Die großen Grenzöffner
Seit gestern morgen 00:00 Uhr ist die Grenze zwischen Frankreich und Deutschland wieder offen. Erstaunlich, wer sich gestern alles dafür hat feiern lassen oder selbst gefeiert hat...
(KL) – Der Moment hätte gerne etwas „historischer“ ausfallen können. 20 Minuten vor Mitternacht räumten drei deutsche Polizist*innen Warnhütchen und Schilder weg und das war es dann. Die drei Monate lang geschlossene Grenze zwischen Deutschland und Frankreich war wieder offen. Eine Handvoll Journalisten und Fotografen hielten den wenig spektakulären Moment fest und dann rollte der Verkehr wieder ungehindert in beide Richtungen. Die Linie D der Straßburger Tram auch. Seitdem klopfen sich die lokalen und regionalen Akteure gegenseitig und selbst auf die Schulter und tun so, als hätten sie selbst diese Grenze aufgestemmt.
Die große Vereinnahmung dieser Grenzöffnung ist mieseste politische Kommunikation. Bereits bei der Demonstration am Nachmittag auf der Plattform der Passerelle des Deux Rives tauchten die Helden und Heldinnen der Lokalpolitik auf und ließen sich für ihre „tolle Unterstützung“ feiern. Um der Wahrheit gerecht zu werden, war die Grüne Jeanne Barseghian die einzige Lokalpolitikerin, die diese Proteste und Forderung nach sofortiger Grenzöffnung seit Beginn dieser Demonstrationen durch ihre Anwesenheit unterstützt hatte – diejenigen, die sich vorgestern um das Mikrophon drängelten, waren lediglich gekommen, um sich selbst als „Grenzöffner“ zu präsentieren. Jämmerlich.
Der mitternächtliche „Stammtisch“ auf der gleichen Plattform war nicht weniger peinlich. Organisiert von der „rechten“ Liste bei der Stichwahl am 28. Juni 2020, sah man sofort, welche Wählerschaft die Rechten ansprechen – diejenigen Wähler*innen, die es sich leisten können, sich die Nacht vom Sonntag auf den Montag bei Bier und sinnentleerten Reden um die Ohren zu schlagen. Nachdem man diese Kandidaten drei Monate lang nicht zu diesem Thema gehört hatte, traten sie nun auch als die „großen Grenzöffner“ auf.
Gestern Nachmittag auf der Tram-Brücke war das Spektakel nicht weniger peinlich. Der Innenminister Baden-Württembergs Thomas Strobl und der Präsident der Region Grand Est Jean Rottner trafen sich bei mächtigem Medienauflauf, an dem auch die Bürgermeister Straßburgs und Kehls teilnahmen und präsentierten den üblichen Grußwortbrei. Alles ist gut, war die Botschaft, wir kehren jetzt wieder zum Begriff „rheinüberschreitend“ zurück, da wir „grenzüberschreitend“ nicht mehr brauchen. Ha ha, es gibt ja gar keine Grenze mehr. Was für ein Blödsinn! Drei Monate lang haben wir mitverfolgt, wie sich die politisch Verantwortlichen gegenseitig offene und nicht offene Briefe geschrieben haben, in denen sie fordern, die Grenze möge doch wieder geöffnet werden. Reaktion = null. Sagen wir es einmal hart: Die politisch Handelnden waren nicht in der Lage, dem Wunsch der Bevölkerung nachzukommen und diese Grenze zu öffnen. Die Briefe, die ihre Referenten in ihren Büros für sie geschrieben haben, hätten sie sich auch schenken können. Diese drei Monate waren die Bankrotterklärung der grenzübergreifenden Zusammenarbeit und entweder analysiert man jetzt, was schief gelaufen ist, oder aber man tut so, als sei gar nichts passiert. Dabei ist jede Menge passiert, auch wenn das nur einen Tag nach der Grenzöffnung viele bereits wieder vergessen haben.
Familien wurden getrennt, Franzosen wurden schikaniert, beleidigt, mit abstrusen Strafen belegt und generell als Menschen zweiter Klasse behandelt. Das interessiert natürlich heute schon niemanden mehr in Deutschland. Gleichzeitig keimten im Elsass alte Ressentiments wieder auf und auch hier nützt es wenig, einfach so zu tun als gäbe es diese Phänomene nicht. Wenn der Direktor des „Maison d’Alsace“ in Paris empfiehlt, eine Zeitlang nicht in Deutschland einzukaufen und dafür viel Beifall erhält, dann sollte man doch darüber nachdenken, was in diesen drei Monaten passiert ist.
Aber diese Analyse will keiner durchführen, es macht eben mehr Spaß, sich für Heldentaten zu feiern, die man gar nicht ausgeführt hat. Die gesamte politische Szene am Oberrhein hat während dieser Grenzschließung schlicht und ergreifend versagt. Sich nun dafür zu feiern, dass diese Grenze zum von der Europäischen Kommission angeregten Termin wieder geöffnet wurde, ist nicht das Verdienst derjenigen, die heute versuchen, diese Grenzöffnung für ihre eigenen politischen Ambitionen zu vereinnahmen. Und schade, dass sich die veranstaltenden Vereine und Organisationen so leicht vereinnahmen lassen. Wenn sich die Organisationen brav bei den Lokalpolitikern für deren „tolle Unterstützung“ bedanken, dann ist ihnen etwas Wichtiges durch die Lappen gegangen – nämlich dass diese Leute sie überhaupt nicht unterstützt und gerade drei Monate lang versagt haben. Insofern, ein kleiner Gruß an die „großen Grenzöffner“ – danke für gar nichts!
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