Der Zufall bringt’s in Ordnung

Die hohe Kunst der Google-Suche in den Untiefen des Internets zeigt eine Ausstellung in der Straßburger Foto-Galerie La Chambre – dass die Rettung aber doch nur wieder aus der Tiefe des Weltraums kommen soll, eine andere im Syndicat Potentiel.

Bei der Vernissage in "La Chambre" entdeckten die Besucher Außergewöhnliches... Foto: Gabrielle Awad

(Von Michael Magercord) – Taxinomie ist die Wissenschaft der Klassifizierung der Welt. Landläufig nennt man das auch Sortieren, und beim Mengenlehrenunterricht macht man das am besten nach Formen: Rechteck, Dreieck, Kreis. Und in der Kunst? Scheinbar auch.

Der Fotokünstler Éric Tabuchi hat sich im Internet auf die Google-Suche gemacht und wurde fündig: Fotos von Gebäuden aus aller Welt in Form von Rechtecken, Dreiecken und Kreisen. Rechtecke, die als Wolkenkratzer in die Höhe streben, Dreiecke aus Stangengerüsten und Pyramiden, und ulkige Bauten aus Kreisen und Bällen hat er zu einer Bildershow sortiert. Dazu noch Rohbauten aller Art in skurrilen Formen, die meist in China oder den Wüsten der Golfstaaten entstehen.

Die normierten Formen degradieren die Landschaften, worin sie platziert werden, zu bloßen Standorten. Gelände oder ganze Städte, wo Gebäude stehen, deren Formgebung sich mutwillig oder fahrlässig nicht mehr von den örtlichen Gegebenheiten oder Traditionen leiten lässt, werden zu Allerweltsorten und Zufallslandschaften, die überall sein könnten. In ihnen ist das bedeutendste Prinzip der Moderne zum baulichen Ausdruck geworden: der Zufall.

Der Zufall liegt allem Modernen zugrunde: Zufall ist das Aufbegehren gegen die Zumutung, die Vorkommnisse, die uns erfassen, nie wirklich in ihrer Gänze erklären zu können. Ein moderner Mensch belässt einfach eine Leerstelle dort, wo seine Erklärung versagt: ist halt Zufall. Dieser Zufall ist die Grundbedingung der modernen Suche nach Objektivität, denn alles Subjektive ist Absicht, alles Objektive aber Zufall. André Breton, der große französische Surrealist, drückte es so aus: Nur zufällig können wir Menschen auch mal objektiv sein.

Die Fotokunst aufs Modernste betrieben ist dann wohl die Bilderauswahl per Google-Search. Objektivität durch die Minimierung der Subjektivität des Subjekts, das der Fotograf noch wäre – und was Éric Tabuchi lange war und auch noch ist. Doch nun ist er ein Sucher im digitalen Weltarchiv, irgendwo zwischen Algorithmus und Suchbegriff. Wie viel Zufall, wie viel Absicht steckt in dieser Kunst? „Soviel wie immer, wenn ich durch die Landschaft fahre und ab und an auf den Auslöser drücke“, sagt Éric Tabuchi, der wegen einer Krankheit zwei Jahre ans Bett gefesselt war – und an die Virtualität des Bildschirms, die ihm erlaubte, weiterhin in dieser Welt unterwegs sein zu können.

Kapitalismus aus einer anderen Welt – Eine ganz anderen Blick auf die Welt wagt eine Ausstellung in der benachbarten Galerie der Künstleragentur „Syndicat Potentiel“: den Blick der Außerirdischen. Denn muss man nicht in Anbetracht der Klimasorgen doch endlich für eine Harmonie sorgen zwischen dem Projekt Mensch und der Natur? So jedenfalls fragt sich in der Ankündigung zur Ausstellung die Künstlergruppe „La planete laboratoire“ und sagt: „Ja!“ Doch dazu bedarf es des Blicks von Außen auf den Laborplaneten mit den Menschen und der Natur, am besten aus den Tiefen des Weltalls, mit dem Blick der Aliens, die dann einen neue Ordnung bringen, den „capitalisme alien“.

Aber ist nicht das, was sich derzeit auf der Erde abspielt, im Grunde schon „alien“ genug? Da hat sich nämlich eine Wirtschaftsordnung entwickelt, die völlig losgelöst von den natürlichen Bedingungen ihres kleinen Planeten existiert und sich „Wachstum“ nennt. Selbst die, die auf Veränderung dieser Ordnung pochen, hängen daran wie an der Nadel. Sie wünschen sich das Ende der Austeritätspolitik und erhoffen sich davon doch nichts anderes als Wachstum, was gleichbedeutend ist mit Produktionszuwachs und steigendem Rohstoffverbrauch. Mit den naturgegebenen Bedingungen hat das auch nichts zu tun, dort nämlich gibt Gediehen und Verderben nur im Doppelpack. Keine schöne Aussicht, jedenfalls nicht für diejenigen die ins Verderben geschickt werden.

Mut für die Zukunft aus dem Internet – Rettung kommt also vielleicht nur noch aus der virtuellen Welt? Dort nämlich kann das Wachstum unendlich sein und niemanden muss das groß kratzen, weil es ja bloß virtuell ist und jedes Wachstum im Netz im Grunde ein natürliches Nullwachstum bleibt. Und nicht nur das, denn beim Ordnen der Rechtecke, Dreiecke und Kreise im Internetz hat der Googlesucher Éric Tabuchi seine derzeitige Lebenspartnerin gefunden, die ebenfalls auf der Suche war nach Rechtecken, Dreiecken und Kreisen: Die gute alte Liebe, gefunden zufällig über Google Search. Das und nur das kann Mut machen für die Zukunft der Moderne. Auch ganz ohne Aliens.

„Carte mémoire“ und „Taximonie“, Éric Tabuchi
La Chambre und Salle 27, vom 06.11. – 20.12.2015
www.la-chambre.org

„Capitalisme alien“, La planete laboratoire
Syndicat Potentiel, vom 13. – 21.11.2015
Vernissage am Freitag den 13ten um 18.00 Uhr
syndicatpotentiel.free.fr

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