 9%. Diese Zahlen bestätigen die Umbruchstimmung in der Bundespolitik – eine „Große Koalition“ wäre mathematisch gar nicht mehr möglich und eine solide Regierungsbildung wäre ohne die Grünen gar nicht mehr machbar.

Doch woran liegt dieser unerwartete Erfolg der Grünen? Immerhin gibt es diese Partei schon seit Jahrzehnten – haben die Bundesbürger etwa im Jahr 2018 entdeckt, dass es tatsächlich möglich ist, die Grünen zu wählen? Das hätte man doch auch schon vorher haben können! Das stimmt zwar, doch vorher gab es gar nicht so viele Gründe, für die ehemalige Öko- und Müsli-Partei zu stimmen, die in den Jahren nach ihrer Gründung noch im „linken“ Parteienspektrum verortet wurde. Doch die Situation hat sich grundlegend verändert. Angesichts der Implosion der früheren Volksparteien und dem Erfolg der Rechtsextremen sind die Grünen plötzlich die eigentliche Alternative für Deutschland geworden.

Kein Vertrauen mehr in die “Volksparteien” – Die Menschen in der Bundesrepublik trauen es den GroKo-Parteien CDU/CSU und SPD einfach nicht mehr zu, die Herausforderungen einer Welt in und nach der Technologischen Revolution zu meistern. Im Gegenteil, viele Wählerinnen und Wähler machen die GroKo-Parteien für das aktuelle Chaos verantwortlich. Dabei haben diese Parteien das Problem viel zu starrer Parteiapparate, die sich in erster Linie mit sich selbst und den Karrieren ihres Spitzenpersonals als mit den Problemen der Menschen beschäftigen. Da sich diese ehemaligen „Volksparteien“ als unfähig erweisen, sich auf eine geänderte Welt einzustellen und schlanker, schneller und moderner zu werden, verlieren sie nun scharenweise die Wählerschaft. Und das ist genau das, was auch in anderen europäischen Ländern passiert, beispielsweise in Frankreich, wo die Konservativen („Les Républicains“) und die sozialistische PS das gleiche Schicksal erfahren wie die CDU/CSU und die SPD in Deutschland.

Die Rechtsextremen, als die AfD, sorgen mit ihren Schmuddelparolen dafür, dass sie „pfui“ sind und bleiben. Man muss schon einen heftigen Hass auf Ausländer oder eine starke Nostalgie der Jahre 33-45 haben, um diese Partei der bösen, alten Männer und der schmallippigen Frauen mit Dutt zu wählen. Für solche Parteien gibt es zwar, wie auch in anderen Ländern, einen Bodensatz der Gesellschaft, der sich von diesen westlichen Hasspredigern angesprochen fühlt, doch stellt dieser Bodensatz weder eine echte Gefährdung der Demokratie, noch eine Regierungsperspektive dar. Ebenso wie in anderen Ländern werden sich die Rechtsextremen im Bereich 10 bis 15 % der Ewiggestrigen einpendeln, ohne eine echte Perspektive, eine wirkliche Rolle in der Politik zu spielen.

Die FDP wird ihr Image der Unternehmerpartei ebenso wenig los wie Die Linke das Image der SED-PDS-Nachfolgepartei. Vorbei sind die Jahre, in denen das Adjektiv „liberal“ etwas mit Bürgerrechten und bürgerlichen Freiheiten zu tun hatte – heute steht „liberal“ nur noch für den brutalen Wild-West-Kapitalismus, der einigen wenigen auf Kosten der vielen anderen zugutekommt. Und damit ist die FDP eigentlich nur noch für diese einigen wenigen und diejenigen wählbar, die eines Tages selbst zu diesen einigen wenigen zählen wollen. Die Linke, die nur noch in den neuen Bundesländern eine Rolle spielt, klingt selbst 2018 noch nach „niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen“. Wenig hilfreich ist dabei die Person von Sahra Wagenknecht, bei der man sich immer häufiger fragt, ob diese für mehr soziale Gerechtigkeit oder eine Art Ausländerhass von links steht. Perspektive: Wenn die alten SED-Anhänger in den neuen Bundesländern aussterben, stirbt Die Linke mit ihnen. Was grundsätzlich schade ist, denn eine starke Demokratie braucht eine starke Opposition, die aber kaum FDP oder Die Linke heißen wird.

Bleiben – die Grünen. – Nicht so sehr, weil die Grünen eine so tolle Partei wären, sondern weil sie so wunderbar durchschnittlich sind. Die Partei ist über jeden Vorwurf erhaben, es könne sich um eine extremistische Partei handeln. Man erkennt bei den Grünen, deren Wählerschaft den weiten Weg von der Wohngemeinschaft über die Mittelhanglage hinein in die politische Mitte gegangen ist, immerhin eine politische Linie, die keine Angst macht. Die Grünen sind für Europa, sie sind für Umweltschutz, sie streifen ab und zu soziale Themen, sie stehen fest auf dem Boden des Grundgesetzes. Oder anders gesagt: Sie sind momentan die am wenigsten abstoßende politische Formation.

Und die Grünen sind vor allem eines – das letzte demokratische Bollwerk gegen den dumpfen Neonationalismus. Sie nutzen konsequent die unglaubliche intellektuelle Schwäche der Regierungsparteien, die derart mit ihrer Nabenschau beschäftigt sind, dass sie gar nicht merken, dass das Schiff, das sie eigentlich steuern sollen, geradewegs in die Klippen des Extremismus hineinsteuert. Da die Grünen schon eine ganze Weile in der angenehmen Lage sind, keine Regierungsverantwortung zu tragen, macht die Wählerschaft auch nicht für die aktuellen Entwicklungen verantwortlich.

Braver Durchschnitt als Erfolgskonzept - Es sind nicht etwa die Konzepte der Grünen, die heute die Wählerinnen und Wähler überzeugen, ebenso wenig wie das Spitzenpersonal, das kaum jemand kennt. Es sind die brave Durchschnittlichkeit, das Fehlen von Skandalen, der Verzicht auf populistische Parolen, die aus den Grünen die Alternative zur Alternative gemacht haben.

Für die weitere Entwicklung in Berlin ist der Aufstieg der Grünen keine schlechte Sache. Grün wird eine Art Regulativ für die CDU/CSU werden, wobei die nächsten Koalitionen in Deutschland fast systematisch nur noch mit einem dritten Partner machbar sein werden. Denkbar sind künftig in den alten Bundesländern Koalitionen wie CDU/CSU, Grüne und SPD oder CDU/CSU, Grüne und FDP; in den neuen Bundesländern werden wir so seltsame Koalitionen wie CDU/CSU, Grüne und Die Linke oder sogar Grüne, SPD und Die Linke erleben.

Für die Demokratie in Deutschland ist das gar keine schlechte Nachricht. Es wird künftig mehr über Sachthemen diskutiert werden müssen, man wird gemeinsam mit allen demokratischen Kräften an tragfähigen Kompromissen und Lösungen arbeiten müssen. Und dass dabei eine Situation entsteht, in der sich Neonationalisten, Ausländerhasser und dem Nazigedankengut nahestehende Schwachköpfe weiter isoliert werden sehen, das ist der beste Beweis dafür, dass Demokratie funktionieren kann. Der Erfolg der Grünen kommt also genau zum richtigen Zeitpunkt. Nach der Hessenwahl werden wir mehr wissen.

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