Die Gewalt wird zum ständigen Begleiter

In Frankreich brodelt es gewaltig. Gewalttaten, Übergriffe, Mordanschläge und ein überforderter Staat. Aber die Dinge hängen alle miteinander zusammen. Eine Bestandsaufnahme.

Bereits vor der Pandemie glich Paris seit 2018 jedes Wochenende einem Schlachtfeld. Foto: Eurojournalist(e) / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – Heute gibt es nicht ein Frankreich, sondern ganz viele Frankreichs. Es gibt das urbane Frankreich, mit Städten und Metropolen, wo Menschen mit guten Jobs und zwei Autos im Haushalt leben – an diesen ist die aktuelle Krise zumeist noch relativ spurlos vorbeigegangen. Dann gibt es das ländliche Frankreich, wo man in vielen Gegenden das Gefühl hat, dass nicht nur die Welt noch in Ordnung sei, sondern es sei die Zeit stehengeblieben. Dabei hat auch das ländliche Frankreich mit vielen Problemen zu kämpfen. Und dann gibt es das Frankreich der Vorstädte, der „Cités“, die sich mehr und mehr zu rechtsfreien Räumen verwandeln und in denen der Staat schon lange nichts mehr zu melden hat. Hier ist Gewalt an der Tagesordnung und wenn dieses Pulverfass explodiert, dann reicht es nicht mehr, ein paar Einheiten der Elite-Polizei CRS zu schicken.

Man kann die vielen, vielen gewalttätigen Zwischenfälle in Frankreich gar nicht mehr aufzählen. Ob es der enthauptete Lehrer Samuel Paty ist, die vom Balkon gestürzte betagte Jüdin oder die erstochene Polizistin in Rambouillet – dies alles sind Schreckenstaten auf einer nicht enden wollenden Liste. Im öffentlichen Diskurs sind diese Dinge zwar fast in den Hintergrund gerückt, da auch in Frankreich das Thema Covid alles dominiert, doch muss man befürchten, dass dieses Pulverfass explodiert, sobald die Franzosen ein Minimum an Freiheiten wiedererlangen.

Mehr noch als andere Länder bräuchte Frankreich so etwas wie einen Neustart. Es gibt kaum ein politisches oder gesellschaftliches Thema, das konfliktfrei und zielführend diskutiert werden kann. Die sozialen und leider immer wieder auch religiösen Spannungen sind schärfer als in anderen Ländern und man hat schon fast vergessen, dass sich das Land seit November 2018 mit den gewalttätigen Gelbwesten-Demonstrationen bereits in einer Art Ausnahmezustand befand, der lediglich durch das Auftauchen der Pandemie unterbrochen wurde. Doch unterbrochen bedeutet nicht beendet und man muss damit rechnen, dass diese Proteste nach Ende der sanitären Vorschriften sofort wieder durchstarten, wobei dieses Mal die Gelbwesten Zulauf von all denjenigen erhalten werden, die durch die Pandemie geschädigt wurden. Und das dürften sehr, sehr viele Menschen sein.

Am Sonntag hat Frankreich gegen den Antisemitismus demonstriert, ein Phänomen, das seit dem Mittelalter nicht aus unseren Gesellschaften verschwindet. Es ist gut und wichtig, dass sich die Franzosen noch zu solchen Themen zusammenfinden und einen letzten Rest gesellschaftlicher Kohäsion aufrecht erhalten – zumindest momentan.

Doch Frankreich verfügt über einen Königsweg, den sich anderen Länder wünschen würden. Frankreich könnte die völlig verkrustete und anachronistische V. Republik für beendet erklären (faktisch hängt diese ohnehin am Tropf) und sich für die VI. Republik eine moderne, demokratischere und sozialere Verfassung geben. Doch stehen die Chancen schlecht, dass dies passiert, denn diejenigen, die über die Macht verfügen, einen solchen Prozess einzuleiten, sind auch diejenigen, die am meisten von diesem in sich auf Korruption und Machtmissbrauch ausgelegten System profitieren.

Eine „sanfte Revolution“ wie 1989 in der DDR kann es in Frankreich nicht geben, das entspricht nicht der französischen Mentalität und wer die Auseinandersetzungen in Paris zwischen Polizeikräften und Gelbwesten / Black Blocks verfolgt hat, der erkennt, dass die Qualität der Auseinandersetzungen so heftig ist, dass die Vopos bei den Demonstrationen in Leipzig oder Ostberlin im Vergleich eher wie Thomaner-Chorknaben aussahen. Der zentralistische Machtapparat in Paris wird alles, aber wirklich alles dafür tun, seine Macht zu erhalten.

Doch wer die Zeichen der Zeit nicht erkennt, der bezahlt das zumeist ziemlich teuer. Diese Erfahrung hat das Land bereits 1789 gemacht, als die Monarchie gewaltsam beendet wurde. Doch auch den Revolutionären, die ihre politischen Erfolge in eine Art Blutrausch verwandelten, ging es nicht viel besser, als auch sie dem Volk nicht die versprochene Glückseligkeit bescherten.

Noch überdeckt die Pandemie das Knistern der Lunte am sozialen und gesellschaftlichen Pulverfass. Noch. Aber wer genau hinschaut, der erkennt, dass sich die Glut schon gefährlich nahe an das Pulverfass gefressen hat.

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