Die alten Leiden des jungen Goethe – Gefühlskiste Rheinoper

„Die Leiden des jungen Werther“ von Goethe, der erste deutsche Bestseller, wurde gut hundertzwanzig Jahre nach seiner Entstehung von dem Franzosen Jules Massenet zu einer beliebten Oper vertont – dieses deutsch-französische Zusammenwirken findet nach nochmals gut hundertzwanzig Jahren seine Fortsetzung in der Rheinoper.

Der Bestseller der Deutschen Romantik hat einen starken Bezug zum Elsass... Foto: Opéra National du Rhin / Klara Beck

(Von Michael Magercord) – Charlotte oder Lotte, die junge Liebschaft des jungen Werther, ist Elsässerin – also eine gefühlte jedenfalls. Denn gelitten und leiden lassen an und mit der Liebe hat sie ihr Schöpfer, Johann Wolfgang von Goethe, zuerst bei uns, hier am Oberrhein.

Damals war der spätere Dichterfürst noch Jurastudent in Straßburg. Und schon damals war das Studentenleben turbulent: Da verliebt sich der Noch-Nicht-Geheimrat erst in die jüngere Tochter seines Tanzlehrers, dessen ältere Tochter wiederum in ihn, er aber nicht in sie – Gefühlschaos pur. Was tun? Fliehen! Wohin? Eine Landpartie mit Freunden bringt ihn nach Sessenheim zum Dorfpastor Brion, er verliebt sich in dessen Tochter Friederike – und sie in ihn. Das pure Glück? Nein! Denn ihn, oh je, ergreift stattdessen Panik. Heute würde man sagen, ihn packt die Bindungsangst. Was bleibt? Flucht. Was geschah? Die so lebensfrohe junge Frau ward für immerdar gezeichnet: sie blieb zeit ihres Lebens ledig und starb im Hause ihrer Schwester im badischen Meißenheim bei Lahr.

Nicht wenige im Elsass, vor allem Frauen, haben das dem Herrn Goethe noch immer nicht verziehen: ein Landeskind ins Unglück gestürzt! Und dann schreibt ausgerechnet dieser verantwortungslose Schmeichler wenig später auch noch den „Werther“, also die Leiden eines jungen unglücklich verliebten Mannes. Der hatte sich verliebt in ein Mädchen, das schon vergeben war und ihn unter Herzschmerzen letztlich abwies. Was tut er? Er bringt sich um. Heute würde man sagen: So’n Weichei, hatte wohl keine Likes auf dem Facebook-Konto…

Doch damals wog das Verliebtsein schwer, schwerer als die Liebe wohl. Verliebtheit? Was das sein soll? Wie soll man das erklären in diesen aufgeklärten Zeiten? Irgendwas mit Romantik halt… Egal, jedenfalls löste die Lektüre dieses Romans eine Selbstmordwelle unter unglücklich verliebten Jünglingen aus. Und unter den Mädchen grassierte die „Lesesucht“. Krankhaft sei es, wenn man zum bloßen Vergnügen lese statt zur moralischen und religiösen Erbauung.

1795 schrieb der sittenstrenge Schriftsteller Johann Georg Heinzmann: „So lange die Welt steht, sind keine Erscheinungen so merkwürdig gewesen als in Deutschland die Romanleserei und in Frankreich die Revolution.“ Romane, stellte der besorgte Mann fest, hätten ebenso viele Menschen und Familien im Geheimen unglücklich gemacht, wie die „schreckbare“ Französische Revolution öffentlich täte.

Später, zu Zeiten als dem Widerspruch zwischen der zunehmenden Lockerung der Sittenstrenge und strenger Bürgermoral mit Psychologie beizukommen versucht wurde, sprach von dem Werther-Effekt. Damit wurde die Annahme bezeichnet, man würde durch das öffentliche Aufführen von Suiziden Selbstmörder zu ihrer Tat erst motivieren. Verboten müsse man das, so wie es in Leipzig bis 1825 verboten war, sich zu kleiden wie Goethe den Werther beschrieben hatte. Nein, sagen die Kunstfreien und verweisen auf den Papageno-Effekt: die Darstellung der Selbstmordabsichten des Vogelfängers in Mozarts Zauberflöte halte potenzielle Nachahmer ab.

Ob die Musik es ist, die diesen lebensbejahenden Gefühlsschub auslöst? Goethes Werther wurde 1892 von dem französischen Komponisten Jules Massenet vertont und ab Freitag kann man ihn, den jungen Goethe, wieder einmal im Elsass sehen, nämlich auf der Bühne der Rheinoper. Nicht ihn, Goethe selbst, aber die Projektion seiner jungen Jahre, nun aber mit Musik. Überall, wo dieses Werk aufgeführt wurde, steht das Leiden des jungen Mannes im Mittelpunkt. Doch für uns im Elsass liegen die Dinge ja anders. Wir halten ihn, den jungen Goethe und damit den Werther auf der Bühne, für jemanden, dem es ganz recht geschieht, selber sitzen gelassen zu werden.

Die Berliner Regisseurin Tatjana Gürbaca eilt der Ruf voraus, mit ihren Auffassungen der Werke oft den klassischen Deutungsmustern entgegenzustehen. Doch nicht aus lauter Lust der Provokation. Sie finde, sagt sie, ihren Zugang über die Beschäftigung mit der Musik. Und so hat sie in dieser zuvor bereits in Zürich aufgeführten Inszenierung die junge Frau, Werthers Charlotte oder Goethes Lotte, die tragende Rolle zugewiesen: sie trifft die Entscheidungen, und sei es nur die, keine zu treffen. In Gürbacas Variante ist die Frau nicht mehr nur bloße Projektion einer zum Irrsinn gesteigerten Verliebtheit, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut – und mit eigenen Gefühlen. Werther, wer war noch Werther? Was anderswo vielleicht als Provokation gelten wird, ist bei uns im Elsass nur Konsequenz aus der Affäre Goethes mit Friederike aus Sessenheim.

In dieser Inszenierung ist das Drama um die Beiden und ihre Familienbande in einem tiefen Bühnenbild aus Holzverschalungen angesiedelt, oder wie ein – begeisterter! – schweizer Kritiker in einem typisch schweizerischen Anflug von Poesie formulierte: ein “Funiermonster als große Gefühlskiste”. Und die Musik, gespielt vom Symphonieorchester Mulhouse unter der Leitung der Dirigentin Ariane Matiakh, wird vielleicht bei uns nun ausgerechnet dafür sorgen, dass unsere Herzen jetzt für den leidenen Werther erweichen – denn das wären wir der Leiden der Friederike schuldig.

„Werther“ – Oper von Jules Massenet

Lyrisches Drama in vier Akten und fünf Bildern

Musikalische Leitung: Ariane Matiakh
Regie: Tatjana Gürbaca

Straßburg – Opéra
FR 9. Februar, 20 Uhr
SO 11. Februar, 15 Uhr
DI 13. Februar, 20 Uhr
DO 15. Februar, 20 Uhr
SA 17. Februar, 20 Uhr

Mulhouse – La Filature
FR 2. März, 20 Uhr
SO 4. März, 15 Uhr

“O Mensch” – 23 Lieder und 4 Zwischenspiele von Pascal Dusapin
Vertonte Gedichte von Friedrich Nietzsche
Rezital mit Georg Nigl (Bariton) und Georg Vichard (Klavier)
14. Februar, 20 Uhr, Oper Straßburg

Informationen und Tickets: http://www.operanationaldurhin.eu

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