Die große Kleinbaumeisterin – Sasha Waltz’ Kosmonauten landen im Theater Maillon

Ab heute Abend entfaltet sich im Theater Maillon in Straßburg für vier Tage das Universum einer Großbausiedlung – wohlgemerkt: „im“ Theater Maillon, nicht drumherum. Sasha Waltz’ legendäres Tanzstück „Allee der Kosmonauten“ führt ins Innerste des Äußersten.

Vier Wänder, eine für jeden - eine Allee der Kosmonauten im Théâtre Maillon in Strasbourg. Foto: (c) Eva Radünzel

(Michael Magercord) – Eine „Allee der Kosmonauten“ gibt es überall. Vielleicht sind sie anderswo nicht so lang wie in Berlin (5,4 Kilometer), vielleicht sind die umstehenden Plattenbauten auch nicht so hoch (11 Stockwerke) und zahlreich wie in Marzahn, und sicher wurden sie auch nicht von echten Kosmonauten eingeweiht (Sigmund Jähn, der erste Deutsche im Weltall). Aber Großsiedlungen mit ihren schnurgeraden Haupterschließungsstraßen stehen in allen Vorstädten der Metropolen und jenen, die sich nicht zuletzt dank ihrer Großbausiedlungen dafür halten.

Anfangs lag dieser kollektiven Massenwohnform eine hehre Absicht zugrunde. Komfortables Massenwohnen mit viel Licht, Sozialismus mit fließend Wasser. Aber Architektur und Stadtplanung stellen eben nun einmal immer auch die Machtfrage. Sie setzen ein festes Menschenbild voraus, erklären bestimmte Bedürfnisse für essentiell. Und wie oft, wenn die Herren und Bauherren sich an einem festgezurrten Menschenbild orientieren, entspricht das Ergebnis so gar nicht den einstigen Vorstellungen.

Der kleine Großbaumeister – so hieß in der DDR ein Baukasten für Kinder im Grundschulalter. Steckelemente aus Plastik ließen sich zu Wohngebäuden türmen. Ob auch die Eltern der Allee der Kosmonauten ihren Kindern das Spiel zum Geburtstag geschenkt hatten? Oder reichte ihnen und den Kleinen ihr Alltag im Plattenbau, dieser übrigens französischen Erfindung der hohen Kunst der Schnellbauweise?

„Arbeiterschließfächer“ war ein beliebtes Bonmot in der DDR für ihre Plattenbauwohnungen. Aber trotzdem waren die Großbausiedlungen nicht von vornherein eine Katastrophe, glaubt man den Erzählungen der Bewohner. Zumindest bis zur Wende konnte man es sogar als Glück empfinden, in einer der vielen Alleen der Kosmonauten landauf, landab gelandet zu sein. Doch mit dem Andocken an die westliche Welt wurde nicht nur der früher oftmals selbstgenutzte Raum zwischen den Blöcken von Landschaftsarchitekten zu genormten Freiflächen mit Parkbuchten. In die Wohnungen zog das Gefühl mit ein, an einem Orte des Abstiegs zu wohnen und ein Leben ohne wahres Heim zu führen – oder anders gesagt: ein Dasein ohne Rückzugsraum.

Einen ganz besonderen Blick auf eine Großsiedlung im Kleinen bietet uns nun die Theaterbühne, die ja im Grunde auch nichts anderes ist, als ein Lebenskäfig – wenn auch nur auf Zeit. Im Falle des Tanztheater-Klassikers „Allee der Kosmonauten“ von Sasha Waltz kann man für eine runde Stunde dem Treiben einer Drei-Generationen-Familie bei ihren Verrenkungen zusehen, das beengte Dasein um ein Sofa herum zu choreografieren.

1993, während der Umbruchphase zwischen den beiden Systemen, hatte die damals 30-jährige Choreografin zusammen mit dem amerikanischen Videokünstler Elliot Caplan in einem der Marzahner Wohnblöcke Gespräche mit Familien geführt und das Gehörte mit ihrem Mitstreiter Jochen Sanding in Tanzfiguren übersetzt. Dabei entstanden ist ein Mit- und Gegeneinander der Tänzer, mit dem sie unfreiwillig ulkig bis zur Absurdität aufeinander reagieren. Die Bühne wird zum Ort prekärer Nähe, der keine Fluchttür hat. Doch nie lässt sich letztlich sagen, ob es so, wie die Figuren schließlich aufeinander reagieren, kommen muss oder es vielleicht doch eine andere Art des Umgangs geben könnte. Bei aller Aktion verbreiten diese ihrem Umraum hilflos ausgesetzten Menschen eine tiefe Melancholie – womit sie schließlich bestens in der neuen Zeit angekommen sind.

Das Stück stammt aus dem Jahr 1996, als nach der Euphorie der Wende und Vereinigung der zumindest offiziell lange uneingestandene Bruch zwischen West und Ost wieder deutlich wurde. Und heute, nochmals fünfundzwanzig Jahre später, vergleicht man ja gerne das Befinden der Ostdeutschen mit jenem von Migranten: das Gefühl nämlich, keine eigene Geschichte haben zu dürfen an jenem Ort, an dem man lebt. Der Brutalurbanismus der Großbausiedlung kann als Sinnbild dieses Gefühls gelten, zeitigt er doch seine Auswirkungen bis ins Innenleben seiner Nullarchitektur und dem Innersten ihrer Bewohner. Die Allee der Kosmonauten ist aber eben überall, wo es kein Entkommen aus der Machtfrage gibt, die die Außenwelt der Moderne uns unentwegt stellt. So jedenfalls mag die Botschaft dieses zeitlosen Werks auch ein Vierteljahrhundert später noch lauten.

Uraufgeführt wurde das Stück übrigens damals in den Sophiensälen im Bezirk Mitte, also ausgerechnet in einer der traditionsreichsten Spielstätten von Berlin im einstigen Haus des Handwerkervereins aus der Gründerzeit. In Straßburg wird es ab heute für vier Tage im Theater Maillon gezeigt werden, und fast möchte man sagen, dieser rabenschwarze 29,8-Millionen-Euro-Kasten sei der idealere Ort dafür, das Innenleben der Moderne preiszugeben.

Die Allee der Kosmonauten
Tanztheater für 6 Tänzern von Sasha Waltz aus dem Jahr 1996

MI 14.. Oktober, 20.30 Uhr
DO 15. Oktober, 20.30 Uhr
FR 16. Oktober, 20.30 Uhr
SA 17. Oktober, 20.30 Uhr
im Théâtre Maillon, Straßburg

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Normaltarif 12 Euro, ermäßigt 6 Euro

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